(August 2024) Der Weg führt an dem herausgeputzten Bohl vorbei in Richtung kroatischer Grenze. Die hügelige Landschaft ächzt an diesem Augusttag unter der sengenden Hitze, wobei es mit knapp 32 Grad im Vergleich zum Juli mit Temperaturen nahe 40 Grad vergleichsweise angenehm ist. Es ist Urlaubs- und Mittagszeit. Die Straßen sind so gut wie leergefegt. Die wenigen Passanten versuchen schnell den erlösenden Schatten ihrer Häuser zu erreichen. Auch in Tiedisch/Српски Титош/Töttös, der ersten Gemeinde auf meinem Weg durch die Dörfer der Landkreise Deutschbohl/Bóly und Sieglos/Siklós in der Südbranau!
Der Landstrich ist seit jeher von verschiedenen Nationalitäten bewohnt: Neben den lange dominierenden Deutschen mit unterschiedlichen Dialekten leben hier Madjaren, Roma und Serben – Letztere zwar nicht mehr in großer Zahl, dennoch zeugen die mächtigen orthodoxen Kirchen von der jahrhundertelangen Präsenz der Raitzen. Sie verließen Anfang der 1920er Jahre, nach der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen in großer Zahl ihre seit der Osmanenzeit angestammte Heimat. In Lippwar/Липовица/Lippó, der zweiten Gemeinde auf meiner Reise, stellten sie 1910 sogar ein Drittel der Bevölkerung (knapp zwei Drittel die Deutschen).
In Tiedisch beobachten die Alteingesessenen oder Menschen, die lange im Ort leben, hingegen eine ganz andere Entwicklung: die Niederlassung von deutschen Staatsbürgern. „Es sind an die 40 Familien mittlerweile. Dort in dem Haus wohnen Deutsche oder auch in dem da hinten”, erzählt eine Frau mittleren Alters. Dabei kommt es oft zur Verwechslung mit den alteingesessenen Donauschwaben, die so gar nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen scheinen. Ein älterer Herr weist auch auf die Präsenz der Bundesdeutschen hin und sagt, dass es jemand im Ort gebe, die Häuser an sie vermittle. Aber er, ein zugezogener Madjare aus einem Nachbarort, spricht auch von den Ungarndeutschen, die in der Ortsmitte durch einen Ausstellungsraum und ein Begegnungszentrum durchaus präsent seien. Dennoch sei die Lage ähnlich wie in anderen Dörfern der Gemeinschaft: Durch den Wegzug der Jüngeren und das Aussterben der Alten verschwinde der Dialekt immer mehr aus dem Alltag. Dies gelte auch für die ein-zwei älteren Serben, die noch im Ort lebten. Viele seien im Laufe der Zeit zugezogen. Er sieht die Lage in der Region und im Land sehr pessimistisch und wünscht sich politische Veränderungen. Eine Frau, die ihr Fahrrad vor sich herschiebt, spricht auch von den Deutschen, die alles aufkaufen würden, und von der Schwierigkeit, ohne Auto eine gescheite Arbeit zu finden: ”Die Familien, die hier wohnen, haben zwei-drei Autos, um zur Arbeit pendeln zu können. Der öffentliche Verkehr ist eine Katastrophe”, so die Madjarin mittleren Alters. Bezüglich der Bundesdeutschen berichtet sie auch von gegenläufigen Tendenzen: Ein Deutscher aus dem Ort sei wieder nach Deutschland gezogen, weil man hier – nach dem Eindruck des Mannes – von dem Verdienst nicht leben könne. Seinem Beispiel folgten in den vergangenen Jahren viele Ortsansässige, die oft alles hinterlassen hätten, das erzählt mir ein junger Mann im Nachbarort Lippwar.
