Großinterview mit dem deutschen Landrat a. D. donauschwäbischer Herkunft Josef Lach (85) aus Rodgau
Im ersten Teil des Interviews berichtet Josef Lach über Flucht und Vertreibung der Familie sowie die Heimischwerdung in der Donausiedlung Darmstadt. Teil 2 folgt in der Osterausgabe (SB 02/2025).
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SB: Sie sind im August 1939 in Burjad/Borjád geboren und mit sieben Jahren nach Hessen vertrieben worden – welche Erinnerungen haben Sie noch an das Burjad Ihrer Kindheit? Haben Sie ab den 1960ern die alte Heimat – wie viele andere Vertriebene – auch besucht?
JL: Ich habe nur wenige Erinnerungen an meine Kindheit in Borjád, die sich ausschließlich auf das Leben in unserem Bauernhof mit seinen schönen Spielmöglichkeiten für uns Kinder beschränken. Denn bereits im Herbst 1944 war unsere Heimat, die Süd-Branau, zum Kriegsschauplatz geworden, nachdem die sowjetische Armee bei Mohatsch die Donau überschritten hatte und immer weiter in Richtung Fünfkirchen nach Westen vorrückte.
Da von den Volksbund-Funktionären sehr massiv für eine freiwillige Evakuierung geworben wurde, machte sich unsere damals 23-jährige Mutter mit ihren 3 Kindern, unserer Großmutter und unserem Urgroßvater auf die Reise ins Ungewisse. Wir machten uns mit einigen Nachbarn und Freunden mit den vom Volksbund der Deutschen organisierten Pferdewagen auf den Weg in unser Nachbardorf Deutschbohl/Német-Bóly, wo ein Güterzug für fluchtwillige Schwabenfamilien aus den umliegenden Dörfern bereitstand.
Die Fahrt ging zunächst Richtung Budapest und dann weiter nach Pressburg. Von dort allerdings nicht weiter nach Westen, sondern in Richtung Breslau. Nach einigen Tagen kamen wir schließlich in der Kleinstadt Reichenbach (heute Dzierzoniów, Polen) in Niederschlesien an und wurden auf einem großen Gutshof mitten in einer verschneiten Ebene einquartiert.
In den nächsten Tagen trafen immer mehr Flüchtlinge auf Pferdewagen auf dem Gutshof ein. Die Kreisleitung der NSDAP erließ deshalb einen Evakuierungsbefehl an alle deutschen Bewohner für das Gebiet um Reichenbach. Unsere Mutter weigerte sich, mitten im Winter mit uns Kindern auf Pferdewagen ins Ungewisse zu flüchten, sie war nur bereit mit einem Zug zu fliehen.
Da die Angehörigen der Kreisleitung mit Personenwagen flüchteten, beschlossen sie, uns bis zur nächsten Bahnstation mitzunehmen. Spät abends wurden wir dann auf einem kleinen Bahnhof mitten auf dem Land ausgeladen. Der Bahnhof war überfüllt von Menschen, die auf einen Zug nach Westen warteten. Wir verbrachten mit unserer Mutter eine schlimme Nacht im Wartesaal, zu dem nur Mütter mit kleinen Kindern Zutritt hatten. Da es keine freien Sitzplätze gab, mussten wir die ganze Nacht im Stehen verbringen und unsere Großeltern standen in der Eiseskälte draußen auf dem Bahnsteig bei unserem Gepäck.
Als am frühen Morgen der erste Zug einfuhr, war er binnen Minuten überfüllt. Wir standen lange auf dem Bahnsteig, bis ein beherzter Beamter einfach einige anstürmende Erwachsene zurückdrängte und unsere Mutter mit uns Kindern in einen der einfahrenden Züge schob. Unsere Großmutter schaffte es gerade noch, auf die Plattform zwischen zwei Waggons zu kommen. Unser Urgroßvater stand mit unserem Gepäck auf dem Bahnsteig und konnte uns nur noch zurufen: „Ich komme mit dem nächsten Zug nach“. Nach einer längeren Fahrt kamen wir am Abend auf einem großen Bahnhof an. Die Nacht konnten wir in einer schönen Stadtwohnung verbringen, weil eine junge Frau uns spontan mit nach Hause genommen hatte. Und tatsächlich, als wir am nächsten Morgen zum Bahnhof kamen, stand unser Urgroßvater dort mit all unseren Sachen.
