Die letzten sieben Sachsen: die Siebenbürger Sächsin Marie Barlint erzählt

von Yves Bellinghausen und Lennart Banholzer

Auf einem blauen Schild am Ortseingang des Dorfes Reußdörfchen   steht in Weiß auf Rumänisch „Bien Ati Venit“ geschrieben. Rechts daneben die deutsche Entsprechung: „Willkommen“. Es ist ein kleiner Ort mit gut 700 Einwohnern, gelegen mitten in Siebenbürgen, das die Rumänen Transsylvanien nennen. Das Schild ist verwittert, an einigen Stellen blättert die Farbe ab. Oben rechts prangen zwölf kreisförmig angeordnete Sterne, die wohl mal gelb waren: Es ist das Symbol der Europäischen Union. Eine einzige Straße führt durch das Dorf, das auf Deutsch Reußdörfchen und auf Rumänisch Rusciori heißt. Nur bis zum Ortseingang ist die Straße geteert, dahinter besteht sie aus Matsch. Letzte Nacht hat es geregnet. Der Sandweg ist aufgeweicht und überzogen mit Schlaglöchern.

Das Dorf ist klar aufgeteilt: Am Anfang stehen die Häuser der Rumänen. Links herum kommen nach der orthodoxen Kirche die Hütten der Roma. Rechts herum geht es in das Viertel der Deutschen, der Siebenbürger Sachsen. Sie haben ihre eigene Kirche, erbaut im 13. Jahrhundert.

Eine von ihnen ist Marie Barlint, die in Reußdörfchen alle Mariechen nennen. Ihre 78 Lebensjahre hat sie alle in diesem Ort verbracht. Tiefe Falten hat sie im Gesicht, ihr fehlt ein Schneidezahn. Die kleine Frau trägt ein schwarzes Kopftuch, vorne schauen ihre weißen Haare heraus. Beim Sprechen auf Deutsch rollt sie das „R“. Stolz präsentiert die Siebenbürger Sächsin Fotos von „damals“. Sie zeigen junge und alte Menschen in den Trachten der Sachsen, die in die Kamera grinsen. Die meisten der Fotos sind schwarz-weiß, manche in Farbe. Zu sehen sind auch Barlints Tochter und ihr Sohn, sowie ihr Ehemann, der schon vor vielen Jahren verstorben ist. „Das ist schon lange her”, sagt sie leise in ehrfürchtigem Ton. Auch die meisten anderen Menschen, die auf Barlints alten Bildern fröhlich dreinschauen, leben heute in Deutschland oder sind tot. In Reußdörfchen wohnen heute nur noch sieben Sachsen.

Ein Hundertstel der Sachsen ist noch da – maximal

Bis Anfang der neunziger Jahre war das anders. Hunderte Sachsen lebten bis dahin in Reußdörfchen, in ganz Rumänien waren es etwa 150.000. Dann fiel in Berlin die Mauer. In Scharen wanderten die Sachsen nach Deutschland aus. Etwa ein Hundertstel lebt von ihnen heute noch in Rumänien – maximal. Die, die noch geblieben sind, sterben langsam aus – in Orten wie Reußdörfchen, genau wie in den Städten. Hermannstadt – oder Sibiu, auf Rumänisch – gilt heute als letztes Zentrum der Minderheit. Im Stadtkern steht die sächsische Stadtpfarrkirche vis-a-vis zum deutschen Brukenthal Gymnasium. Nebenan, in einem dunklen Raum im Stadtpfarramt, sitzt Pfarrer Hans-Georg Junesch an einem Tisch. Hinter ihm hängt ein großes Gemälde vom Namensgeber des Gymnasiums, Samuel Brukenthal. Vor mehr als 200 Jahren war er Gouverneur von Siebenbürgen: der einzige Deutsche, der jemals auf diesem Posten war. Junesch sagt, 1200 Mitglieder habe seine Gemeinde heute noch in Hermannstadt und Umgebung. Er schätzt, dass es nicht viel mehr Siebenbürger Sachsen gibt. Fast alle seien in der Kirche. Schon immer habe die Kirche eine zentrale Rolle bei ihnen eingenommen.

