Erinnerungen eines Heimatvertriebenen aus Wudersch
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Bearbeitet von Martin Szanyi
Diese Zeilen geben Einblick in das Leben eines Mannes, der die Wechselfälle des 20. Jahrhunderts miterlebt hat. Es ist interessant zu beobachten, wie sich Kindheitserinnerungen mit rückblickenden Momenten des Erwachsenwerdens vermischen. Geschichte nicht aus der Vogelperspektive, sondern Momente der Selbstfindung oder eben auf dem Fußballplatz! Diese Ausschnitte aus seinem Leben sind wie ein Fenster in eine Vergangenheit.
Es geht um Auszüge aus den Erinnerungen des aus Wudersch/Budaörs stammenden Industriekaufmanns Norbert Riedl, der in Neuhausen auf den Fildern heimisch wurde. Der Name Riedl dürfte vielen von uns wohlklingen, hatte sich der Heimatforscher Dr. Franz Riedl, der Vater von Norbert, doch um die Heimatforschung und die Pflege der Kontakte – also um die Heimatverbliebenen insgesamt – ebenso verdient gemacht.
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Der „geistige Spaziergang“ geht weiter. Der Wuderscher, der sich in Neuhausen in Deutschland niedergelassen hat, baut sein Leben auf. Dieser Teil erzählt, wie er die wichtigsten Dinge in seinem Leben (wieder)gefunden hat.
Montag, der 1. Mai 1950
Schon um 6.00 Uhr in der Früh schnappte ich meine Ziehharmonika „Hess Klingenthal“ und weckte meinen Freund Walter. Überall grünte und blühte es. Spontan kam mir das Musical „My fair lady” in den Sinn: Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn”. Wir sind zwar nicht in Spanien, sondern in Neuhausen und Umgebung. Hier verbreiten die ausgedehnten Frühlingswiesen eine Naturpracht besonderer Schöpfung mit berauschenden Blütendüften.
Die Bäume standen dort in ihrem schönsten Blütengedicht. Alles war friedlich. Die Apfelblüten in Rot und Rosa entfachten mit dem Weiß der Birnenblüten den reinsten Naturfarbaustausch oder sogar Wettbewerb. Und immer wieder spielte ich den Kuckuckswalzer auf meinem kleinen Akkordeon. In Wolfschlugen, wo die „Hexenbanner” wohnen, beendeten wir unseren 1. Mai-Ausflug mit einer kleinen Einkehr mit Limonade. Meine Eltern freuten sich sehr, dass ich so musikalisch war und dass ich so fleißig mit meinem Schifferklavier spielte. Und zu meiner großen Freude kauften sie mir ein Akkordeon HOHNER VERDI IA. Der stolze Preis DM 320,00. Da hieß es natürlich noch fleißiger zu üben, und Otto Altenburger lehrte mich, auch nach Noten zu musizieren.
In dieser Zeit war es sehr schwierig, eine Lehrstelle zu bekommen. In der Beratungsstelle des Arbeitsamtes in Stuttgart hieß es für mich: „Hände weg vom Kaufmann!” Man gab mir zwar zwei Adressen zur Vorstellung, aber ich durfte den Firmen nicht sagen, dass ich vom Arbeitsamt komme. Im krassen Gegensatz zu dieser Aussage habe ich dann im Jahre 1955 meinen Industriekaufmann mündlich und schriftlich mit „sehr gut” abgeschlossen! Davon später mehr! In der Übergangszeit arbeitete ich von Anfang September bis Ende Dezember 1950 bei der Firma EBERSPACHER in Esslingen-Oberesslingen. Halb Auszubildender, halb Laufbursche war ich in der “Blechabteilung” in der Stanzerei, Zuschneiderei und im angeschlossenen Lager beschäftigt. Bemerkenswert hierzu: Mein Nebensitzer in der Georgii-Oberschule, Hans Eberspächer, wurde nach seinem Studium Geschäftsführer im Familienbetrieb I. Eberspächer. Weil ich zum Vesper öfters auch Paprika dabei hatte, wurde ich von einigen Arbeitskollegen auch „“Paprik” genannt. Und in dieser Zeit spielte ich zum ersten Mal in einem Verbandsspiel in der 1. Fußballmannschaft von Neuhausen ausgerechnet gegen Oberesslingen. Einer meiner Arbeitskameraden und Fan vom VfB Oberesslingen sagte zu mir, als er erfuhr, dass ich als Rechtsaußen aufgestellt war: „Mein lieber Paprik, da schießt ihr kein Tor!” Wir schossen vier Tore und gewannen am Sonntag, den 19.11.1950 in Oberesslingen mit 4:3!