Wir wurden weiter nach Westen transportiert und kamen schließlich in Kaaden im Sudetenland an, wo wir mehrere Wochen in einem Flüchtlingslager untergebracht waren, bis uns schließlich eine Unterkunft in einem Gasthaus im Nachbarort Wernsdorf zugewiesen wurde. Wir lebten dort in einem ehemaligen Tanz-Saal unter dem Dach, der noch wenige Tage zuvor von deutschen Soldaten belegt war. Die Wirtsleute betrieben noch eine kleine Landwirtschaft. Urgroßvater half im Stall aus und Großmutter oft draußen auf dem Feld, was recht gefährlich war, weil der Luftkrieg der Alliierten noch tobte und die Tiefflieger auf alles schossen, was sich unter ihnen bewegte.
Plötzlich waren die Russen da und die Atmosphäre änderte sich von einem Tag zum anderen. Unsere Mutter hatte schnell begriffen, in welcher Gefahr wir uns jetzt als deutsche Flüchtlinge in Wernsdorf befanden. Wir mussten uns so schnell wie möglich auf den Weg in unsere Heimat Ungarn machen.
Beim Einmarsch der Russen waren die Beamten und Angestellten der Gemeindeverwaltung mit den abziehenden deutschen Truppen geflohen. Im Gemeindeamt in Wernsdorf war nur noch eine Gemeindesekretärin anwesend. Von dieser erhielten wir ein offizielles Papier des Gemeindeamtes, das uns und weitere Familien im Nachbardorf als verschleppte Ungarn auswies, die bei ihrer Rückführung nach Ungarn zu unterstützen seien. Damit gelang es, dass für uns auf dem Bahnhof in Kaaden zwei leere Güterwagen zur Verfügung gestellt wurden, die an einen Zug in Richtung Slowakei angekoppelt wurden.
Zunächst ging die Fahrt gut voran. Auf manchen Bahnhöfen wurden wir sogar aufgrund unseres vermeintlich gültigen Papiers mit warmem Essen versorgt. Unsere Güterwagen wurden aber immer öfter vom Zug abgekoppelt und auf einem Nebengleis abgestellt. Die Wartezeiten bis zur Weiterfahrt verlängerten sich und einmal standen wir mehrere Tage außerhalb eines Bahnhofs allein auf weiter Flur.
Als wir endlich nach mehreren Wochen in Pressburg ankamen, waren unsere Lebensmittel fast völlig aufgebraucht. Unser Urgroßvater ging deshalb jeden Tag, manchmal mit mir an der Hand, in die umliegenden Dörfer, um bei den Bauern zu betteln. Auch Mutters und Großmutters Sonntagstrachten, die sie auf die Flucht mitgenommen hatten, wurden gegen Lebensmittel getauscht.
Endlich, nach mehreren Tagen ging es wieder weiter. Als wir in Fünfkirchen angekommen waren, durften wir aber nicht aussteigen, um zu der dort lebenden Schwester meines Vaters zu gehen, sondern wir wurden mit dem Zug nach Willand/Villány gebracht – und dort in ein Flüchtlingslager im Freien am Ende des Dorfes. Als ein plötzlicher starker Regenschauer niederprasselte, flüchteten wir in die leeren überdachten Pferdeboxen an der Wand eines Stalles, die für eine Woche unsere Unterkunft blieben. Da unsere Lebensmittel fast verbraucht waren, wurden wir von Familien mitversorgt, die noch einige Vorräte besaßen.
Erst als sich unsere Mutter bei der Lagerleitung beschwerte, dass sich niemand um uns kümmerte, bekamen wir aus der Offiziersmesse warmes Essen. Und drei Tage später brachten uns zwei Polizisten zum Bahnhof in Willand und übergaben uns am Bahnhof in Deutschbohl an zwei Hilfspolizisten, die uns auf einem Pferdewagen in unser Heimatdorf Burjad transportierten. Dort angekommen mussten wir feststellen, dass wir nicht wieder in unser Haus einziehen konnten, da aus Rumänien vertriebene Ungarn (Madjaren, Red.) darin wohnten, weil die geflüchteten Schwaben sofort nach Ende des Krieges ohne rechtliche Grundlagen enteignet worden waren. Deshalb nahmen uns zunächst unsere ehemaligen Nachbarn spontan in ihr Haus auf. Schließlich erhielten wir nach harten Verhandlungen die Erlaubnis, in unserem Bauernhaus ein einzelnes Zimmer, das von außen zugänglich war, mit sechs Personen zu beziehen.