Junesch vermutet, dass die Generation seiner Tochter die letzte von „echten“ Sachsen in Hermannstadt sein wird. „Echte“ Sachsen, das seien Kinder deren Eltern beide der Minderheit angehörten. Jetzt gebe es immer mehr „Mischehen“. Seine Tochter ist 14 Jahre alt. Den Dialekt der Siebenbürger Sachsen habe sie zwar noch gelernt – sprechen könne sie ihn aber mit fast niemandem mehr, sagt Junesch. Dass seine Tochter den Dialekt noch an ihre Kinder weitergeben wird, glaubt der Pfarrer nicht. Er selbst merke, dass sein Deutsch schlechter wird. Er spreche immer mehr Rumänisch, führe nur noch selten anspruchsvolle Gespräche in seiner Muttersprache. Bei Gesprächen mit den Sachsen fällt oft ihr etwas holpriger Satzbau auf. Ihre Wortwahl wirkt oft ein wenig veraltet.

Die Deutschen sind beliebt

Marie Barlint spricht lieber Deutsch als Rumänisch. Die Volksgruppen der Roma, Siebenbürger Sachsen und Rumänen sind in Reußdörfchen strikt getrennt – räumlich und auch in den Köpfen. Die Gruppen leben vor allem neben- und selten miteinander. Früher, so erzählt sie, lebten in ihrem Teil von Reußdörfchen nur Deutsche. Ihre Häuser haben oft aufwendige Tore und Auffahrten. Ein Statussymbol. Früher wurden die Häuser penibel gepflegt. Heute sind die meisten in einem schlechten Zustand. „Da wohnen jetzt Zigeuner drin”, flüstert Barlint, als gelte es, ein Geheimnis zu bewahren. Die Häuser in diesem Teil des Dorfes haben oft zwei Stockwerke, die meisten sind in unterschiedlichen Farben bemalt. Vor Barlints Haus wurde gerade das Gras gestutzt. Im Viertel der Roma hingegen gibt es kaum Grün, kein Haus mit einer richtigen Fassade und keine Auffahrten. Auf dem Sandweg ist frisches Blut – vor kurzem wurde hier ein Tier geschlachtet.

Die „Zigeuner” haben keinen guten Stand in Rumänien. Sie seien ungewaschen, faul und kleinkriminell: Vorurteile, die man häufig hört, wenn man mit Mitgliedern anderer Volksgruppen über die Minderheit spricht. Die Sachsen sehen viele als das genaue Gegenteil. Die Beliebtheit der Deutschen macht sich politisch bermerkbar: Der DFDR, die Partei der Deutschen, stellt die Bürgermeisterin in Hermannstadt. Ein Amt, das bis 2014 Klaus Iohannis inne hatte. Auch er ist Siebenbürger Sachse und heute Staatspräsident Rumäniens.

Demografie verläuft nicht immer mathematisch

Benjamin Józsa ist Geschäftsführer des DFDR. Aus seinem Büro in Hermannstadt kann er den zentralen Platz der Stadt, den Piata Mare, gut überblicken. Er sagt, die Minderheit der Deutschen habe sich schon immer gut mit den Rumänen arrangiert. Das liegt auch daran, dass die Minderheit schon länger dort lebt, als es den rumänischen Staat gibt, sagt er. Ob die Sachsen ganz verschwinden werden, weiß er nicht. Demografie verlaufe nicht immer mathematisch. Allerdings spricht die Mathematik eine deutliche Sprache.

