Wissenschaftliche Forschungen in der Linguistik und in den Archiven
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Von Prof. Dr. Zoltán Tefner
Teil 18 In unseren Forschungen im Thema haben wir versprochen, dass wir den netten Lesern noch interessantere Themen vorlegen, die sie in unseren früheren wissenschaftlichen Beiträgen nicht gelesen haben konnten. Nun geht es hier unten darum, dass wir – bewogen von einem nicht in jeder Hinsicht ethischen Schritt – diese alten Beschreibungen über die archäologischen Funden der jüngeren Steinzeit mit der modernen Zeit, mit den Festbräuchen unserer Tage verbinden.
Um unserer Fallstudie eine neue Wendung zu geben, kehren wir nach Kötsching zurück, und zwar zu dessen landesweit berühmtem Brauch des Kirchweihfestes, dem sogenannten „kerbájt” oder „Kerbait”. „Kirchweihe” also eine ungarische Erleichterungsform, in der der labiodentale „W” sich auf den stimmhhaften bilabialen „B” ändert. Das „T” am Ende eine Reduktionsform des Substantivs „Tag”. „A templomfelszentelés napja” würden wir auf Ungarisch sagen. Normalerweise ein überall gefeierter Tag lokal unterschiedlicher Gebrauchsformen.
Der ursprüngliche Termin des Festes fiel auf den 21. November, unabhängig davon, welchen Wochentag der Kalender zeigte. Eine Elisabethkirmes könnten wir sagen und das ist tatsächlich so. Dieser Tag bedeutete den Abschluss der herbstlichen Erntearbeiten; denn es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man nicht als vollwertiger Landwirt galt, wenn man bis zu diesem Tage nicht imstande war, die bäuerlichen Arbeiten abzuschließen. Diese Landwirte wurden auf die unterste Stufe der beruflichen wie moralischen Hierarchie des Dorfes verwiesen – lesen wir in der Fallstudie des Autors dieser Schrift (Kolonisationsgeschichte der hessischen Sekundärgemeinde Kötching/Kötcse 1730–1800). In Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen. Hrsg.: Manherz Károly, Budapest, 1997. S. 7–86.). Vorliegende Fallstudie baut auf die Feststellungen der Texte oben und benutzt Materialien aus dem Archiv des Komitats Schomodei in Kaposvár (Községbírói számadások).
Sowohl in allen Agrarkulturen der Welt als auch in der von Kötsching bestimmten die Vegetationsperioden und die mit diesen Perioden verknüpften astrologischen Situationen die zeitliche Fixierung eines solchen Festes im Kalender (Tefner: Kolonisationsgeschichte[…] S. 79.). Der Veranstaltungskreis der Kötschinger Kerbait stellte sich durch Fruchtbarkeitsriten zusammen – der ganze rituale Prozess kann eigentlich als eine Fruchtbarkeitsmagie aufgefasst werden. Aufgund dieser unserer Feststellungen untersuchen wir nun die einzelnen Elemente dieses Kerbait-Festes.
Eine Woche vor dem 21. November erfolgt die Zeremonie des „Betrunken-machens” (ung. beitatás). Darunter wird verstanden, dass die Jungen, die ihr zwölftes Lebensjahr vollendet haben, von den älteren Dorfburschen betrunken gemacht werden. In einem Weinkeller, zu nächtlicher Stunde, läuft dieser Akt ab, nachdem diese Jugendlichen im Frühling des betreffenden Jahres in der Konfirmation zu erwachsenen Mitgliedern der evangelischen Kirche geworden sind. Im Akt sind Fruchtbarkeitsmotive vorhanden: Nur Männer nehmen daran teil, denn das Ziel ist die Mannesweihe, wo sich weder die „Einweiher” noch die „Einzuweihenden” bewußt sind, was mit ihnen eigentlich passiert: Die ganze Zeremonie halten sie nur für ein kleines Vorspiel zu den großen Kerbaitslustbarkeiten. (Tefner: Kolonisationsgeschichte[…] S. 79.) Gegen diesen Brauch haben die Behörden auch in dem 19. Jahrhundert Protest erhoben (Községbírói számadások, Jg. 1866, 1887), aber erst in den 1960er Jahren wurde dieses brutale Brauchtum verboten, nachdem ein Teilnehmer, ein 12-jähriger Junge, durch das Alkohol fast verstorben ist.
