von Richard Guth
Der Weg von Segedin ins kleine Dorf am nordwestlichsten Zipfel des Banats, das kurz vor den Aprilwahlen im ganzen Land Bekanntheit erlangte, führt über Vororte der Theißmetropole, den rasch Wiesen und Felder folgen. „Willkommen in unserem Dorf” steht am Dorfeingang, überall werden die Straßen von zwei- beziehungsweise stellenweise dreisprachigen Schildern gesäumt. In der Mitte des Dorfes angekommen hat der Reisende das Gefühl, in einem deutschen Dorf angekommen zu sein: Die zweisprachigen Schilder sind nun weiterhin sichtbar, der Dorfplatz um den künstlich angelegten Teich mit Musikpavillon wird von renovierten Gebäuden umgeben, der Rasen ist frisch gemäht, man denkt auch an die Busreisenden, die man über eine elektronische Anzeigetafel über Abfahrtszeiten informiert. Das auffälligste Gebäude auf dem Hauptplatz ist aber eine Gastwirtschaft, die den Namen Kübecker Manufaktur trägt. Ich kehre ein, denn ich werde bereits erwartet: vom Bürgermeister des Ortes, dem ungarndeutschen Dr. jur. Robert Molnár. Beim guten Bier, wie es sich gehört, und der Spezialität des Hauses, der Gebäckauswahl, kann das Gespräch mit dem Ortsvorsteher beginnen.
SB: Herr Bürgermeister, laut Wikipedia sind Sie – mütterlicherseits – selbst Ungarndeutscher bzw. ungarndeutscher Herkunft. Erzählen Sie bitte ein wenig über Ihre Familiengeschichte!
RM: Meine Urgroßeltern mütterlicherseits kamen um 1850 zusammen mit den anderen angesiedelten Schwaben nach Kübeckhausen. Peter Feldhaus und Barbara Grossberger, an die sich meine 98 Jahre alte Großmutter väterlicherseits noch erinnern kann, sprachen kein Wort Ungarisch. 1946, infolge der Vergeltung nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden auch sie nach Deutschland vertrieben, unsere Familie wusste bzw. weiß es bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist, wo sie ruhen. Übrigens haben unsere Großeltern ihr Leid in sich geschlossen. Meine Mutter und ihre Geschwister haben wenig von der Familientragödie gehört und erfahren. Sohn der genannten Urgroßeltern war mein Großvater, der nach 1946 unter mysteriösen Umständen zu seiner Familie, zu seinen zehn Kindern zurückkehren konnte. So stehe ich jetzt hier, als Vertreter der vierten Generation meiner Familie.
SB: Wie sehen Sie die gegenwärtige Situation der deutschen Minderheit in Ungarn?
RM: Die ungarländische deutsche Minderheit ist eine von Schicksal getroffene Volksgruppe. Das kommunistische/sozialistische Regime war erfolgreich bestrebt, den Kern der Identität der hier gebliebenen Restdeutschen auszulöschen. Mein Großvater musste seinen Namen madjarisieren lassen. So wurde er aus Feldhaus Földházi. Zusammen mit den Kulaken wurden sie „volksfremd”, „nazistisch” und „Volksbündler” bezeichnet, obwohl sie nichts damit zu tun hatten. Vor etlichen Jahren habe ich in Deutschland dort lebende Kübeckhausener aufgesucht. Viele von ihnen sind bereits tot. Ich habe mich mit einer älteren Dame über die alten Zeiten unterhalten. Es hat mich erschüttert, was sie erzählt hat: „Herr Bürgermeister, wir mussten deshalb Kübeckhausen verlassen, weil wir Schwaben sind, keine Madjaren. Als wir mit unserer Bündel des Gewichts von 30 kg in Deutschland ankamen, sagte man zu uns: „Nun, hier sind die ungarischen Zigeuner!” Heute ist die Lage der deutschen Minderheit anders. Sie ist im Parlament vertreten, was ja eher symbolischer Natur ist, aber es gibt sie. Was aber wichtiger ist, dass wir, so meine Beobachtungen, 30 Jahre nach der Wende anfangen, unsere Identität anzuerkennen. Das trifft auch auf mich zu, ich fühle mich immer mehr als (Ungarn-) Deutscher. Es gibt immer mehr deutsche Kulturgruppen, Orchester, Programme. Was ich erfreulich finde, gerade in Zeiten, in den die offizielle Regierungspolitik oft behauptet(e), dass Ungarn kein multikulturelles Land sei. Es ist eines, und daran, neben den anderen Nationalitäten, haben die Ungarndeutschen den größten Anteil.