Am Montag, den 5. Februar 1951 begann für mich auf Vermittlung von Herrn Karl Fahlbusch eine interessante Arbeit bei der „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft” in der Fabrik Stuttgart-Bad Cannstatt. Meine Aufgabe als „Sachbearbeiter” für die Hauspost und als „Laufbursche” bestand aus folgenden zu erledigenden Arbeiten: Verteilen der gesamten Hauspost von Abteilung zu Abteilung aller Büros und auch der technischen Abteilungen, also Werkstätten und Meisterstellen aller Fertigungshallen. Auch besorgte ich verschiedene Einkäufe mit dem Fahrrad, so z. B. die Medikamente für den Betriebssanitäter, Herrn Rettstatt.
Am Montag, den 16. April 1951 war für unsere Familie ein besonderer Tag: Einzug in unser Siedlungshaus in die Lenaustraße 5 in Neuhausen. In der „Fronackersiedlung” in Neuhausen begann für uns ein neuer Lebensabschnitt. Von der Württ. Landessiedlung GmbH Stuttgart, Weimarstraße 25 erwarben wir im Rahmen eines Kaufvertrags folgende Immobilie: Wohnhaus (Doppelhaushälfte) mit Hofraum, Schuppen, Gemüsegarten, Herd, 325 Quadratmeter Grundstück.
Schwabenball der Ungarndeutschen in der „Neuen Heimat” am Sonntag, den 10. Februar 1952 in der Stadthalle in Ludwigsburg. Die Ungarndeutsche Landsmannschaft in Württemberg-Baden e.V. organisierte den 1. Schwabenball nach dem Krieg in Deutschland. Der große Saal der Ludwigsburger Stadthalle bildete eine repräsentative Kulisse und war bis zum letzten Platz besetzt. Es strömten mehr als 2500 Landsleute und einheimische Freunde aus allen Gegenden herbei. Freudige Wiedersehens-Szenen spielten sich ab.
Die größte Freude bereiteten vor allem die 60 Trachtenpaare. Sie bescherten eine vielfältige Farbenpracht. Eine großartige Stimmung kam auf, als die Trachtenträger/Innen in den festlich geschmückten Saal zu den Klängen des „Prinz Eugen-Marsches, komponiert von Andreas Leonhardt, einzogen. Die Heimat-Blaskapelle unter der Leitung von Franz Landauer spielte diesen Einzugsmarsch so schmissig, dass es die Besucher des Balls von den Sitzen riss!
Mit besonderer Heimatliebe zu seinem Budaörs, in der Mundart Wudersch genannt, hat mein Vater mit seinem Wissen und seiner Erfahrung als Erlebnisträger das „Budaörser Heimatbuch” zusammengestellt. Die Erfahrungen, die er bei der Ausarbeitung seiner Doktorarbeit mit dem Dissertationsthema „Formenlehre der deutschen/mittelbayerischen Mundart – auf Ungarisch „A BUDAÖRSI NÉMET KÖZÉPBAJOR NYELVJÁRÁS ALAKTANA” – gewonnen hat, konnte er bei der Gestaltung zweckdienlich nutzen. Seine jahrelange heimatgeschichtliche Arbeit fand mit diesem Buch ihre Krönung. Es wurde herausgegeben vom Verlag „Unsere Post”, (UP) Stuttgart. Die UP ist auch die Heimatzeitung der Deutschen aus Ungarn. Es war seinerzeit bahnbrechend und eines der ersten Heimatbücher überhaupt.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne”. (Hermann Hesse). Der Jahreswechsel ist ein guter Moment, einmal zurückzudenken auf das verflossene Jahr, aber auch nach vorn zu blicken. Was wird uns das neue Jahr bringen? Das Gefühl, wieder neu anfangen zu können! Die Chance, manche Dinge anders machen zu dürfen, dem Leben eine andere Richtung zu geben und die Hoffnung, dass alles besser wird! Zum ersten Mal im Leben spüre ich diesen Zauber des Jahreswechsels. Wie wird meine Lehre weitergehen? Was werde ich im Sport bewegen können? Was kann ich zur Kulturgestaltung beim Budaörser Heimatkomitee beisteuern? Was wird sich noch ereignen in unserer Familie, im Land und auf der Welt?