Ganz endgültig ist der Abschied der Sachsen aber noch nicht. Das gilt weniger für die Menschen selbst, als vielmehr für die Kultur, die sie hinterlassen. Ihre Folklore ist mittlerweile auch bei Rumänen beliebt. Wichtiger Bestandteil des sächsischen Lebens waren ihre Volkstanzgruppen. Vor allem Jugendliche pflegten den Gruppentanz in traditionellen Trachten. Heute gibt es solche Gruppen noch beim Jugendforum Hermannstadt, der Jugendorganisation des DFDR. 50 Mitglieder haben sie, erzählt der Vorsitzende des Forums, Sebastian Arion. Nur fünf von ihnen seien noch Sachsen, die große Mehrheit Rumänen – wie er selbst. Arion ist 23 Jahre alt und studiert Elektrotechnik. Ja, ihn interessiere die deutsche Kultur, sagt er. Zum Forum ist er vor allem aber aus dem Grund gekommen, aus dem auch in Deutschland viele Jugendliche in solchen Gruppen eintreten: Viele seiner Freunde waren bereits da. Das Jugendforum bildet eine Gemeinschaft. Mit ihren Volkstanzgruppen sind sie im ganzen Land unterwegs, manchmal auch im Ausland. Die Gruppen sind so gefragt, dass es teilweise sogar zu Engpässen beim Verleih der Trachten kommt, die das Jugendforum verwaltet.

Arions Muttersprache ist Rumänisch, er spricht aber auch fließend Deutsch. Bereits im Kindergarten hat er die Sprache gelernt, später ist er auf das Brukenthal Gymnasium, die deutsche Schule, gegangen: Die Schule wurde ursprünglich für die Kinder der Siebenbürger Sachsen gegründet. Deshalb war lange der gesamte Unterricht auf Deutsch – jetzt sind mehr als die Hälfte der Schulstunden auf Rumänisch. Das liegt daran, dass es an deutschsprachigen Lehrern fehlt. Auch sächsische Schüler gehen kaum noch auf die Schule: Das Gymnasium sei zwar angesehen und die Gesamtzahl der Schüler konstant. Gut 95 Prozent von ihnen seien heute aber Rumänen, sagt die Schulleiterin Monika Hay.

Als würde man gegen den Wind kämpfen

Dass die sächsische Kultur verschwindet, stimmt sie melancholisch. Wenn sich heute die Rumänen die Trachten anziehen, dann ist es für sie eine Verkleidung. Manche Sachsen bezeichnen das sogar als Karneval. In den ehemaligen sächsischen Dörfern wie Reußdörfchen, Michelsberg und Rothberg sind Rumänen oder Roma in die alten Häuser der Sachsen gezogen. Hay sagt, sie pflegten die Gebäude nicht mehr so intensiv. Historische Fenster würden durch Plastik ersetzt. Das zu sehen, tue ihr weh. Einen Vorwurf macht die Schulleiterin den heutigen Bewohnern nicht. Ohne sie und ihre Begeisterung für die sächsische Kultur gäbe es heute weder das Brukenthal Gymnasium, noch die Volkstanzgruppen. Und sowieso: „Wer nicht mehr hier ist, kann sich nicht beschweren, dass sich etwas verändert.“ Auch die Kirchenburgen, welche die Sachsen gebaut haben und für die Siebenbürgen berühmt ist, seien nur noch Denkmäler. „Das was sie einmal mit Leben gefüllt hat, ist weg“, sagt Hay.

Auch Marie Barlint findet, dass die Rumänen nicht die richtige deutsche Kultur leben können. „Die Rumänen sind einfach keine Sachsen.” Sie selbst legt großen Wert auf das Erbe ihrer Vorfahren. Die weiße Kirche sei ihr heilig, sagt sie. Im Winter, wenn es hier bis zu minus 30 Grad kalt wird, trägt sie eigens einen hunderte Jahre alten Kirchenmantel. Sie wird wohl die Letzte sein, die ihn trägt. Ihre 45-jährige Tochter zieht die Tracht der Sachsen nicht mehr an. Sie ist gerade zu Besuch in Reußdörfchen, arbeitet eigentlich als Altenpflegerin in Deutschland. Warum sie die Kultur der Siebenbürger Sachsen nicht weiterträgt? „Soll ich sie etwa alleine weiterführen?“, fragt sie pragmatisch. Das sei, wie gegen den Wind zu kämpfen.

Quelle: https://www.cicero.de/kultur/leipziger-buchmesse-rumaenien-siebenb%C3%BCrger-sachsen-transsylvanien

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