von Béla Filep
«Autonomie! Autonomie! Autonomie!», hallt es durch die Strassen der siebenbürgischen Stadt Targu Mures, ungarisch Marosvasarhely, deutsch Neumarkt am Mieresch. Hier leben Rumänen und Ungarn in nahezu gleicher Zahl Seite an Seite. Der Szekler-Nationalrat (SZNT), eine Nichtregierungsorganisation, die sich für eine autonome Region Szeklerland einsetzt, hat am 10. März zum Freiheitstag eingeladen, einer Gedenkfeier und Demonstration zugleich. Die Szekler, die sich als Ungarn verstehen, aber über eine ausgeprägte regionale Identität verfügen, gedenken dreier Märtyrer, die 1854 einen Aufstand gegen die Habsburger planten und dafür hingerichtet wurden. Seit 2012 dient die Veranstaltung aber insbesondere dazu, den Autonomieforderungen der Szekler Gehör zu verschaffen.
Autonomie ist in Rumänien ein Wort, das polarisiert. Die Ungarn im Land verbinden es mit mehr Selbstbestimmung, viele Rumänen mit einer Bedrohung. In den jährlichen Berichten des Geheimdienstes werden die Forderungen der Szekler als «ethnischer Extremismus» geführt – für Rumänien ist territoriale oder regionale Autonomie ein Schritt in Richtung Sezession. Da nützt es wenig, dass die Exponenten der ungarischen Minderheit und der Szekler stets wiederholen, sie wollten Autonomie innerhalb der Grenzen Rumäniens.
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Von einem autonomen Szeklerland erhoffen sich die Ungarn in Rumänien eine bessere wirtschaftliche Entwicklung der Region und weniger Abhängigkeit vom Wohlwollen des Staates bezüglich Sprachgebrauch und Bildung. Die Situation der ungarischen Minderheit hat sich in letzterem Bereich zwar verbessert, trotzdem kommt es immer wieder zu Streitigkeiten wie derzeit im Falle eines ungarischen Gymnasiums in Targu Mures, um dessen Wiedereröffnung eine nationale Debatte entbrannt ist. Andere Streitpunkte sind der mangelnde Rückfluss an Steuergeldern aus Bukarest sowie staatliche Investitionen, die das Szeklerland und Siebenbürgen benachteiligten. Zudem führt Rumänien seit einigen Jahren eine Kampagne gegen Szekler-Symbole: Die Szekler-Flagge darf nicht an öffentlichen Gebäuden hängen, und das Szeklerland darf nicht wie andere historische Regionen als Tourismusdestination beworben werden.
Vor der Demonstration in diesem Jahr hat die Kunde vom politisch motivierten Verbot der Einreise nach Rumänien für den SZNT-Aussenbeauftragten Attila Dabis die Gemüter zusätzlich erhitzt. Die Polizei markierte Präsenz, hielt sich aber zurück und liess die friedliche Menge durch die Stadt marschieren. In früheren Jahren hat sie noch Namen der Demonstranten aufgenommen und Strafen ausgesprochen, die später erfolgreich angefochten wurden. 2015 wurde der Demonstrationszug gar verboten. Die Einschüchterungsversuche in der Vergangenheit hätten dazu geführt, dass nicht mehr so viele wie erhofft zur Manifestation kämen, sagen die Organisatoren – rund 4000 Personen dürften es heuer gewesen sein. An der bisher grössten Demonstration im Szeklerland im Oktober 2013, als die Teilnehmer eine 54 Kilometer lange Menschenkette bildeten, hatten noch rund 120 000 Personen teilgenommen.
Ist die Autonomiebewegung der Szekler deshalb am Ende? Mitnichten. Die Unterstützung in der ungarischen Bevölkerung ist gross, doch erhält die Bewegung weniger öffentliche Aufmerksamkeit als zum Beispiel die Kämpfer für Unabhängigkeit in Katalonien. Ihr Mobilisierungspotenzial ist deshalb beschränkt. Das Szeklerland ist eine ländlich geprägte Region im Südosten Siebenbürgens mit rund 800 000 Einwohnern. Unter ihnen befinden sich gemäss Volkszählung 2011 71 Prozent Ungarn, oder eben Szekler, die restlichen 29 Prozent teilen sich Rumänen, Roma und andere kleinere Bevölkerungsgruppen. 1,2 Millionen Ungarn lebten 2011 als Minderheit in Rumänien, 570 000 von ihnen im Szeklerland – 1992 waren es noch gut 1,6 Millionen gewesen. Abwanderung und Assimilation sind die Hauptgründe für den starken Rückgang. In der Autonomie sehen die Ungarn in Rumänien daher nicht nur ein Mittel zu mehr Selbstbestimmung. «Wir möchten mit der Autonomie die Voraussetzungen für einen langfristigen Verbleib als Gemeinschaft schaffen», sagt Attila Korodi, der Fraktionschef der grössten Ungarnpartei im rumänischen Parlament.
Siebenbürger Rumänen grenzen sich von Rumänen ausserhalb des Gebiets gerne ab. Sie fühlen sich aufgeklärter, westlicher. Auch sie ärgern sich über den mangelnden Rückfluss an Steuergeldern und die Benachteiligung bei Investitionen. In Bezug auf die territoriale Autonomie für das Szeklerland findet man unter Rumänen allerdings nur marginale Stimmen, die mit der Idee sympathisieren. 1998 hatte der Journalist und Politiker Sabin Gherman mit einem Manifest auf sich aufmerksam gemacht, in dem er mehr Autonomie für Siebenbürgen forderte. 2015 hat sich in Targu Mures eine neue Partei formiert, die in eine ähnliche Richtung argumentiert: die Partei der Freien Menschen (POL). Ihr Gründungsmitglied Dan Masca sagt, er könnte als Rumäne mit einem autonomen Szeklerland leben. Wichtiger sei ihm, dass alle Bürger des Landes frei über die Zukunft ihrer Stadt und Region entscheiden könnten.