SB: Kübeckhausen empfängt seine Besucher mit zwei- (oder gar drei-) sprachigen Orts- und Straßenschildern sowie Informationstafeln, das Dorfzentrum sieht aus wie ein Musterdorf irgendwo in Westeuropa oder selbst in Deutschland – inwiefern spiegelt es die Realität im Dorf, das ja über deutsche Wurzeln verfügt, wider?
RM: Das Dorf könnte – selbst dann, wenn er wöllte – nicht leugnen, dass es ein deutsches Kolonistendorf ist. Und ich – der sich ebenso zum Deutschtum bekennt als zum Ungarn- bzw. Madjarentum – will es auch nicht tun, ganz im Gegenteil, ich halte es für wichtig, sich auf die Schätze der Vergangenheit zu stützen. In den letzten 16 Jahren – seitdem ich Bürgermeister bin – haben wir zusammen mit unseren Gemeinderäten daran gearbeitet, das einzigartige, deutsche Gesicht des Dorfes zurückzuholen. Wir haben alles umgebaut beziehungsweise umgestaltet. Auf unserem Hauptplatz gibt es ein wunderbares, aber heruntergekommenes schwäbisches Haus, das unsere Gemeindeverwaltung erst jetzt, nach schwierigen Verhandlungen, erworben hat. Es ist eine Ruine, aber auch in diesem Zustand wunderschön. Wir planen die Errichtung eines SchwabenHauses, d. h. eines Kultur- und Dorftourismuszentrums für Veranstaltungen. Für die Instandsetzungen haben wir keinen müden Heller, aber ich vertraue mich auf die göttliche Fürsorge, so dass von irgendwoher diese Summe zur Verfügung gestellt wird. Vor einem Jahr haben wir eine deutsch-ungarische gemeinnützige GmbH mit der Bezeichnung „Kübecker Manufaktur” ins Leben gerufen, in der wir die lokale schwäbische Küche pflegen: Wir bieten Speisen, Süßigkeiten, Musik- und sonstige Veranstaltungen an. Wir haben jedes Wochenende „Straßenfeste”, die nicht nur von unseren Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch von Menschen aus dem In- und Ausland aufgesucht werden. Es ist sehr wichtig, dass dort, wo wir sind, Werte retten. Es ist für uns im Dorf sehr wichtig, dass wir auch im Weiteren auf diese Werte bauen, da wir noch längst nicht fertig sind.
SB: Wie ist es um die verbliebene deutsche Minderheit in Kübeckhausen sprachlich (Sprachkenntnisse, Möglichkeiten des Sprachgebrauchs in der Öffentlichkeit, Schule, Stadtverwaltung und Kirche) und kulturell bestellt?
RM: Praktisch wurden die Schwaben, die den Großteil der Dorfbevölkerung bildeten, vertrieben, und wer nicht bereit war, den hat man zwangsdeportiert. Wie ich bereits erwähnt habe, hat das kommunistische Regime dafür gesorgt, dass es nicht „in” war, sich zum Deutschtum zu bekennen, so wurden die Schwaben vor Ort langsam, aber sicher assimiliert. 2002 haben wir dann deutschsprachige Schilder an allen kommunalen Einrichtungen angebracht, aber in den 16 Jahren meines Amtes ist es mir noch nicht gelungen beispielsweise, dass Deutschunterricht oder Tanz- und Musikausbildung in der Schule eingeführt wird. Nun besteht Hoffnung für den Tanzunterricht. Hinsichtlich der Stärkung unserer kulturellen Identität war die Gründung der Kübecker Manufaktur (siehe Facebook oder die Internetseite www.kubecker.hu) von entscheidender Bedeutung. Auch durch den Gastronomiebetrieb und die Musikveranstaltungen, die dort stattfinden, hat sich das einzigartige kulturelle Milieu des Dorfes entscheidend entwickelt. Viele Besucher sagen, dass sie das Gefühl hätten, nach Deutschland gekommen zu sein. Ein junger Dorfbewohner, der vor kurzem zugezogen ist, sagt, Kübeckhausen sei wie ein Stück Deutschland. Viele sagen, dass der Ort eine Austrahlung, eine Seele hätte. Es freut mich, wenn sie das so sehen.
