Meine Uroma erzählt mir

Schicksalsjahre einer Gemeinde in der Tolnau

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Von Ibolya Lengyel-Rauh

Als Folge erhält der Leser meine Berichte über Schicksalsschläge der Dorfbewohner aus Pari (Komitat Tolnau). Im Folgenden lesen Sie ein Gespräch mit meiner Uroma Theresia Páczelt, die mir damals einiges erzählt hat. Dieses Gespräch fand damals aber nicht so detailreich statt und es ist ergänzt mit den Erinnerungen von anderen Dorfbewohnern.

Als ich ein kleines Kind war, verbrachte ich meine Sommerferien in Pari und sonntags gingen wir immer in die Kirche. Unterwegs trafen wir eine alte Frau, die ihr Gesicht mit der Hand abdeckte. Ich fragte meine Uroma nach dem Grund. Daraufhin erzählte sie mir, dass die Frau beim Einwaggonieren in der Malenkij Robot verletzt wurde. “Was? Malenkij Robot? Einwaggonieren? Was ist das denn?” Ich habe das damals nicht ganz verstanden, aber dann klärte mich meine Uroma auf.

“Am 02. Dezember 1944 kamen russische Soldaten ins Dorf, als die Front immer näher zu uns, an Pari rückte. Sie blieben ein paar Tage, dann verließen Pari, aber kamen wieder. Sie kamen mit dem Befehl, unschuldige Dorfbewohner zwischen 17 und 45 Jahren einzusammeln. Am 31. Dezember 1944 wurden 82 Personen mit Lastwagen abtransportiert und in Güterzugwagen verladen, abtransportiert und über die Donau nach Baaja gebracht. Man musste auf dem Fußboden schlafen. Beim Halt konnte man sich nur in der Donau waschen. Und das mitten im Winter. Am 6. Januar 1945 ging es wieder in die Waggons, die Fahrt in die Sowjetunion begann und endete erst nach 17 Tagen über Krasnodar in Kaderka. Es gab nur wenige gefrorene Brote als Verpflegung, die erste warme Mahlzeit erfolgte am 20. Januar 1945, das war Maisbrei im Wasser. Trinkwasser gab es nicht, nur aus Flüssen und Pfützen. Ruhr und Typhus grassierten. Die ersten starben bereits. Da die Verantwortlichen mit weiteren Transporten in andere Städte rechneten, kochte man für die Deportierten noch Kohlsuppe und Reis ohne jegliches Fleisch um sie am Leben zu erhalten. Viele waren bereits so entkräftet, dass sie sich nicht einmal waschen konnten. Abermals starben viele. Der erneute Transport dauerte viele Tage unter erbärmlichsten Bedingungen. Bei Temperaturen von minus 20 Celsius mussten alle dann bereits im Februar 1945 arbeiten. Manche mussten auf den Bau, manche ins Bergwerk und manche auf die Kolchose. Über ihre Heimkehr wurden sie immer wieder vertröstet. Die Unterkünfte wechselten. Die gesundheitliche Versorgung war ein Minimum, Medikamente gab es kaum. Man wusste nicht, welcher Tag war. Das wenige Geld, das man bekam, wurde für Lebensmittel ausgegeben. Ungeziefer war an der Tagesordnung. Die Kleidung bestand aus Hose, Mantel und Gummigaloschen. Als Bettwäsche hatte man Strohsäcke. Die in der Grube arbeiteten, bekamen täglich 1 kg Brot, die über Tage 800 Gramm Brot. Alle anderen erhielten nur 500 Gramm Brot. 6 Tage vor ihrer Heimkehr mussten sie nicht mehr arbeiten. Am 13. Oktober I947 wurden die restlichen Menschen aus Pari wieder in Waggons verladen und am 30. Oktober kam ihr Zug in Debrezin an. Am 1. November 1947 erreichten sie „ihr zu Hause” und „ihre alte Heimat”.

“Oh, wie toll, dann waren die Parier Familien überglücklich, als sie ihre Vermissten wiedersahen.”

“Leider war es kein Grund zur Freude, denn dies war nicht mehr „ihre Heimat”. Ihre Eltern und die Familienangehörigen hatten ihre Häuser verlassen müssen und die meisten von den Zurückgebliebenen waren ja bereits ausgesiedelt worden.”

“Uh, das war schrecklich…Aber konnte man dem irgendwie nicht entkommen?”

