Ein europäischer Lebensweg

Ein europäischer Lebensweg | Teil 2

Großinterview mit dem deutschen Landrat a. D. donauschwäbischer Herkunft Josef Lach (85) aus Rodgau

Im ersten Teil des Interviews (SB 04/2024) berichtete Josef Lach über Flucht und Vertreibung der Familie sowie die Heimischwerdung in der Donausiedlung Darmstadt. Teil 2 beschäftigt sich mit der Lehrtätigkeit des gebürtigen Burjader und seinen kommunalpolitischen Aktivitäten.

Teil 2

SB: Sie haben Lehramt studiert und wurden im Laufe der Zeit Rektor einer Gesamtschule, was ein Musterprojekt der westdeutschen Sozialdemokratie war/ist – wie bewerten Sie im Rückblick den Erfolg (oder Misserfolg) dieser bahnbrechenden Schulreform der 1970er Jahre?

JL: Ich hatte das Glück, dass ich am 13. September 2024 das 50-jährige Jubiläum der von mir – gegen heftige Widerstände der CDU – durchgesetzten Integrierten Gesamtschule Nieder-Roden erleben konnte. Und aus diesem Anlass wurde ich gebeten, beim Jubiläumsfest die Festrede zu halten. Deshalb will ich hierzu einige Passagen meines Rückblicks aus dieser Rede wiedergeben:

„Ich kann pauschal feststellen, dass es ein richtiger und erfolgreicher Weg war – nicht nur, weil keine Schule mehr außerhalb Rodgaus besucht werden muss, egal welcher Schulabschluss angestrebt wird. Auch unter den Aspekten Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit kommen mir viele ehemalige Schülerinnen und Schüler in den Sinn, die hervorragende Schul- und Studienabschlüsse – bis hin zu höchsten akademischen Graden – erreichten, weil sie nicht in dem herkömmlichen »Dreiklassen-System« vorzeitig in die Hauptschule »einsortier« wurden, sondern in der Förderstufe und Integrierten Gesamtschule die Chance hatten, sich ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend entwickeln zu können.

Mit Blick auf die aktuelle bildungspolitische Diskussion auf Landes- und Bundesebene, sind aber in den öffentlichen Medien noch immer dieselben Schlagworte wie vor 50 Jahren zu lesen. Und gleichzeitig wird beklagt, dass die Bildungs-Chancen von Jugendlichen in Deutschland noch immer im Wesentlichen mit dem Sozial- und Finanzstatus ihrer Eltern korrelieren.

Dies hängt nicht nur – aber auch – damit zusammen, dass unser schulisches Bildungssystem immer noch weitgehend in den Strukturen des mehr als hundert Jahre alten »Dreiklassen-Systems« organisiert ist und deshalb – trotz partieller Reformansätze – grundsätzlich veraltet ist und folglich auch nicht wirklich fit für die immer neuen und immer größeren Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft sein kann.

Im März 2023 wurde in der Frankfurter Rundschau auf eine Studie des Forschungsinstitutes für Bildungs- und Sozialökonomie darauf hingewiesen, dass die überwiegende Zahl der befragten Schulleitungen ihre Schule reformieren wolle. Und darin würden gar nicht mehr die Raumprobleme und deren unzureichende Ausstattung im Vordergrund stehen, sondern der prognostizierte Lehrermangel in den nächsten Jahren und das Fehlen der notwendigen neuen pädagogischen Konzepte. Und Anfang April 2023 legte der hessische Landeselternbeirat eine Liste mit 10 Ideen vor, wie Schule und Bildung verbessert werden könnten.

Die meisten der in diesen Veröffentlichungen erwähnten Konzepte und Projekte sind in dieser Schule seit vielen Jahren gelebte Praxis. Und deshalb habe ich am Schluss meiner Rede alle Beteiligten ermuntert, auch künftig konsequent auf diesem Weg weiterzugehen, in der Gewissheit, dass Schule sich immer weiterentwickeln muss, wenn sie den jeweiligen gesellschaftlichen Erfordernissen gerecht werden will.“ 

SB: Ihre Wahl zum Landrat des Kreises Offenbach war nach jahrzehntelanger Lehrtätigkeit sicherlich ein Einschnitt in Ihrem Leben – was hat Sie dazu bewogen, dieses Amt anzunehmen und welche Erfahrungen haben Sie in den sechs Jahren mitgenommen?