Deshalb brachte unsere Mutter meine ältere Schwester zu der Schwägerin unserer Großmutter in Seektschi/Kaposszekcső und mich zu meiner Tante in Fünfkirchen, die mit ihrer Mutter allein in einem schönen Stadthaus lebte, da ihr Mann als ungarischer Berufssoldat nach Kriegsende interniert war. Beide Frauen sprachen perfekt Deutsch und Ungarisch und versuchten, auch mir die ungarische Sprache möglichst rasch beizubringen. Das war auch sehr sinnvoll, denn im August wurde ich sechs Jahre alt und damit schulpflichtig. Und obwohl meine Tante die Lehrerin darauf hinwies, dass der kleine Schwabenjunge noch nicht gut Ungarisch konnte, musste ich am Anfang allein in der ersten Bank sitzen, der sog. „Eselsbank“. Ich empfand das aber nicht als Diskriminierung, sondern als Ansporn, möglichst schnell Ungarisch zu lernen. Da mir dies mit Hilfe meiner Tante auch gut gelang, durfte ich diese Bank schon nach wenigen Wochen verlassen, und in meinem Halbjahreszeugnis hatte ich trotz der anfänglichen Sprachschwierigkeiten nur die beiden besten Noten des fünfstufigen Notensystems, nämlich „kitűnő“ (ausgezeichnet) und „jeles” (sehr gut).
Ich hatte also eine schöne Zeit bei meiner Tante in Fünfkirchen – mit bester fürsorglicher Betreuung, aber auch Phasen der Traurigkeit, weil ich gelegentlich meine Geschwister, meine Mutter und meine Großeltern vermisste. Zu Ungarn und insbesondere zu Fünfkirchen habe ich aber auch heute noch eine starke emotionale Beziehung. Das ist letztlich auch darin begründet, dass die meisten unserer Verwandten nicht vertrieben wurden und einige noch in Ungarn leben. Seit 1964 besuchten wir sie fast regelmäßig in den Sommerferien und verbanden dies mit unserem Urlaub am Plattensee und später in Harkány, wo wir schließlich eine Ferienwohnung kauften. Diese nutzten wir auch mit der ganzen Familie regelmäßig, nicht nur weil wir uns dort gut erholen konnten, sondern uns auch heimisch fühlten. Aus Altersgründen haben wir sie im vorigen Jahr verkauft.
SB: Wie gestaltete sich die Integration in der neuen Heimat Hessen – mit welchen Herausforderungen haben Sie und Ihre Familie kämpfen müssen?
JL: Wir wurden, wie die meisten Burjader, im heutigen Rheingau-Taunus-Kreis in Hessen angesiedelt. Nachdem der Zug am 28. Juni 1946 in Bad Schwalbach im Taunus angekommen war, wurden wir mit bereitstehenden amerikanischen Militärfahrzeugen in verschiedene Lager gebracht. Wir kamen in ein Barackenlager neben einer Fabrik in Kettenbach. Von dort wurden wir nach etwa 3 Wochen in das kleine Bauerndorf Strinz-Margarethä transportiert, wo wir bei einem Bauern ein Zimmer mit ungefähr 16 m² für die ganze Familie mit sechs Personen zugewiesen bekamen. Nach einigen Wochen wurde uns noch eine winzige Kammer zur Verfügung gestellt, in die nur ein Bett passte, in dem Urgroßvater schlafen konnte.