“Tja, wenn du ein kleines Kind unter sieben Jahren hattest, wurdest du nicht mitgeschleppt.” Dein Opa Johannes Rauh war damals vier Jahre alt und bekam einen kleinen Bruder. Als die Frauen vor dem Komitee erschienen, mussten sie ihr Kind auch zeigen. Mit ihrem kleinen Baby stand deine Uroma Veronika Kurz vor den Russen und blieb von der Malenkij Robot verschont. Sie hatte aber zwei Schwestern, die noch keine Kinder hatten und sie erschienen mit dem gleichen Baby vor dem Komitee – das eigentlich ihr Neffe war – mit der Hoffnung, dass sie dadurch in Pari bleiben können. Leider wurde dieser Trick verraten und sie mussten auch nach Russland, aber dank sei Gott, kamen sie nach Hause. Aber die Tante Barbara Rauh von deinem Opa blieb in der fernen Sowjetunion. Sie war 26 Jahre alt, bildhübsch, aber unverheiratet. Leider musste sie gehen und kam nie wieder zurück.”

“Oh, die Arme. Bestimmt hat ihre Familie auf sie gewartet. Aber du hast vorhin gesagt, dass viele Zurückgebliebene bereits ausgesiedelt waren. Das verstehe ich nicht ganz. Uroma, ist jemand zu euch gekommen und hat befohlen, dass ihr euer Haus verlassen müsst?”

“Ja, ganz genau. Am 03. Juni 1947 um 7:30 Uhr kam eine Person vom Aussiedlungskomitee bei uns vorbei und überreichte uns den Befehl, das Haus bis 9:00 Uhr zu verlassen und die Schlüssel zu überreichen. Deine Oma war erst eine Woche alt und ich lag im Wochenbett. Wir hatten danach keine Rechte an unserem Haus. Wir waren mit diesem Schritt enteignet.  Wir durften 5 Kilo Mehl, 5 Kilo Schmalz, etwas Fleisch und 10 Kilo Kartoffeln, etwas Bekleidung und Arbeitsgeräte mitnehmen. Es konnten nur wenige bei Verwandten unterkommen, die ihre Häuser noch nicht verlassen mussten. So sind wir mit deiner Oma, bei unseren Nachbarn unterkommen. In unser Haus kamen inländische Umsiedler. Der Vorsitzende der damaligen ungarischen Bauernpartei sagte zur Vertreibung: „Die Schwaben sind mit einem Bündel gekommen und mit einem Bündel sollen sie gehen.”

“Aber, vielleicht ist es eine blöde Frage, weswegen kommen immer Verwandte aus Deutschland zu uns? Haben sie auch früher in Pari gewohnt?”

“Ja, sie haben hier gewohnt, aber durch den Vertreibungsbefehl mussten sie das Dorf verlassen und nach Deutschland ziehen.”

“Aber, wie war das? Mussten alle das eigene Haus verlassen?”

“Nein, nur die wohlhabenden Ungarndeutschen mussten ihre Häuser verlassen, deswegen blieb dein Opa Johannes Rauh in Pari. Die Familie von deinem Opa lebte in ärmlichen Verhältnissen und konnte in ihrem Haus bleiben.”

“Wie ging es dann weiter, was ist mit den Verbleibenden geschehen? Sie lebten doch bei Verwandten. Blieben sie auch immer da?”

“Nein, sie blieben ungefähr noch ein Jahr in Pari und in ihre Häuser zogen ungarische Familien aus dem ehemaligen Oberungarn und aus Siebenbürgen. Wir wohnten damals nicht mehr in Pari, da wir in Tamási eine Unterkunft finden konnten. Aber im Frühling 1948 kamen Leute ins Dorf und nahmen die Ungarndeutschen mit. Sie sind mit einer Truhe in die Ferne gezogen. Sie wussten nichts, wohin die Reise gehen soll. Eins war sicher, sie mussten gehen…”

“Was haben unsere Verwandten darüber erzählt?”

Auf dem Bahnhof in Nagykónyi wurden alle im April 1948 in Viehwaggons eingepfercht und keiner wusste, wohin es geht, ob nach Russland oder Deutschland, was es schon nicht mehr gab. Nach tagelanger Fahrt kamen die Ausgesiedelten in Pirna/Sachsen an und wurden dort in ein Lager gebracht, erfasst, untersucht und später in ganz Sachsen verteilt. Zu dieser Zeit kamen ja noch viele Tausende andere Vertriebene in die damalige Ostzone. Manche sind dann noch nach Westdeutschland zu Verwandten gegangen oder sogar ins Ausland aufgebrochen. Verwandte von uns haben sogar in Kanada eine neue Heimat gefunden.

“Aber unsere Verwandten leben doch in Baden-Württemberg. Wie konnten sie dorthin ziehen? Es gab doch Ost-, und Westdeutschland.”