JL: Meine Wahl zum Landrat des Kreises Offenbach war letztlich eine Folge meines beruflichen Engagements zur Verbesserung des schulischen Angebotes in dem „bildungspolitischen Problemgebiet“ Nieder-Roden. Die Auseinandersetzungen mit den örtlichen Kommunalpolitikern führten gewissenermaßen zwangsläufig dazu, dass ich mich zur Verbesserung des örtlichen Schulangebotes in dieser Wachstumsgemeinde aktiv in die Kommunalpolitik einmischte. Dabei erkannte ich sehr bald, dass man nur dann auf Dauer seine bildungspolitischen Vorstellungen umsetzen kann, wenn man direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungsgremien hat.

 Da ich die SPD schließlich von meinen schulpolitischen Vorstellungen überzeugen konnte, trat ich im April 1971 in diese Partei ein und wurde wenige Monate später von der Mitgliederversammlung auf den zweiten Platz der Kandidatenliste für die Wahl der Gemeindevertretung im Frühjahr 1972 gesetzt. Dies war der Beginn meiner späteren Karriere als langjähriger ehrenamtlicher Kommunalpolitiker, zunächst in meiner Heimatgemeinde und nach der Gebietsreform 1977 im Kreistag des Kreises Offenbach. In Rodgau war ich fünf Jahre stellvertretender Vorsitzender der Gemeindevertretung und im Kreistag des Kreises Offenbach, 12 Jahre lang bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der Opposition. Nach der Kommunalwahl 1989 hatte die SPD die Chance, in einer Koalition mit den Grünen die Kreispolitik wieder entscheidend mitzugestalten. Ich wurde zum hauptamtlichen Kreisbeigeordneten für die Aufgabenbereiche Schule, Sport und Kultur gewählt und konnte vieles von dem umsetzen, wofür ich jahrelang in der Opposition gekämpft hatte. Aber nach dem überraschenden vorzeitigen Ausscheiden unseres Landrates aus dem Amt, stand die Fraktion vor der schwierigen Entscheidung, einen Kandidaten für die Wahl zum neuen Landrat vorzuschlagen.

Ich hatte nie dieses Amt angestrebt, weil ich mich in meiner Funktion als Dezernent für Schule, Sport und Kultur sehr wohl fühlte und mit meiner Arbeit erfolgreich war. Als bei der Kandidatendiskussion sehr bald mein Name genannt wurde, bat ich um eine Woche Bedenkzeit. Ich wollte mir überlegen, ob ich mir dieses multifunktionale Amt nicht nur fachlich zutrauen kann, sondern auch bereit bin zu akzeptieren, dass man eigentlich in keiner Situation mehr nur Privatperson sein kann, weil man fast immer als öffentliche Person gesehen wird, die in allen gesellschaftlichen Bereichen ihren Beitrag zu leisten hat. Mir war aber während meiner langjährigen kommunalpolitischen Tätigkeit – stets an vorderster Front – immer deutlicher geworden, wie wichtig die kommunale Ebene für das Funktionieren unserer demokratischen Gesellschaft ist. Dazu kommen noch die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten eines Landrats. So habe ich mich im Einvernehmen mit meiner Frau entschlossen, mich dieser Herausforderung zu stellen.

Danach war die Kandidatendiskussion ziemlich rasch beendet und Unterbezirksvorstand und Kreistagsfraktion der SPD fassten den einstimmigen Beschluss, mich dem Sonderparteitag als Kandidaten für die Wahl zum Landrat vorzuschlagen. Bei der Begründung des Vorschlages stellte der Unterbezirksvorsitzende u. a. fest, dass im Vorfeld die Befürchtung geäußert wurde, ich sei für dieses höchste kommunalpolitische Amt im Kreis „zu gerade aus und zu offen“, was ja dem landläufigen Bild von einem Politiker widerspreche. Und er ergänzte, genau das sei der Grund gewesen, weshalb der Unterbezirksvorstand mich für dieses Amt vorgeschlagen habe. Bei der Abstimmung erhielt ich 165 der abgegebenen 172 Stimmen. Bei der Wahl im Kreistag am 19. Februar 1992 erhielt ich 46 von 82 Stimmen.

Im Rückblick auf meine neunjährige hauptamtliche Tätigkeit als Landrat und Schuldezernent kann ich feststellen – ohne überheblich zu sein -, dass ich in vielen Bereichen sehr erfolgreich gearbeitet habe. Ich will aus der Vielzahl der Beispiele nur drei kurz anführen. Im Bereich der Schulpolitik kann ich feststellen, dass bei meinem Ausscheiden aus der Kommunalpolitik im Kreis Offenbach ein umfassendes Schulangebot vorhanden war. Dieses hat sich ganz wesentlich in Richtung auf mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit so weiterentwickelt, dass es jedem Vergleich mit den umliegenden großstädtischen Angeboten standhalten kann.