Lippwar macht einen gemischten Eindruck: Es wechseln sich aufgeräumte und weniger aufgeräumte Höfe mit verlassenen Häusern ab. „Wir haben eine Krippe, einen Kindergarten, einen Laden, der auch als Postpartner dient, einen Pfarrer und eine Grundschule mit acht Jahrgängen – eigentlich unser ganzer Stolz”, so der junge Mann deutscher Nationalität, wie er selbstbewusst verkündet. Die Schule mit ihren etwa 100 Schülern besuchen nach seinen Angaben Kinder aus der ganzen Umgebung. Dass die Erhaltung der Grundschule mit Primar- und Oberstufe (Sekundarstufe I) ein Drahtseilakt sei und dass es an jungen Familien mangele, zeige die Tatsache, dass die kommende erste Klasse mit der zweiten zusammen unterrichtet werde. Den Ort beschreibt er als ethnisch gemischt: Neben den wenigen Serben, die sich meist zu ihren kirchlichen Festen versammeln würden, würden hier Deutsche, Madjaren und Roma leben (zu diesen habe man einen sehr guten Kontakt) – und Ausländer (hier fängt er an aufzuzählen). Nach seinem Eindruck zögen nicht immer gutgestellte Deutsche nach Lippwar, was manche positiven Vorurteile widerlegen würden. Auch um Integration würden sich die Neubürger – vornehmlich Rentner – wenig bemühen. „Wir Schwaben sind die größte Gruppe, aber erreichen nicht mehr die 50 %”, so der junge Mann. Auch der Dialekt verschwinde mit dem Aussterben der Alten, als junger Mensch spreche man dann eher Hochdeutsch. Was die Arbeitsmöglichkeiten angeht, sieht er die Situation positiv: Arbeit gebe es genug, vor allem in der Landwirtschaft rund um Lippwar, Mohatsch und Deutschbohl. Trotzdem räumt er ein, dass etliche den Ort verlassen hätten – oft gen Westeuropa. Auch um das Gemeinschaftsleben werde viel getan und er fängt an die Feste im Jahreskreis aufzuzählen.
Über Lipowitz/Lipovica/Kislippó führt mein Weg nach Ungarischbohl/Мађарбоја/ Magyarbóly, das ein ähnlich vielseitiges Ortsbild präsentiert wie Tiedisch und Lippwar. Trotz dem Namenszusatz „Ungarisch” lebten im Ort bis Mitte des 20. Jahrhunderts zwar auch Madjaren, dennoch stellten die Deutschen fast 60 % der Bevölkerung: Interessant dabei ist die Tatsache, dass es sich um eine Siedlung handelt, die vornehmlich im Zuge der Sekundärkolonisation deutsch besiedelt wurde. Zwischen 1803 und 1830 kamen evangelische Deutsche aus der Tolnau (um 1790 auch katholische Deutsche). Die Serben hatten sich gut ein Jahrhundert früher im Ort angesiedelt, der lange ein serbisches Lehnsgut war. Ich halte am Friedhof, der, wie es sich gleich herausstellt, aus vier Teilen besteht: aus dem ethnisch, religiös gemischten Gemeindefriedhof, einem katholischen, serbisch-orthodoxen und einem reformiert-calvinistischen Friedhof (letzterer etwas versteckt im hinteren Teil des Areals). Die meisten Grabmäler sind ungarischsprachig, die älteren deutschen hingegen oft deutschsprachig, die Aufschriften sind nicht immer zu entziffern. Allein bei den serbisch-orthodoxen Grabmälern sieht man ein Festhalten an der serbischen Sprache (mit kyrillischer Schrift) bis heute. Meine erste Ansprechpartnerin, eine junge Renterin, bestätigt die Anwesenheit von wenigen Serben und Deutschen, wobei der Ort mehrheitlich madjarisch sei. Sie berichtet von einem verstärkten Zuzug von Menschen, man bekomme kein Haus mehr im Ort. Wie sie herkommen, kann sie mir nicht beantworten. Aber auch andere Neubürger habe der Ort seit kurzem: temporär beschäftigte Gastarbeiter (so die offizielle Bezeichnung) von den Philippinen, die in der Viehwirtschaft arbeiten würden, um wohl den Arbeitskräftemangel zu lindern. Auch nach ihrem Eindruck gäbe es genug Arbeit. Dennoch erzählt sie von Menschen, die wiederum ihr Glück woanders suchen würden, bei gleichzeitigem Zuzug von neuen Bürgern.
„Es gibt hier kaum Arbeit”, das sagt dagegen die Angestellte in einem Laden und übergibt das Wort an eine ältere Frau, als ich sie nach den Nationalitätenverhältnissen frage: Serben können die beiden etliche aufzählen, bei den Deutschen wird es schwieriger, obwohl die Frau einen ungarndeutschen Vater hatte, der noch die Mundart beherrschte. Was geblieben ist, sei die Liebe für die deutsche Musik. Auch heute noch lausche sie fleißig den Klängen der Schrammelmusik.