Die Schicksalsjahre von Pari: Die Vierziger

Von Ibolya Lengyel-Rauh

Der Leser erhält in dieser Folge einen Einblick in das Leben der Tolnauer ungarndeutschen Gemeinde Pari/Pári zwischen 1940 und 1950. Diese waren die Jahre, die das Leben der Dorfbewohner komplett auf den Kopf gestellt haben. Viele heutige Dorfbewohner tragen die Wunden der Familientragödien in sich, die sich während dieser Jahre ereignet haben. Es gibt kaum Familien, die von den Schicksalsschlägen der damaligen politischen Entscheidungen verschont geblieben wären. Aber es gab trotzdem “glücklichere” Dorfbewohner, die jeweils der Verschleppung der Ungarndeutschen oder der Zwangsrekrutierung entkommen konnten. Die Vertreibung der Deutschen hat aber viele Dorfbewohner, vor allem die Wohlhabenden getroffen. Ich betrachte meine Familie als “glückliche Familie” in diesen turbulenten Jahren, obwohl sie auch nicht von Schicksalsschlägen verschont wurden und das Dorf unter anderen verlassen mussten. Während ich die Beschreibung der historischen Geschehnisse dieser Jahre erläutere, gehe ich auch auf meine Familiengeschichte ein, die ich dank meiner Oma kenne. Sie wurde in diesen Jahren geboren und war eine Woche alt, als der Befehl zum Verlassen des Geburtshauses die Familie erreichte. Die Darstellung der Jahre erfolgt im Präsens, um die Geschehnisse der Jahre lebendiger zu präsentieren.

Aber fangen wir mal mit einem Vergleich an. 1932 gibt es 295 Wohnhäuser im Dorf und 1490 Personen. Die Einwohnerzahl sinkt auf 1334 Personen im Jahr 1944. Vor 1944 leben im Dorf Pari 33 Madjaren und 1.270 Deutsche sowie 31 Madjaren außerhalb des Dorfes. Also, das Dorf ist eine rein ungarndeutsche Siedlung, in der sich die Einwohner auch in der Volkszählung 1941 zum Deutschtum bekennen. Nur die reichen Bauern geben an, Madjaren zu sein. Das bildet aber die juristische Grundlage für die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Da in den 1930er Jahren in vielen “deutschen Dörfern” Volksbund-Ortsgruppen gegründet werden, bleibt das in Pari auch nicht aus. Obwohl die Ungarndeutschen durch den Volksbund für die nationalsozialistischen Ideen instrumentalisiert werden sollen, betrachten die Parier die Existenz des Volksbundes eher als eine Gelegenheit für die Verstärkung des Zusammenhaltes und eine Unterhaltungsmöglichkeit für die Dorfbewohner und so treten insgesamt 238 Leute dem Volksbund bei. Meine Familie hält sich vom Volksbund fern.

Der Winter 1940 hält sich lange. Erst im März taut der Schnee, was im Dorf zu Hochwasser führt. Das Jahr kann keine gute Ernte verzeichnen. Die Wetterbedingungen sind einfach zu schlecht. Ungarn tritt 1941 in den Zweiten Weltkrieg ein. Das ist auch am Palmsonntag in der Prozession zu spüren. 60 Flugzeuge mit Bomben beladen fliegen über das Dorf in Richtung Jugoslawien. Als Folge des Kriegseintritts wird auch im Dorf rekrutiert und 65 Männer werden ins Heer einberufen, selbst der Kirchensänger. Später erfolgt noch eine weitere Rekrutierung. Es werden 97 Männer ins ungarische Heer einberufen und davon sterben 25.

In diesem Jahr bekommt Pari einen neuen Pfarrer, Andreas Seitz, der später als András Szabados seinem kirchlichen Dienst nachgeht. Sein Vorgänger Josef Schäfer stirbt im Frühling 1941. In diesem Jahr kommt es noch zu einer erneuten Rekrutierung im Sommer. Die Soldaten werden an die sowjetische Front geschickt. Während sie an der Front kämpfen, spenden die Dorfbewohner ihren Überfluss von Schmalz und Getreide an die Militärleute, die das Dorf aus diesem Grund aufsuchen.

1942 trauert das Dorf um seine ersten Helden, die im Krieg gefallen sind. Die Zwangseinberufung der arbeitsfähigen Männer hält noch lange in Pari an. Im Dorf gibt es immer mehr Leute, die sich ihr tägliches Brot vom Pfarrheim erhoffen. Durch die Zwangsabgabe an den Staat werden aber die Lebensmittel im Dorf immer knapper. Hinzu kommen noch das schlechte Wetter und der Mangel an männlichen Arbeitskräften, der sich in den Folgejahren zuspitzt.