“Ja, meine Liebe, es war damals überhaupt nicht einfach in Ostdeutschland. Unsere Verwandten hatten nicht genug zum Essen. Mein Onkel soll immer hungrig ins Bett gegangen sein, da das Abendessen nie ausreichte. Mit der Hoffnung, dass man ein besseres Leben in Westdeutschland aufbauen könnte, wagten einige den Schritt dorthin zu fliehen. Es gab einen Fluss an der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, der zwar von Grenzsoldaten kontrolliert wurde, jedoch gelang einigen die Flucht mitten in der Nacht. Deine Ururgroßeltern blieben noch länger in Ostdeutschland. Nur jahrelang später konnten sie in den Westen flüchten. Es war auch abenteuerlich. Sie warteten in einem Försterhaus an der Grenze, um dort abgeholt zu werden. Aber es kam niemand. Nur ein Soldat betrat das Haus und fragte nach dem Grund ihres Aufenthaltes. Deine Ururgroßeltern leugneten nicht, dass sie in den Westen zu Verwandten gehen wollen. Der Grenzsoldat hätte sie auch erschießen können, aber stattdessen zeigte er seine Menschlichkeit und zeigte ihnen den Weg nach Westdeutschland und schoss in die Luft. Meine Schwiegereltern kamen dann nach Baden-Württemberg, wo wir vor 300 Jahren auch lebten.”

“Aber unsere anderen Verwandten leben in Berlin und Burgstädt. Wie war es für sie damals? Hatten sie schon dort eine Arbeit oder ein Haus zum Wohnen?

“Einige von ihnen kamen auch auf Umwegen nach Burgstädt, wo sie nach vielen schwierigen Unterbringungen endlich wieder Fuß fassen konnten und für ihre Familien eine neue Existenz aufbauen konnten. Willkommen waren sie nicht gerade, denn hier mussten die Menschen auch enger zusammenrücken, denn Mangel an Wohnräumen herrschte in den Nachkriegsjahren überall. Die hiesige Bevölkerung war erstaunt über die eigenartigen Trachten, welche oft die mitgekommenen Großmütter noch trugen. Dank des vererbten Fleißes und unserer Sparsamkeit haben sich viele Parier ein altes Haus gekauft, es modernisiert und jede Möglichkeit genutzt, um sich mit den wichtigsten Lebensmitteln in der schwierigen Nachkriegszeit selbst zu versorgen. Die Nachkommen haben Berufe erlernt, die damals gebraucht wurden und die es ihnen somit ermöglichten, eine eigene Familie zu versorgen. Manche haben studiert, geheiratet und sich gut in der neuen Heimat eingelebt. Deine Tante hat mir sogar erzählt, dass sie Schwierigkeiten mit Deutsch in der Schule hatte, da sie zu Hause die ungarndeutsche Mundart gesprochen haben und Hochdeutsch verstand sie am Anfang nicht. Wir Schwaben sind sehr fleißig und durch unseren Fleiß konnten wir uns auch über Wasser halten. Die Vertriebenen fanden aber bald auch eine Arbeit und verdienten ihr tägliches Brot damit. Es war nicht einfach, denn in vielen Familien fehlte das Oberhaupt, war in Gefangenschaft oder galt als im Krieg verschollen. Folglich mussten die Frauen einer Arbeit nachgehen. Viele fanden eine Stelle in einer Fabrik, arbeiteten als Näherin oder gingen in den Wald Setzlinge zu pflanzen.

“Und was ist mit den Hiergebliebenen? Es sind doch nicht alle vertrieben worden?”

Tja…Wir gingen unserem täglichen Leben nach. Das vorherige Gesellschaftsleben in Pari war zerstört, unsere Identität vernichtet, geplagt von Schicksalsschlägen. Viele trauerten um ihre Verstorbenen oder hofften auf das Wiedersehen. Und es geschah auch, dass ehemalige Soldaten noch in den 1950er Jahren zurückkehrten. Mitten in der Bevölkerung war ein gewisses Misstrauen zu spüren. In Pari wurden Ungarn (Madjaren) aus Siebenbürgen und dem ehemaligen Oberungarn angesiedelt, denen die Parier am Anfang nicht vertrauen konnten.

Politik mischte sich ins Leben ein und das erschwerte die Zwangsabgabe der landwirtschaftlichen Produkte.

Unsere Muttersprache wurde nicht mehr in der Grundschule unterrichtet. Die Mundart zu sprechen, blieb nur im Familienkreis übrig. Es war auch eine schwierige Entscheidung seitens der Eltern, das Einverständnis zu Mischehen zu geben. Das führte auch in einigen Familien zu Spannungen oder Tragödien. Eins kann ich dir aber sagen. Wir mussten beweisen, dass wir gute Ungarn sind – und das haben wir auch getan.“

“Uroma, das war tatsächlich eine schwierige Zeit für euch und allen, die das miterleben mussten.”

 

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