Das eigentliche Zeremoniell beginnt eine Woche später, am Abend des 20. November, mit der „Weinflaschenaufnahme”/”Weinflaschenausgrabung” (ung. borfelvétel). Die Kerbaitbuben – mit Rosmarinhalmen geschmücktem Hut auf ihrem Haupt – gehen nach der Abenddämmerung in Begleitung der Blaskapelle zur Weinflaschenausgrabung. Die gefüllte Weinflasche wurde im vorigen Jahr in einer Stube mit gestampftem Fußboden (später in einer Abstellkammer, heutzutage in dem auf hohem Niveau errichteten Veranstaltungshaus, in dem „kerbájtosház”, Kerbaithaus) begraben, die verkorkte Flasche wartete dort in der Erde auf das Ankommen der nächsten Kerbait. Jetzt kommt der Kerbaitzug heran, um die Flasche auszugraben, dahinter bewegt sich meist auch eine Gruppe von zahlreichen Neugierigen. Die Weinflaschenaufnahme wird mit einer Strophe eingeleitet. Der erste Bursche (Wild, K. 1986. Kirmesbräuche der Deutschen in Südungarn. In: Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen. Manherz, K. (Hrsg.) Budapest. S. 129-130.) sagt ein Gedicht auf, dann bindet er mit Hilfe eines Spagats eine Sech mit der Spitze nach unten an einen in die Balkendecke geschlagenen Nagel. (Dieser wurde bei der vorherigen Kerbait in den Balken geschlagen.) Der zweite Bursche schneidet den Spagat mit seinem Taschenmesser (heute mit einer Schere) ab, und dort, wo das Pflugeisen fällt, fangen sie an zu graben. In der Hand mit der aufgefundenen Flasche zieht die Kerbaitgruppe mit der Blechmusik ins Kulturhaus, wo die „kezdő esti mulatság” (Vorabendunterhaltung) seinen Anfang nimmt.
Der zweite Tag der Kerbait war früher überall in der Tolnau und in der Branau beheimatet. (Wild, K.: Kirmesbräuche […]) Nach dem Anfangsabend ist er der nächste Tag. Die Burschen und Mädel gingen nach dem Nachmittagsgottesdienst (heutzutage gibt es keinen Nachmittagsgottesdienst) etwa um 14 Uhr mit Blechmusikbegleitung in einem geschlossenen Marsch auf den Kirchhof, wo sie von den die Kirche verlassenden Dorfbewohnern, dem Presbyterium, dem Pfarrer und eventuell einigen weltlichen Potentaten, Dorfhonoratioren und Amtsträgern empfangen werden. Der erste Bursche hält den ausgegrabenen Wein, der zweite Bursche aber eine Flasche Jungwein in der Hand. Nach dem Vortragen der Einleitungsstrophe des Kerbaitsgedichtes machen sie eine Runde im Hofe, während die Kapelle einen Marsch spielt. Vorne gehen die Burschen, ihnen folgen die Mädchen, die Burschen tragen einen Rosmarinhut, die Mädchen halten den Rosmarinhalm samt Nelke bzw. eine Geranie in der Hand. Der Zug hält gegenüber der Eingangstür des Pfarrhauses an, der erste Bursche sagt die Eröffnungsstrophe auf, in der er die Bedeutung des Festes würdigt. Dann zieht die Gruppe einen weiteren Kreis und hält erneut an derselben Stelle an. Der zweite Bursche kommt nun an die Reihe, er setzt die Rede seines Kameraden mit einem historischen Überblick fort, wobei die Geschichte der Kirchenerrichtung, der Aufbauarbeiten und ihrer historischen Umstände erzählt wird. Konkret redet er über das Toleranzpatent Josephs II. und über die Bedeutung des Religionsfriedens. Dann folgt eine nochmalige Runde, die von dem Abschlussgelöbnis des ersten Burschen abgeschlossen wird: Im Namen seiner Kameraden äußert er sich so: „[…] undankbar? undankbar werden wir nie, ,Jugendliche, wir legen den Eid ab, bis wir leben, begehen wir das Fest!”
Die Teilnehmer des Umzugs fingen an zu tanzen, während die zwei ersten Burschen den Wein den Dorfvorstehern einschenkten. Auf dem Tisch, wo die Gläser standen, lagen zwei Äpfel, in die man je einen Rosmarinhalm steckte. Der Zug zog dann samt Publikum ins Kulturhaus weiter. Zwei Nächte lang dauerte die Kerbaitunterhaltung, die Jugend amüsierte sich beim Tanz, die älteren Männer saßen im „Weinhaus” (ung. borosház), wo keine Musik gespielt wurde; sie sangen da nur Lieder bis zur Morgendämmerung. Die Kinder unterhielten sich im „Kerbaithaus” (ung. kerbájtosház), wo sie bis Mitternacht tanzen durften.
Die frühen Morgenstunden des zweiten Kerbaittages sind hinsichtlich der Fruchtbarkeitsmythen für uns am interessantesten: Es ist die Zeit für das Vergraben des Weins. Die Kerbaitbuben – die Mädchen sind nicht mehr dabei – bringen den Jungwein mit Blechmusikbegleitung zu einem anderen Haus. Die Rosmarinhalme brechen sie anläßlich dieses Schlußaktes ab, sie stecken gebrochen an ihren Hüten. Der erste Bursche schlägt wieder einen Nagel in die Balkendecke, bindet das Pflugeisen an, der zweite Bursche schneidet den Bindfaden, und wo die Spitze des Pflugeisens den Fussboden aufkratzt, graben sie ein Loch aus, und mit dem Vergraben der Weinflasche begraben sie die Kerbait. Im nächsten Jahr treffen sie sich unter dem Nagel wieder und alles nimmt seinen neuen Anfang. Und was danach passierte, erfährt der geehrte Leser in einem nächsten, späteren Aufsatz. Fortsetzung folgt
Das Beitragsbild zeigt das Innere der evangelischen Kirche von Kötsching.