Wir lebten dort in sehr ärmlichen Verhältnissen von den durch Lebensmittelmarken zugewiesenen Grundnahrungsmitteln und dem geringen Zuverdienst, den Mutter und Großmutter durch Feldarbeit bei den Bauern und unser Urgroßvater durch Korbflechten erwarben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Urgroßvater am Dorfbach die Korbweiden schnitt, sie fachmännisch zubereitete und sehr schöne und stabile Körbe flocht, die er auch in den Nachbardörfern zum Kauf oder auch zum Tausch gegen Lebensmittel anbot. Auch die Erträge eines kleinen Stückes sehr steinigen Feldes, das vor allem unsere Großmutter sehr mühselig in einen Garten umgewandelt hatte, und das Sammeln von Bucheckern, Brombeeren und Himbeeren im Wald sowie von Ähren und Kartoffeln auf abgeernteten Feldern, trugen zu unserem Lebensunterhalt bei.
Wirtschaftlich besser ging es uns erst, nachdem unser Vater nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft und seiner Flucht aus Ungarn im Oktober 1948 zu uns gelangt war. Er hatte bald in Wiesbaden eine Arbeitsstelle als Bauhilfsarbeiter gefunden und hörte dort von einem anderen Ungarndeutschen, dass in Darmstadt eine Siedlung für evangelische Ungarndeutsche gebaut werden sollte. Meine Eltern fuhren nur wenige Tage später nach Darmstadt, um sich genauer über das Vorhaben zu informieren. Sie erfuhren dort, dass am 4. April 1949 in den Baracken des Evangelischen Hilfswerkes in der Rheinstraße 124 eine Gründungsversammlung mit interessierten Bewerbern stattfinden sollte. Sie entschlossen sich spontan, sich als Siedler zu bewerben und Vater machte sich sogleich auf die Suche nach einem Arbeitsplatz in Darmstadt. Er fand auch sehr schnell eine Stelle als Hilfsarbeiter bei einer Baufirma, wo er am 9. April die Arbeit aufnahm, nachdem er eine Schlafstelle in den Baracken des Evangelischen Hilfswerkes erhalten hatte. Mutter folgte ihm 14 Tage später und Großmutter und Urgroßvater blieben mit uns Kindern bis zum Schuljahresende im April in Strinz-Margarethä. Anfang Mai zogen wir dann mit unseren wenigen Habseligkeiten auf einem offenen Holzvergaser-Lastwagen in das Barackenlager nach Darmstadt um. Dort mussten wir uns mit einer weiteren Familie ein Zimmer teilen, bevor wir in einer anderen Baracke ein in der Größe einigermaßen angemessenes Zimmer und eine kleine Kammer zugewiesen bekamen.
Mit den Problemen – vor allem der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit der großen Zahl der Vertriebenen und Flüchtlinge – befassten sich nicht nur Regierungs- und Verwaltungsstellen, sondern auch Hilfsorganisationen wie z.B. das Evangelische Hilfswerk. Es gründete das „Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus Ungarn“, das sich zum Ziel gesetzt hatte, für die in den verschiedenen Regionen der amerikanischen Besatzungszone zerstreuten evangelischen Ungarndeutschen – durch die Gründung landsmannschaftlich orientierter Siedlungen – eine neue Heimat zu schaffen. Die Leitung des Hilfskomitees in Hessen hatte Frau Dr. Irma Steinsch inne, die nach Abschluss ihres Studiums als Universitätsassistentin in Budapest gearbeitet und dort im Jahr 1942 ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Die Ansiedlungen der privaten Grundherrschaften in der ʹSchwäbischen Türkeiʹ in Ungarn im 18. Jahrhundert“ verfasst hatte. Im Jahr 1948 fing sie an, die ungarndeutschen Vertriebenen durch Aufrufe, Bekanntmachungen und Treffen auf die geplante Unternehmung aufmerksam zu machen.
Die entscheidende Hilfe für die Realisierung des Projektes zur Errichtung einer Siedlung für Ungarndeutsche kam von dem damaligen Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt Ludwig Metzger. Dieser hatte als einer der ersten erkannt, dass die Vertriebenen auch wesentlich zum Wiederaufbau der zerstörten Stadt beitragen könnten, wenn sie Arbeitsplätze fänden und ihnen die Schaffung eigenen Wohnraumes ermöglicht würde. Er sorgte dafür, dass das notwendige Bauland zur Verfügung gestellt wurde und mit Hilfe des Lutherischen Weltbundes eine finanzielle Starthilfe zur Beschaffung des ersten Baumaterials erfolgte. Die Erwartung von städtischer Seite, dass sich die neuen Siedler auch am Wiederaufbau der weitgehend zerstörten Stadt beteiligen, wurde in einem Vertrag zwischen der Stadt Darmstadt und der Siedlungsgenossenschaft durch folgenden Satz fixiert: „Die Genossenschaft ist verpflichtet und die Stadt berechtigt, ihre Siedler, soweit sie nicht durch den Aufbau der Siedlung beansprucht werden, für den Wiederaufbau der Stadt – selbstverständlich im freien Arbeitsverhältnis – einzusetzen“.