Masca schwärmt von der Schweiz, die er von seiner Arbeit als IT-Unternehmer kennt. «Dezentralisierung nach Schweizer Vorbild», liest man auf der POL-Website. «Heute ist Rumänien ein zentralistischer Staat, in dem die Entscheidungen von einem engen Kreis in Bukarest getroffen werden», sagt Masca. Die Partei POL habe er als aufgeklärter Bürger gegründet, mit dem nicht bescheidenen Ziel, Rumänien von unten zu verändern. Dazu gehört für ihn auch die Offenheit, eine ethnisch gemischte Partei zu führen. Noch immer sei der rumänisch-ungarische Antagonismus in der Politik sehr präsent. Letztlich könnten die beiden Ethnien in Siebenbürgen nur gemeinsam ihre Zukunft verändern, meint Masca. Das sehen die Ungarn durchaus ein. Die Frage, wie sie die Rumänen davon überzeugen können, dass ihre Autonomie-Idee nicht gefährlich sei, sorgt bei ihnen für Kopfzerbrechen. «Die Rumänen werden in einem autonomen Szeklerland unsere ersten Nachbarn sein», mahnt denn auch Zsolt Szilagyi, Präsident der Ungarnpartei EMNP, an der Feier in Targu Mures.
Dass die Politik ihre Meinung bald ändert, daran glauben die Vertreter der Autonomiebewegung nicht. Anfang April hat das rumänische Parlament ein vom SZNT verfasstes Autonomiestatut abermals zurückgewiesen. Während es einzelne Parteien gibt, die in der Vergangenheit begrenzte Zugeständnisse gemacht haben, zeigt sich das nationale Parlament heute hinsichtlich der Autonomie geeint kompromisslos. Die ablehnende Haltung des Mainstreams hat die Szekler auch dazu bewogen, ihr Anliegen verstärkt zu internationalisieren. Während sie im «Mutterland» Ungarn schon länger Unterstützung finden (siehe Zusatz), pflegen sie seit einiger Zeit auch Kontakte zu anderen, bereits autonomen Regionen.
Attila Dabis, der Aussenbeauftragte des SZNT, hat sie alle schon besucht, um Verbündete zu finden und von erfolgreicheren Bewegungen zu lernen. Trotz dem Verbot der Einreise nach Rumänien, das für drei Jahre gilt, will er bei der Uno, beim Europarat und im EU-Parlament weiter lobbyieren – gemeinsam mit anderen Minderheiten. Immerhin gehören gegen 50 Millionen oder 10 Prozent der EU-Bevölkerung einer nationalen oder sprachlichen Minderheit an.
An der Gedenkfeier in Targu Mures treten Redner aus Katalonien, dem Baskenland und Italien auf – mit Jordi Xucla und Jokin Bildarratz zwei Vertreter aus dem spanischen Parlament. Sie bestärken die Szekler in ihren Bestrebungen nach Autonomie. Mit Verweis auf die ausländischen Gäste meint Balazs Izsak, Präsident des SZNT: «Wir fordern nur, was andere in Europa auch haben, die Katalanen, Basken oder Südtiroler.» Am ehesten bemüht der SZNT den Vergleich mit Südtirol, weil dieses mit Österreich auch über ein «Mutterland» und trotzdem über eine unbestrittene Autonomie verfügt. Von der Betonung der «europäischen» Vorbilder erhofft sich die Autonomiebewegung der Szekler, dass Rumänien in der Autonomiefrage auf internationalen Druck hin einlenkt.
Ihre Hoffnung setzen die Szekler nicht zuletzt in die Europäische Union, auch wenn man von dieser bisher enttäuscht wurde. Bis heute verfügt die EU über keine Minderheitenpolitik, die Mitgliedstaaten zur Einhaltung konkreter Rechte für nationale Minderheiten verpflichtet. In der EU-Grundrechtscharta werden diese nur im Nichtdiskriminierungsartikel explizit erwähnt. Bezeichnenderweise befasst sich die 2007 geschaffene Agentur der EU für Grundrechte ebenfalls nicht gesondert mit nationalen Minderheiten, im Gegensatz zu sexuellen Minderheiten, den Roma oder Migranten. Deshalb haben verschiedene nationale Minderheiten eine Europäische Bürgerinitiative mit dem Namen «Minority Safepack» initiiert. Sie fordert, dass sich die EU der Frage annimmt und im besten Fall ihre Politik ändert. Zumindest die erste Hürde wurde gemeistert: 1,2 Millionen EU-Bürger haben die Initiative unterschrieben, 1 Million sind erforderlich. Etwas mehr als 300 000 Unterschriften stammten aus Rumänien – ein Zeichen, dass die ungarische Minderheit die Hoffnung in die EU und in ein autonomes Szeklerland noch nicht aufgegeben hat.
Quelle: https://www.nzz.ch/international/in-rumaenien-ist-autonomie-ein-reizwort-besonders-wenn-es-um-die-szekler-geht-ld.1385611
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