Im Bereich der medizinischen Versorgung der Kreisbevölkerung konnte ab April 1994  nach dem Versagen der Kassenärztlichen Vereinigung eine entscheidende Verbesserung erzielt werden: in Zusammenarbeit mit den beiden Kreiskrankenhäusern die Einrichtung eines Notfall-Rettungssystems rund um die Uhr in kreiseigener Regie.

Aus einem ganz anderen Bereich möchte ich aber noch ein Vorhaben erwähnen, das mit Blick auf die Siedlungsentwicklung im östlichen Teil des Kreises unter regionalplanerischen, städteplanerischen sowie wirtschaftlichen und auch ökologischen Aspekten schon seit Anfang der 1970er Jahre als eine der wichtigsten Infrastrukturmaßnahmen für die weitere Entwicklung diskutiert wurde. Es ging um den Ausbau der seit 1896 bestehenden Eisenbahnstrecke zwischen Offenbach und Reinheim im Odenwald zur zweigleisigen S-Bahnstrecke bis Ober-Roden. Der Diskussions-, Planungs- und Entscheidungsprozess für diese „Jahrhundert-Maßnahme“ zog sich schon seit etwa drei Jahrzenten dahin und schien im Jahr 1994 wieder einmal vom Scheitern bedroht. Das veranlasste mich, die zuständigen Politiker und Fachplaner auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene zu einer „Krisensitzung“ einzuladen. Auf der Grundlage einer umfassenden Bestandsaufnahme fand man einen Lösungsansatz für die vermeintlich unlösbaren Probleme. Am Ende der Sitzung bestand Einvernehmen darüber, dass durchgängige Zweigleisigkeit unabdingbar ist. Diese S-Bahn sollte problemlos in das S-Bahn-Netz des Rhein-Main-Gebietes  eingebunden werden, damit es den Anforderungen eines modernen Nahverkehrssystems bis weit in das nächste Jahrhundert hinein gerecht werden kann. Damit konnte durch meine persönliche Initiative der Verhandlungsmarathon mit einem für alle Beteiligten positiven Ergebnis abgeschlossen werden: Mit dem Netzschluss in unserem kreisweiten Schienensystem konnte die entscheidende Grundlage für einen leistungsfähigen ÖPNV geschaffen werden.

Dass ich auch dabei wie immer ohne sprachliche Verschleierungen und mit „offenem Visier“ gehandelt und „gekämpft“ habe, wurde mir sogar von meinen politischen Konkurrenten anerkennend bestätigt. So sagte z. B. ein Bürgermeister der CDU nach dem Ende einer Bürgermeister-Dienstversammlung: „Herr Lach, bei Ihnen weiß man immer, woran man ist und dass man sich auf ihre Zusagen auch verlassen kann“.

Von Zuhören bei meinen Reden konnte ich in anschließenden Gesprächen ähnlich Bemerkungen hören, wie z. B.: „Bei ihren Reden hat man immer den Eindruck, dass sie das, was sie sagen, auch wirklich meinen“.

Und ein Wirtschafts- und Organisationsberater für Krankenhäuser schrieb mir: “Auch möchte ich nicht verhehlen, dass durch die Zusammenarbeit mit Ihnen mein eher negatives, durch Medien geprägtes Bild über Politik und Politiker ins Wanken geraten ist. In Ihnen habe ich einen verantwortungsvollen Sachwalter für Bürgerinteressen kennen gelernt, der mich veranlasst hat, grundsätzlich wieder positiver über diese Dinge zu denken.“

SB: Ihr Landratsamt fiel in eine Zeit, als nach der politischen Wende viele Spätaussiedler nach Deutschland gekommen sind, sei es aus Rumänien oder aus Polen oder den GUS-Staaten – wie haben Sie diese Entwicklung als Landrat erlebt/wahrgenommen?