Am 19. April 1949 wurde in einer Versammlung im Gemeinschaftsraum des Barackenlagers des Evangelischen Hilfswerkes die „Ungarische Bau- und Siedlungsgenossenschaft eGmbH Darmstadt“ gegründet. Bevor die Bauarbeiten begonnen werden konnten, musste erst der Wald von den Siedlern gerodet werden. Die Baumstämme gehörten der Stadt und nur die Äste und Baumstümpfe durften die Siedler behalten. Als die Rodungsarbeit erledigt war, erfolgte am 25. April 1949 der erste Spatenstich. Und sofort danach wurden in gemeinschaftlicher reiner Handarbeit, ohne maschinelle Unterstützung, die ersten Baugruben ausgehoben. Die Bautätigkeit erfolgte abschnittweise. Zunächst wurden gemeinsam vier Baugruben ausgehoben. Während dann einige Bauarbeiter mit der Errichtung der Keller und der Obergeschosse begannen, wurden von den anderen Siedlern gleichzeitig vier weitere Gruben ausgehoben und so weiter. So wurden laufend Werte erstellt, die zur Finanzierung durch Kredite wieder beliehen werden konnten. Die Finanzierung des ersten Bauabschnittes mit 38 Wohneinheiten in 19 Doppelhäusern erfolgte durch die Bau- und Bodenbank. Bei den späteren Bauabschnitten kamen noch viele andere Geldinstitute dazu. Das Kapital der Siedler war ihre Arbeitskraft. Alle Rohbau- und Innenarbeiten, mit Ausnahme der Schreiner- und Elektroarbeiten, wurden in hervorragend organisierter Selbsthilfe von den Siedlern geleistet, so dass die Arbeitskosten sehr gering gehalten werden konnten.
Mit der Einweihung und Verlosung der 19 Doppelhäuser des ersten Bauabschnittes im Oktober 1950 erhielt die Siedlung auch ihren Namen Donausiedlung. Beim Festakt der Übergabe der Häuser sagte OB Metzger u. a.: „Das Fest in der Donausiedlung ist auch für ganz Darmstadt ein Tag Freude. Sie sind nicht hergekommen als Bettler, sondern sie haben zugegriffen und sie dürfen stolz darauf sein, dass sie Darmstadt aufbauen halfen.“ Bis in die 1960er Jahre folgten weitere Bauabschnitte unterschiedlicher Größe.
Mit dem Einzug in die neuen Häuser war zwar für die damaligen Verhältnisse eine komfortable Wohnsituation entstanden, aber es war offensichtlich ein Bedürfnis vorhanden, möglichst rasch eine Dorfgemeinschaft zu entwickeln. Dazu bedurfte es aber einer Möglichkeit, sich zu treffen. Dies ermöglichten meine Eltern, indem sie ein Zimmer im Erdgeschoss unseres Hauses zu einem Gastraum umfunktionierten, in dem meine Mutter den Getränkeverkauf weiterführte, den sie schon in der Notunterkunft des Evangelischen Hilfswerkes begonnen hatte. Nach der offiziellen Genehmigung des Ausschankbetriebes durch die städtischen Behörden, die mit der Errichtung einer separaten Toilettenanlage im Hof verbunden war, bestand also faktisch die erste Gastwirtschaft in der Siedlung, die zwar sehr bescheiden, aber die erste wichtige Infrastruktur-Einrichtung war.
Unter den Siedlern, die in ihrer neuen Heimat wieder eigene Häuser besaßen, war offensichtlich das Bedürfnis vorhanden, hier möglichst rasch wieder eine Dorfgemeinschaft zu entwickeln. So wurde bereits 1951, am ersten Sonntag im September, das erste Kirchweihfest („die Kerb“) in einem Zelt gefeiert, das meine Eltern vor unserem Siedlungshaus aufgebaut hatten.