SB: Wenn man das schmucke Dorfzentrum verlässt und sich in die Seitenstraßen begibt, so ähnelt Kübeckhausen doch eher einem ungarischen Dorf auf dem Lande. Kämpft Kübeckhausen mit ähnlichen Problemen bzw. wird es mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie die Ortschaften in der Umgebung oder im ländlichen Ungarn wie zum Beispiel der Abwanderung, der ungünstigen demografischen Situation oder auch mit eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten?
RM: Wenn ich in Deutschland oder Österreich bin und mich in die Seitengasse eines kleinen Dorfes verirre, dann sieht es dort auch nicht so aus wie auf dem Hauptplatz. Auch hier bei uns gibt es wohlhabendere Menschen, deren Haus und Hof sich im tadellosen Zustand befindet, und es gibt auch welche, die in bescheideneren Verhältnissen leben. Beide Gruppen von Menschen sind für uns gleichermaßen wichtig. Was die Gemeindeverwaltung von den Menschen erwartet, ist die Akzeptanz der Ordnung. Den Platz vor dem Haus muss jeder in Ordnung halten, ansonstens gibt es Ärger mit dem Ordnungsamt. Wir haben diesbezüglich keine wirklich schlechten Erfahrungen gesammelt, im vergangenen Jahrzehnt sind wenige Bußgeldbescheide ergangen. Ziel ist nicht die Bestrafung, sondern das Anlernen des Bestrebens danach anspruchsvoll zu sein. Das Durchschnittsalter der Bewohner beträgt 38 Jahre, was wesentlich niedriger ist als in anderen, ähnlich großen Orten. Wir hielten es wichtig, neben der Bautätigkeit auch Dorfmarketing zu betreiben. Viele sind zugezogen, sogar welche aus Budapest. Wir sind ein Dorf der Vielfalt geworden, über besondere Programme, was dazu geführt hat, dass viele Jugendliche auf uns aufmerksam wurden, das Dorf liebgewonnen haben und zu uns gezogen sind. Auf persönliche Kontakte legen wir besonderen Wert, denn dank der Verbreitung der sozialen Medien leidet dieser Bereich nicht nur woanders in der Welt, sondern auch bei uns in Ungarn. Es mangelt an qualitativ hochwertiger Freitzeitbeschäftigung, der gegenseitigen Beachtung. Wir haben eine ganze Reihe ziviler Organisationen im Ort, deren Aufgabe es ist, die Leute wachzurütteln. Arbeitslosigkeit existiert praktisch kaum, oder lediglich in latenter Form, denn Ungarn hat sich entleert. 600.000 – 700.000 Landsleute sind in den Westen geflohen vor den hiesigen gesellschaftlichen Problemen, oder wie ich glaube, vielmehr vor der Aussichtslosigkeit. Segedin, die nächstgelegene Großstadt, saugt die verfügbaren Arbeitskräfte auf. Unser Problem besteht eher darin, dass es, wenn es so weitergeht, keinen geben wird, der als ABMler (ung. közfoglalkoztatott, R. G.) den Rasen mäht, weil die Menschen wegen den besseren Verdienstmöglichkeiten in die freie Wirtschaft wechseln.
SB: Was kann ein Bürgermeister – nicht zuletzt dank der zentralistischen Ausrichtung der ungarischen Politik ohne viel eigene Mittel – für seine Gemeinde tun? Einen Teil Ihrer Bemühungen sieht man, aber alles sicherlich nicht.
RM: An den Bestrebungen der Regierung ist es abzulesen, dass sie alles zentralisieren will, in welchem System der Mensch dann immer weniger zählt, in dessen Folge die Möglichkeiten, eigenständig zu handeln, immer geringer werden. Ich war 15, als ich in die Politik eingestiegen bin. In der Wendezeit hatte ich große Erwartungen. Ich habe mir ein solches Land gewünscht wie Österreich. Heute entfernen wir uns immer mehr von diesem Ideal. Ich bin ein felsenfester Anhänger des Selbstverwaltungssystems. Es gab sowohl in der ungarischen als auch der deutschen Geschichte Phasen, in den andere gesagt haben, wen oder was das Volk zu lieben oder mögen hat und wen nicht, oder wen es zu hassen hat. Es wurde deutlich, dass es die falsche Richtung war, der Menschen, Schicksale zum Opfer fielen. Das Gute an der Subsidiarität ist – dazu bekenne ich mich -, dass die kleinste Dorfgemeinschaft oder die autochtonen Basisgemeinschaften die Freiheit haben, zu planen, zu bauen, ihr Schicksal in ihre eigene Hand zu nehmen. Die Stimmungslage eines Volkes kann nicht gut sein, wenn man es im permanenten Angstzustand verharren lässt und wenn es die Atmosphäre des Unfrieden und des Hasses umhüllt. Ungarn der vielen Hoffnungen und das Land, das den Eisernen Vorhang abgerissen hat, ist ein solcher Ort geworden.