Am Sonntag, den 16. Januar 1955 bescherte der Männergesangverein Neuhausen e.V. seinen Mitgliedern und Gönnern ein traditionelles Theatererlebnis im Saalbau in Neuhausen: Margit, das Köhlerkind. Mit guter Übersicht von der Galerie aus wartete ich gespannt, bis das „Theater” begann. Doch plötzlich vergaß ich alles um mich her. Einziger Blickpunkt meines Interesses war ein bildhübsches Mädchen, das mit damenhafter Anmut den Saal betrat. Sie trug reizvoll ein hellblaues „Eva -Bartok-Hütchen”. Ja, es war dieses kleine süße Mädchen, das mich am Dienstag, den 31. August 1948 im Schwimmbad in Neuhausen faszinierte. Spontan drehten sich alle Männerköpfe in die gleiche Richtung. Es war Sieghilde Fingerlin. Ein Name wie Frühlingsmusik. Sie war umschwärmt von jungen Männern. Öfters schlich ich in der Lindenstr. 20 um ihr Haus herum. Nur ihr Vater montierte in der Autoeinfahrt an seinem Lastkraftwagen. Von Sieghilde war keine Spur. Ihren Vater Emil traute ich mich nicht anzusprechen, um nach ihr zu fragen.
Endlich konnte ich ihr von unserem „Schwabenball” in Ludwigsburg erzählen und ich fand dabei sogar den Mut, sie zu diesem Fest der Ungarndeutschen Landsmannschaft einzuladen.
Mit leichtem Erröten ließ sie meine Einladung an sich mit einem gehauchten „Nein” abgleiten… Als wir beim Cafe Freisler am Sulzbach und am Nepomuk-Denkmal vorbeikamen, lud ich sie zu einem Getränk ein. Das zweite „Nein” entmutigte mich keinesfalls und ich benutzte es als Zwischenschritt meiner weiteren Bemühungen. Zu einem dritten „Nein” kam sie nicht. Also fuhren wir am Samstag, den 22. Januar 1955 mit dem Bus nach Bernhausen. Die „Blaue Grotte” empfing uns mit gedämmtem Licht und mit gefühlvoller Tangomusik. Auch Sieghilde hat sich gleich wohlgefühlt. Meine Wahl ein Volltreffer. Nachträglich bekenne ich: Meine Erzählungen waren schon gewissermaßen darauf abgezielt, dass Sieghilde mich als Partnerin zum Schwabenball begleitet.
Wir kamen uns durch die intensiven Gespräche naher: Ich fühlte mich zu ihr hingezogen und küsste sie ganz zart zuerst nur auf die halben Lippen und merkte, dass ihr das gefiel.
Viele Jahre später schwärmte sie von diesen Küssen: „Das hat mir gefallen”. Den Schluss in der „Blauen Grotte” merkten wir erst als uns fast die Stühle weggezogen wurden. Es war kurz nach zwei Uhr und wir traten zu Fuß den Weg nach Neuhausen an. Auf dem Heimweg flüsterte mir Sieghilde ins Ohr: „Ich hab‘ dich so lieb”… 4.30 Uhr klingelte Sieghilde und ihre liebe Mutter öffnete ihr die Tür. Wie ein scheues Reh huschte sie ins Haus. Ich stand da glücklich wie noch nie.