Das Dorf zeichnet sich aber als vorbildlich aus, was die Sammlung warmer Kleidung für die Soldaten angeht. Ab dem Schuljahr 1942/1943 wird das achtklassige Schulsystem in Pari eingeführt. Die Unterrichtssprache soll eigentlich schon ungarisch sein, aber die Anzahl der Ungarischmuttersprachler scheint weniger zu sein, sodass sie privat unterrichtet werden. In der Erinnerung meiner Uroma, die auch zu dieser Zeit die Grundschule besucht, sollen die Kinder in der Grundschule erst Ungarisch lernen, da sie zu Hause nur Deutsch sprechen.

Das Jahr 1943 bringt die ersten nach Hause zurückkehrenden Soldaten mit sich. Trotz der widrigen Umstände können einige Parier von der sowjetischen Front nach Hause zurückkehren. Am 07. März 1944 wird Ungarn als von den deutschen Truppen besetzt erklärt. Das begrüßt die Dorfbevölkerung, aber die Sorgen der Dorfbewohner wachsen Tag für Tag aufgrund der immer häufiger werdenden Luftalarme. Sogar ein englisches Flugzeug stürzt auf einem Ackerfeld ab. Im Frühling erreichen SS-Soldaten das Dorf, um Männer zu rekrutieren. Viele wollen natürlich der Einberufung fernbleiben, aber werden von der Gendarmerie geholt. Insgesamt sind 197 Männer für die SS zwangsrekrutiert und 36 davon kehren später nicht nach Hause zurück. Dieses Jahr ist das turbulenteste von allen Kriegsjahren. Die Glocken im Kirchturm müssen für militärische Zwecke abgebaut werden, aber der Pfarrer kann das Einschmelzen der Glocken verhindern, sodass sie später in das Dorf zurückkehren. Weiterhin werden auf Anordnung von Szálasi die Schule geschlossen und der Unterricht eingestellt, da schon einige Flüchtlingsfamilien aus der Bukowina und aus Budapest im Klassenraum einquartiert werden. Das bringt große Verwirrung in das Leben des Dorfes. In der Zwischenzeit rückt die Front immer näher an das Dorf heran. Schließlich erreichen die sowjetischen Soldaten das Dorf am 02. Dezember 1944. Zwei Tage dauert es, bis sie die Siedlung verlassen. Sie werden im Pfarrheim untergebracht und bei Familien versorgt.

Das Jahr 1945 bringt nicht nur einen kalten Winter mit sich, sondern auch die Zwangsverschleppung der Schwaben. Alle Dorfbewohner zwischen 17 und 45 Jahren müssen für “angeblich” zwei Wochen Arbeit das Dorf verlassen, Mütter, junge, unverheiratete Mädchen, Väter, Junggesellen – 43 Männer und 39 Frauen zwischen 17 und 45 Jahren werden in die Sowjetunion deportiert, was der Wiedergutmachung der durch die deutsche Wehrmacht angerichteten Kriegsschäden in der Sowjetunion dienen soll. 30 Seelen ruhen in der fernen Sowjetunion – fern von Pari. Das betrifft aber wirklich unschuldige Menschen, die nun für die Kriegsverbrechen unendlich viel leiden müssen. Sie werden mit Lastwagen abtransportiert und nach Männern und Frauen getrennt in Güterzugwagen verladen und über die Donau nach Baaja gebracht. Das Jahr 1945 bringt zwar das Ende des Krieges, jedoch kehrt keine Ruhe ein. Es sind einige Fremde im Dorf, denen man nicht vertrauen kann.

Im November 1945 gibt es Wahlen in Ungarn, die keinen Machtwechsel mit sich bringen und das sorgt für weitere Aufregung im Dorf. Die Staatspolizei sucht immer wieder das Dorf auf und ermittelt nach ehemaligen Volksbundmitgliedern und sucht nach SS-Soldaten, die oft die Nächte in ihren kalten Weinkellern oder im Wald verbringen. Es herrscht Angst im Dorf. Am Ende dieses Jahres erreicht die traurige Nachricht über die verheerenden Umstände des Malenkij Robot das Dorf. Es gibt schon Verstorbene. Zurückkehren nach Hause darf man aber noch nicht.

Im Januar 1946 wird das Dorf von der Staatspolizei gesperrt, 85 Männer werden eingesammelt und zwangsweise mitgenommen. Sie werden für den Wiederaufbau der Franz-Josef-Brücke und der Bahnhöfe in Budapest mitgenommen. Aber das wissen weder sie noch die Dorfbewohner. Mit diesem Jahr kommen immer mehr Fremde und Neusiedler ins Dorf, die in die Häuser der Ungarndeutschen einquartiert werden. Oft müssen die Dorfbewohner den neuen Dorfbewohnern Haus und Hof überlassen und zu Verwandten ziehen. Die Armut ist groß, das Geld verliert Stunde für Stunde, Minute für Minute an Wert. Das findet aber am 01. August 1946 ein Ende, als der Forint eingeführt wird.

