Reisenotizen

Reisenotizen (19) – St. Stephans-Siedlung Griesheim

(Februar 2025) Die Landschaft erweckt einen vertrauten Eindruck. Kein Zufall, liegt doch die St. Stephans-Siedlung ca. einen Kilometer Luftlinie entfernt von der Donausiedlung, die ich zwei Jahre zuvor besucht habe. Schon damals hieß es in der Darmstädter Donausiedlung, dass „da drüben” stramme Katholiken wohnten.

An einem bedeckten und kühlen Februarnachmittag war es soweit. Von der Autobahn 5 kommend musste ich nur wenige Kilometer in die entgegengesetzte Richtung fahren um mich in dem „ungarndeutschen Dorf” wiederzufinden. So brachte eine Dame Anfang 60 den Charakter der Siedlung treffend auf den Punkt.

In der Wahrheit erinnert den Besucher nur wenig an die Anfangszeit der Siedlung, als sich die vertriebenen Deutschen aus Ungarn auf Initiative von Dr. Viktor Gußmann hier niederließen: Es wurde viel gebaut und nachverdichtet in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Nun erinnern nur noch wenige Gebäude an die ursprüngliche Siedlungsstruktur, die an Stelle eines ehemaligen Truppenübungsplatzes in Form eines nach Osten weisenden Christuskörpers entstand. Aber dennoch findet man hier und da über die Zäune blickend Vertrautes aus der ungarischen Heimat, als würden die Höfe in Udwo oder Senglasl stehen.

„Wenn Sie die Donaustraße runterlaufen, Richtung Hauptstraße, finden Sie noch einige alte Gebäude aus der Anfangszeit”, sagt mir die bereits zitierte Frau in ihren Sechzigern. Sie hat gerade die Enkeltochter – „die dritte Generation” in der St- Stephans-Siedlung – mit dem Fahrrad aus der Kindertagesstätte abgeholt. Und gleich beginne ich, sie mit Fragen zu bohren. Ich erfahre im netten Gespräch, dass die Geschichte der Familie keine Vertreibungsgeschichte war: Die Mutter habe im Jahr der Machtergreifung 1933 die Branau verlassen und sei nach Österreich gegangen, wo sie den Vater der Frau, einen Österreicher kennen lernte. Über Umwege seien sie dann in der St. Stephans-Siedlung in Griesheim gelandet: Die Tochter wuchs bereits hier auf und hat die Veränderungen miterlebt, allen voran die Versiegelung und das Zupflastern von Straßen und Gehwegen. Einige Bewohner seien weggezogen, viele aus der Erlebnisgeneration verstorben, aber es leben noch viele Nachkommen der Heimatvertriebenen hier in der Siedlung, was zweifelsohne deren Attraktivität beweist.

Und da fällt ein Begriff, den ich an diesem Nachmittag noch öfters hören werde: Spargel. Denn Landwirtschaft sei auch hier nicht aus dem Alltag der „Dorf”bewohner wegzudenken gewesen: Jedes Haus habe über einen Gemüsegarten verfügt, man habe Nutztiere gehalten und auf den Feldern hinter der Siedlung Spargel angebaut (dieser wird immer noch angebaut): „Mein Großvater wollte eigentlich Weinstöcke pflanzen, aber der sandige Boden bot keine guten Voraussetzungen – so blieb man beim Spargelanbau”, so die Frau. Das bestätigt ein anderer Alteingesessener, der mit dem Fahrrad an mir vorbeifährt: „Da drüben, wo diese Lagerhalle steht, dort hatten die Bewohner – genossenschaftlich organisiert – ihre Lagerhallen für Obst und Gemüse gehabt.” Ich will wissen, ob es noch viele Ungarndeutsche gebe in der Siedlung, was mit der Handbewegung Richtung Halle und dahinter bestätigt wird. 

Den offensichtlichen Wandel, der dennoch stattgefunden hat und die Bevölkerungszusammensetzung veränderte, zeigen die ausländisch klingenden Namen auf den Klingelschildern, die Passanten, die aus allen Herren Ländern stammen, und die anschließenden Gespräche. Es gibt etliche Hauseigentümer und Mieter, die durchaus um die Herkunft der Siedlung wissen, auch wenn nicht eingehend. So ein Mann vermutlich türkischer Herkunft, der auch auf die Bedeutung des Spargelanbaus hinweist.

Oder ein Großvater, der gerade sein Enkelkind aus der Kita abholt – anfangs etwas zögerlich beginnt er von der Familiengeschichte zu erzählen: Von den Eltern, die 1948 aus der Branau nach Zwickau in der Sowjetisch Besetzten Zone vertrieben worden seien (wo immer noch die Hälfte der Familie lebe), aber bald „rübergemacht” hätten – in den Schwarzwald: „Dadurch hat sich der Kreis geschlossen, da die Vorfahren der Familie, die als freie Bauern dort gelebt hatten, irgendwann nach Ungarn verfrachtet wurden.” So gelangte in Folge die Familie nach Griesheim, in die St. Stephans-Siedlung. Man habe den Kontakt in die Branau stets gepflegt, als Beweis für die zahlreichen Verwandtschaftsbesuche sagt der Mann zum Schluss noch ein-zwei kurze Sätze auf Ungarisch.

Aber auch bei der erstgenannten Frau sei der Kontakt zur Urheimat nie abgebrochen: So sei sie 1977 zum ersten Mal in der Branau gewesen, danach mehrfach. Für die Mutter sei Ungarn stets Heimat geblieben, auch wenn sie bereits 1933 Ungarn verlassen hat. Dies habe sich mit zunehmenden Alter sogar auch im Bestreben widergespiegelt, die ungarische Sprache zu sprechen, obwohl zu Hause nur deutsch (bzw. früher Mundart) gesprochen worden sei.

So nehme ich am Vertreibungsdenkmal gegenüber der St. Stephanskirche Abschied von der Siedlung. Es bleiben viele neue Erkenntnisse und Einblicke in diese einst kleine schwäbische Welt in Hessen, die im Verborgenen bis heute noch diesen Charakter bewahrt hat

Folgen Sie uns in den sozialen Medien!

Spende

Um unsere Qualitätsarbeit ohne finanzielle Schwierigkeiten weitermachen zu können bitten wir um Ihre Hilfe!
Schon mit einer kleinen Spende können Sie uns viel helfen.

Beitrag teilen:​
Geben Sie ein Suchbegriff ein, um Ergebnisse zu finden.

Newsletter

Möchten Sie keine unserer neuen Artikel verpassen?
Abonnieren Sie jetzt!