Gleich am Montag, den 24. Januar 1955 realisierte ich Punkt 2 meines Planes: Einladung an Sieghilde, unser Training im Zweier-Kunstradfahren mit Ernst Schmidt im Saalbau in Neuhausen zu besuchen und zu beobachten. Natürlich war sie von unserer Radfahrkunst und von unserer Geschicklichkeit bei der Ausführung unserer Kunstfiguren sehr angetan – sie konnte ja alles aus nächster Nähe betrachten.
Und so übte ich mich in der Kunst der „kleinen Schritte”, nämlich mit Fingerspitzengefühl und zielsicher die richtige Zeiteinteilung zu Punkt 3 meines “Eroberungsplanes” herauszufinden. Ziel war die Zusage von Sieghilde, den Schwabenball der Ungarndeutschen Landsmannschaft in Ludwigsburg am 29. Januar 1955 mit mir zu erleben.
In der Stadthalle in Ludwigsburg angekommen – da staunte Sieghilde sehr, denn einige tausend ungarndeutsche Landsleute hatten sich dort zusammengefunden. Die Stadthalle war ausgebucht. Der Schwabenball ist kein gewöhnlicher Faschingsball, sondern eine Bekundung der Zusammengehörigkeit aller Ungarndeutschen ohne Unterschied der sozialen Herkunft und das Bekennen zu Volkstum und Trachten.
Zur großen und freudigen Überraschung von Sieghilde kamen der baden-württembergische Ministerpräsident, Dr. Gebhard Müller, und sein Innenminister, Fritz Ulrich, auch zum Schwabenball. Vom Kranz der schönen ungarndeutschen Trachten sichtlich beeindruckt, erklärte der Ministerpräsident, noch nie habe er solch‘ schöne Trachten gesehen. Darum sei es Pflicht der deutschen Vertriebenen aus Ungarn, an den Trachten festzuhalten. Und nun kam unser großer sportlicher Auftritt: Ernst Schmidt und ich zeigten unseren Kunstradfahrer-Zweier-Reigen mit dem Höhepunkt unserer Darbietung nämlich den Kopf auf Kopfstand auf dem Fahrrad und von mir den Abgang mit einem Freisalto.
Und so hoffte ich, durch unser Erlebnis beim Schwabenball Sieghilde wieder ein bisschen nähergekommen zu sein. Sie ist ein reizendes Schwabenmädle und ich bin ja immerhin ein Donauschwabe.
Meine positive Einstellung und Einschätzung in dieser Hinsicht bestätigten sich dann auch, nämlich am Donnerstag, den 31. 03. 1955: Mein Zeugnis in der schriftlichen ABSCHLUSSPRÜFUNG zum Industriekaufmann: „sehr gut” mit einer Durchschnittsnote von 1,3. Somit erzielte ich in Baden-Württemberg die drittbeste Note und erhielt von der Kaufmännischen Berufsschule für Jungen in Stuttgart einen Preis: ein Buch „BERTELSMANN WELTATLAS”. Und am 13. April 1955 kam dann auch schon die Einladung der Industrie- und Handelskammer Stuttgart zur mündlichen Prüfung. Als sie von mir die kaufmännische Kalkulation wissen wollten, fragte ich: „Meinen Sie die Großhandels-Kalkulation oder die „Fabrik-Kalkulation?” Die Prüfer blickten sich vielsagend an. Ohne ihre Antwort abzuwarten, erklärte ich beide Kalkulationen. Es war anzunehmen, dass sie auf eine gute Benotung zusteuerten, denn dann kam die Frage nach der Hauptstadt von Albanien. Die letzte Frage lautete: „Was verstehen Sie unter KOEXISTENZ?” Meine Antwort: „z.B. das friedliche und prosperierende Zusammenleben von zwei Staaten”. Und wie ich geahnt hätte, was die beiden hören wollten, fügte ich noch hinzu: „z.B. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik”. Überzeugt von dieser Feststellung war ich allerdings nicht.
Nun war ich also ein Industriekaufmann. Was erwartet mich in diesem Beruf? Wie werde ich das Gelernte in der Praxis optimal einsetzen können? Werde ich den an einen Kaufmann gestellten Anforderungen gewachsen sein? Ende Teil 2