 JL: Bei der Unterbringung und Integration der Spätaussiedler aus den osteuropäischen Staaten gab es eine gute Zusammenarbeit des Kreises mit den Städten und Gemeinden. Sowohl der Kreis als auch einige Gemeinden stellten Gebäude als Übergangswohnheime zur Verfügung, für deren Belegung die Kreisverwaltung zuständig war. Im Bildungsbereich – vor allem zur Sprachförderung – gab es zahlreiche Angebote der Kreis-Volkshochschule. Die Betreuung im Sozialbereich und bei alltäglichen Problemen in der neuen Heimat wurde sowohl von angestellten Sozialarbeitern als auch von vielen ehrenamtlichen Betreuungskräften sozialer und kirchlicher Institutionen wahrgenommen. So betreute meine Frau die Aussiedler in Nieder-Roden im kirchlichen Auftrag zehn Jahre lang in allen Lebenslagen. Nach Schließung des Übergangswohnheimes leitete meine Frau bis ins Jahr 2020 auch eine Gymnastikgruppe für ältere Aussiedlerfrauen und einheimische Frauen. Mit vielen dieser Frauen besteht noch heute ein enger Kontakt.

SB: Seit der Pensionierung engagieren Sie sich im NABU und als Ortshistoriker – es sind ja grundverschiedene Bereiche, dennoch zeugen sie von zivilgesellschaftlichem Engagement – welche Rolle spielen diese Bemühungen heute, in einer immer komplexeren Welt?

 JL: Nach dem Ende meiner beruflichen Laufbahn hatte ich zum ersten Mal genügend Zeit, mich mit den Fragen zu beschäftigen, die mich schon immer besonders interessierten. Deshalb hatte ich die Idee, mich intensiver mit dem Natur- und Umweltschutz auseinanderzusetzen – und dem damit in Zusammenhang stehenden Klimawandel. Um mir ein besseres Faktenwissen für diese Zusammenhänge zu erarbeiten und diese in meiner nun aktiven Mitarbeit im NABU-Vorstand Rodgau interessierten Bürgern weiterzuvermitteln, hatte ich die Idee, Ökologie zu studieren. Da es diesen Studiengang damals aber weder an der TH Darmstadt noch an der Universität in Frankfurt gab, entschloss ich mich, in Frankfurt Geographie mit den Prüfungs-Nebenfächern Biologie und Bodenkunde zu studieren, und im Jahr 2004 schloss ich dieses Studium nach zwölf Semestern mit der Diplomprüfung ab.

Für die Zulassung zur Diplomprüfung musste ich beim Prüfungsamt der Universität Frankfurt als Nachweis meiner Fähigkeit zu selbstständiger kartografischer Arbeit eine Diplomkarte mit selbstgewähltem Thema einreichen. Als Thema wählte ich „Die Siedlungsentwicklung Nieder-Rodens von 1945 – 2002“.

Als der damalige Vorsitzende des Arbeitskreises für Heimatkunde Nieder-Roden davon erfuhr, fragte er mich, ob ich auf dieser Grundlage eine Ausstellung über die Siedlungsentwicklung Nieder-Rodens seit 1945 erarbeiten könnte. Nach Abschluss meiner Diplomprüfung im Sommer 2004 stellte ich auf 24 Schautafeln durch Prospektmaterial, Bild- und Zeitungsdokumente sowie Texthinweise die Inhalte dieser abstrakten Diplomkarte anschaulich dar. Die Sonderausstellung des Arbeitskreises im wurde Oktober 2004 im Sozialzentrum Nieder-Roden gezeigt. Da ich bei dem sehr guten Besuch dieser Ausstellung und auch danach immer wieder gefragt wurde, ob es kein Material zum Mitnehmen gebe, entschloss ich mich, ein Buch mit dem Titel „Fünf Dörfer – eine Stadt: Rodgau“ über die Siedlungsentwicklung der fünf ehemals selbstständigen Dörfer im Rodgau zu schreiben. Dieses Buch wurde im Jahr 2011 herausgegeben.

Im NABU Rodgau arbeitete ich seit dem Jahr 2000 aktiv im Vorstand mit und war von 2009 bis zu meinem 80. Geburtstag im Jahr 2019 Erster Vorsitzender. In dieser Zeit habe ich zahlreiche Führungen geleitet – vor allem in der Rodgauer Gemarkung. Immer wieder habe ich versucht, den Teilnehmern möglichst viele wichtige Informationen zum Verständnis der oft komplexen ökologischen Zusammenhänge in der Natur zu vermitteln und auch Freude dabei zu empfinden. In diesem Sinne habe ich auch versucht, die Festschrift zum 60-järigen NABU-Jubiläum im Jahr 2018 mit dem Titel „Schönheiten der Natur in Rodgau“ zu gestalten. 

SB: Sie haben von den 85 Jahren 78 in der Bundesrepublik verbracht – als was sehen Sie sich? Burjader, Deutscher aus Ungarn, Bundesdeutscher oder Europäer?

 JL: Ich sehe mich als einen europäischen Bundesdeutschen.

SB: Herr Lach, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Richard Guth.

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