An Fronleichnam (05. Juni) 1947 tauchen alarmierend Autos im Dorf auf, die auf ihre Fahnen den Befehl zur Aussiedlung der Schwaben geschrieben haben. Die Dorfbewohner haben wenig Zeit, um überlegt nachzudenken, was sie mitnehmen wollen. Sie sind aufgefordert, Haus und Hof zu verlassen – ohne Widerstand. Wer sich das wagt, muss mit den schweren Gummischlägen der Gendarmerie rechnen. Die Ungarndeutschen gehen, die Madjaren aus Oberungarn, aus St. Peter/Svätý Peter/Komáromszentpéter und aus anderen Dörfern kommen. “Die Schwaben sind mit einem Bündel gekommen und mit einem Bündel sollen sie gehen”, lautet der Satz. Zu diesem Zeitpunkt finden die “Vertriebenen” bei Verwandten und Freunden Unterschlupf. Das führt dazu, dass in einem kleinen Haus 2-3 Familien zusammenkommen. Bewohner von Bauernhäusern mit einem Ziegeldach müssen das Haus Neuansiedlern überlassen. Neuankömmlinge können sogar das passende Haus für sich aussuchen. Meine Familie mit meiner eine Woche alten Oma flüchtet ins Nachbarhaus. Da wohnen sie (6 Leute) und noch zwei andere Familien. Dieses Haus ist kein prächtiges Bauernhaus, sondern sehr klein und hat nur ein Strohdach – ein bescheidenes Lehmhaus. Darum erhalten dessen Bewohner den Aussiedlungsbefehl. Die Männer müssen in der Scheune übernachten, da es keinen Platz für sie im Wohnbereich gibt. Mein Ururopa ist Holzdrechsler, was als wichtiger Beruf in der Gegend gilt. Viele kennen den Holzdrechsler “Patzelt”. Er macht sich in den nächsten Tagen auf die Suche nach einer Unterkunft und findet bald ein Zimmer mit einer Küche bei einer Familie in Tamási. Meine Familie zieht dann nach Tamási. Die Großeltern meiner Oma ziehen nach Nagykónyi. Viele bleiben aber noch in Pari bei Verwandten. Mein Opa (Janosch Rauh) und seine Familie sind sehr arm, sodass sie im Dorf bleiben dürfen.

Ende 1947 kehren bekannte Gesichter ins Dorf zurück. Die Zwangsverschleppten sind von der Sowjetunion „entlassen” worden. Sie kehren verhungert, seelisch hin- und hergerissen zurück und müssen feststellen, dass ihr ehemaliges Geburtshaus im Besitz von Fremden ist oder die eigene Familie nicht mehr im Dorf wohnt …

In das Dorfleben schleicht sich die Politik bzw. schleichen sich die Parteien ein. Die Neuankömmlinge sind Parteimitglieder und wollen das Leben des Dorfes steuern. Selbst der Pfarrer wird zur Zielscheibe und wird an einem Morgen, als er die heilige Messe halten möchte, von Parteileuten umstellt und verprügelt. Er rettet sich und kann schwer verletzt das Dorf verlassen. Er wird in Fünfkirchen behandelt und nach seiner langen Genesung kehrt er noch ins Dorf zurück. An diesem Tag wird er von den Gläubigen am Bahnhof empfangen.

Im April 1948 werden dann die hier gebliebenen Schwaben eingesammelt. Sie haben den Vertreibungsbefehl letztes Jahr erhalten. 455 Parier müssen gehen. Die umliegenden Dörfer sind auch betroffen, sodass die Großeltern meiner Oma in Nagykónyi gehen müssen. Meine Familie in Tamási kann bleiben. Tamási ist von der Vertreibung nicht betroffen. Mit schweren Truhen und Lebensmitteln begeben sich die “Schwaben” auf den Weg nach Nagykónyi. Sie wissen nicht, wie lange sie unterwegs sein werden und wohin die Güterzüge mit Menschen beladen fahren. Unter ihnen sind meine Tante, die Großeltern meiner Oma und viele, viele Parier – Ungarndeutsche. Sie fahren in die Ungewissheit. Sie kommen in ein paar Tagen in Pirna in Sachsen an, wo sie in ein Lager gebracht werden.

Die Folgejahre bringen keine nennenswerten Ereignisse mit. Doch eine technische Errungenschaft – der Strom – lässt sich im Dorf begrüßen: 1948 wird auch Pari mit Strom versorgt.

Im nächsten Beitrag erhält der Leser die Erinnerungen der Dorfbewohner an den Malenkij Robot und an die Vertreibung. Darunter entsinne ich mich an das “glückliche” Schicksal meiner Familie.

 

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