SB: Sie pflegen rege Kontakte zu Nachbarortschaften auf der serbischen und rumänischen Seite – welche Bedeutung hat diese Kooperation aus Ihrer Sicht?
RM: Aufgrund unserer geopolitischen Lage (im Dreiländereck) haben wir zwei Partnergemeinden einige Kilometer von uns entfernt, Altbeba/Beba Veche in Rumänien und Rabe in Serbien, in der Vojvodina. In Richtung Rabe wird in Kürze ein Grenzübergang errichtet, aus EU-Geldern in Höhe von 5 Millionen Euro, in Richtung Rumänien lässt eine Eröffnung – bereits seit einiger Zeit geplant – auf sich warten. Seit 1997 veranstalten wir im Geiste der europäischen Zusammenarbeit jedes Jahr am letzten Maiwochenende ein Dorf- und Grenzeröffnungsfest, dessen Besonderheit heutzutage ist, dass sich unsere Regierung immer mehr gegen die Kooperation und die europäische Partnerschaft sperrt. In gewisser Hinsicht als Anhänger des Atlantischen Bündnisses sehe ich in der deutschen Orientierung die Möglichkeit der Fortentwicklung, deshalb erlebe ich die Neuorientierung Ungarns in Richtung autoritärer Regime schmerzhaft.
SB: Kann man sagen, dass Kübeckhausen ein Musterdorf ist?
RM: Als evangelikaler Christ und geistiger Führer lautet mein biblischer Leitspruch, „alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen”, d. h. all meine Tätigkeit soll erfüllt sein vom liebevollen Bauen, dem Vor-Auge-Halten der Interessen der Gemeinschaft und der Liebe ohne Vorurteile, so dass die Motivation, das Herz und die Hand sauber bleiben, d. h. dass es beispielsweise keine Korruption gibt. Der Spießrutenlauf einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft, einer Gruppe beginnt immer dann, wenn das gute Ansinnen Schaden nimmt, d. h. wenn egoistische Einzelinteressen die erklärten guten Ziele überschreiben. Ich selbst beschäftige mich nicht damit, was mit mir passiert oder was für mich gut ist, sondern damit, dass ich mich, solange ich hier als Bürgermeister diene, als Verwalter betätige. Der Verwalter muss wissen, dass ihm nichts gehört, sondern dass er lediglich Verwalter der ihm anvertrauten Güter ist, nicht für immer, sondern auf Zeit. Ein solcher Auftrag ist die Kanzlerschaft von Angela Merkel oder ebenso die Ministerpräsidentschaft von Viktor Orbán. Auch dann, wenn es ihnen gar nicht bewusst ist. Und ein solcher Auftrag ist auch mein Dorfbürgermeisteramt, das ich so bekleiden will, solange es möglich ist, dass ich weiß: Eines Tages werde ich vor dem Herrn auch Rechenschaft ablegen müssen über die mir anvertrauten Talente, Menschen und alle anderen Dinge. Ich weiß es wohl, dass ich selbst so nicht imstande bin, vor meinem Herrn zu stehen, deswegen brauche auch ich die göttliche Gnade, Erbarmung, für die ich tagtäglich niederknie. Mit dem Gemeinderat arbeiten wir in diesem Sinne. Wir betrachten unseren Auftrag als ein Dienst, nicht als irgendwelches unveräußerliches feudales Privileg. Diese politische „Philosophie” trägt sicherlich fassbare und sichtbare Früchte im Ort, weswegen auf Kübeckhausen in der Tat viele als Musterdorf blicken. Für uns ist diese Sichtweise völlig selbstverständlich, und ich bete dafür, dass auch in Ungarn die Zeiten hereinbrechen, in den die zentrale Anliegen der Regierung nicht die Aneignung der politischen Macht und die Klientelpolitik sein werden, sondern der Dienst an der Allgemeinheit und der Gesamtgesellschaft. In einer Gesellschaft, die jegliche Hoffnung verloren hat, wird man nur so eine neue Zukunft planen und bauen können. Meine persönliche Erfahrung ist, dass das, was im Kleinen funktioniert, auch im Großen funktionieren würde.
SB: Herr Bürgemeister, vielen Dank für das Gespräch!
RM: Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, ich habe mich geehrt gefühlt.
Bild: 24.hu