Da mein Vater im Betrieb einer Gastwirtschaft eine bessere berufliche Perspektive als im Maurerhandwerk sah, entschlossen sich meine Eltern, den Bau einer Gastwirtschaft auf dem hierfür vorgesehenen Siedlungsgelände zu beantragen. Nachdem ihnen das im Rahmen eines auf 99 Jahre festgelegten Erbbaurechtsvertrages zur Verfügung gestellt worden war, begann mein Vater bereits im September 1952 mit dem Bau der Gastwirtschaft. Er war fest entschlossen, den Großteil der Erd- und Maurerarbeiten, selbst zu leisten, da er sich inzwischen die handwerklichen Fähigkeiten erworben hatte. Er hatte sich ausgerechnet, dass er nur so die finanzielle Belastung in einem tragbaren Rahmen halten könne. Trotz der von manchen Siedlern geäußerten Skepsis, ging er mit dem ihm eigenen Elan an die Arbeit. Obwohl er nur einen Hilfsarbeiter als ständigen Helfer hatte und meine Mutter und ich – mit meinen 13 Jahren – manchmal als Handlanger mithelfen mussten, konnte er tatsächlich in knapp sechs Monaten den Keller und das Erdgeschoss soweit fertigstellen, dass am 13. Februar 1953 die Gastwirtschaft mit dem Namen „Zur Stadt Budapest“ in Betrieb genommen werden konnte.
Da das Geschäft sich nicht zuletzt aufgrund der häufigen Besuche der amerikanischen Soldaten aus der nahegelegenen amerikanischen Kaserne recht gut entwickelte, kündigte mein Vater seinen Arbeitsvertrag bei der Baufirma, um den Ausbau des Obergeschosses forcieren zu können, sodass Ende des Jahres 1953 unsere ganze Familie in das neue Haus einziehen konnte. Um den weiteren Ausbau mit einem Tanzsaal (1954) und einer Kegelbahn (1972) finanzieren zu können, verkauften meine Eltern unser Siedlungshaus.
Die Gastwirtschaft entwickelte sich sehr rasch zu einem Kommunikationsmittelpunkt und kulturellen Zentrum der Donausiedlung. Der Saal war nicht nur der Ort vieler öffentlicher gesellschaftlicher Veranstaltungen und privater Feierlichkeiten, sondern auch Ort kultureller und sportlicher Aktivitäten. Er war u. a. auch Proberaum und Theatersaal für die Vorführungen der Theatergruppe des bereits 1951 von dem ungarndeutschen Lehrer Ernst Gori gegründeten Kulturvereins und in den Wintermonaten sogar Trainingsraum für die Fußballer des im Juni 1954 gegründeten Fußballvereins Rot-Weiß Darmstadt, der sich im Oktober des gleichen Jahres mit dem Kulturverein zum Sport- und Kulturverein zusammenschloss. Dieser SKV Rot-Weiß Darmstadt 1954 e. V. – dessen Gründungsvorsitzender mein Vater war und den er in den ersten 18 Jahren als Vorsitzender führte – war ein wichtiger Integrationsfaktor nicht nur für die ungarndeutschen Siedler der Donausiedlung, sondern weit darüber hinaus. Mein Vater hat vor allem in der Aufbauphase viel Zeit und Arbeit in diesen Verein investiert, der heute ein Großverein mit etwa 1 300 Mitgliedern aus allen Stadtteilen und Bevölkerungsschichten ist.
SB: Hatten Sie – hatte Ihre Familie – Verbindungen zu der Landsmannschaft der Deutschen in Ungarn Landesgruppe Hessen (auch in den späteren Jahren), deren Arbeit in der Anfangsphase von der umstrittenen Irma Steinsch maßgeblich beeinflusst wurde?
JL: An der Spitze des Genossenschafts-Aufsichtsrates stand bis 1954 Frau Dr. Irma Steinsch. In diesem Gremium war auch mein Vater einige Jahre Mitglied. Meines Wissens hatte er aber keine Verbindungen zu der Landsmannschaft der Deutschen in Ungarn.
Ende Teil 1