Erinnerungen eines Heimatvertriebenen aus Wudersch
_____________________________
Redigiert von Martin Szanyi
Teil 1 Diese Zeilen geben Einblick in das Leben eines Mannes, der die Wechselfälle des 20. Jahrhunderts miterlebt hat. Es ist interessant zu beobachten, wie sich Kindheitserinnerungen mit rückblickenden Momenten des Erwachsenwerdens vermischen. Geschichte nicht aus der Vogelperspektive, sondern Momente der Selbstfindung oder eben auf dem Fußballplatz! Diese Ausschnitte aus seinem Leben sind wie ein Fenster in eine Vergangenheit.
Es geht um Auszüge aus den Erinnerungen des aus Wudersch/Budaörs stammenden Ingenieurs Norbert Riedl, der in Neuhausen auf den Fildern (Landkreis Esslingen, Baden-Württemberg) heimisch wurde. Der Name Riedl dürfte vielen von uns wohlklingen, hatte sich der Heimatforscher Dr. Franz Riedl, der Vater von Norbert, doch um die Heimatforschung und die Pflege der Kontakte – also um die Heimatverbliebenen insgesamt – ebenso verdient gemacht.
Norbert Riedl – Geistiger Spaziergang durch meine Lebenserinnerungen
Sicherlich würde ich meine Erlebnisse etwas anders schildern, wenn ich diese Zeilen früher geschrieben hätte. „Begreifen kann man das Leben rückwärts, aber leben muss man es vorwärts”, sagte einmal ein kluger Mensch namens Kierkegaard.
1938 – Sie war eine sehr liebe Oma, sie war überlegen, angenehm und ruhig. Wir nannten sie in unserer mittelbayerischen Mundart „Ahnl”. Im Winter, als es in Wudersch im Weingarten nichts zu tun gab, fuhr meine Großmutter zu uns nach Nyíregyháza. Bei ihrer Ankunft erzählte ich ihr sofort: „Nagymama, Mackóruhát és hócipőt kaptam”! (Großmama, ich bekam einen Trainingsanzug und Schneeschuhe!) „Berti, kannst Du nicht mehr deutsch?”, fragte sie. Unvermittelt zeigte ich auf meine Mutter und sagte: „Ő akart gyereket és nekem kell ringatni!” Also auf Deutsch: „Sie (also meine Mutter) wollte ein Kind und ich muss es schaukeln!” Die beiden Frauen mussten herzhaft lachen. Nun, ich musste meinen kleinen Bruder im Kinderwagen hüten, was mir gar nicht passte.
Ich schlief bei Frau Hess – Evi-Basl. In der Früh kam meine Oma und fragte mich ganz geheimnisvoll: „Wos manst, wos ma haum?” Ich riet: „A Madl” „Na, an Bua”, sagte meine Ahnl.
In Nyíregyháza 1940: Meine Mitschüler hänselten mich oft mit: „Schwab, Schwab”!
Meine Mutter hatte mich schön angezogen und als mich dann die anderen Eltern so sahen, fragten sie sich: „Ez lenne a helyes gyerek, aki mindig verekszik?” (Dieser nette Junge soll der sein, der immer streitet?) Als sie dann erfuhren, warum ich stritt, war der Bann gebrochen: Ich war in der Gemeinschaft der Klasse angekommen und angenommen.
Ein weiterer Vorgang „festigte” meine Stellung in der Klasse: Der Schulrat war gekommen und wir besprachen in Biologie den Mut einer Henne, wenn diese Küken hat. Sie verjagt sogar einen Hund, um ihre Küken zu verteidigen. Ich meldete mich und sagte: „Ezt már én is tapasztaltam.” Der Schulrat sah den Lehrer an und der Lehrer den Schulrat. Ich sagte: „Das habe ich auch schon erlebt”.
Noch an etwas erinnere ich mich u.a.: Wir hatten einen Friseur namens Tribschansky. Er hat mir meine Warzen an der Hand mit einer Tinktur entfernt. Er sagte zu mir energisch, dass ich daran nicht schlecken dürfte, sonst würde ich sterben. Natürlich habe ich geschleckt. Es war salzig. Und ich lebe heute noch.
Auch hat mich damals Folgendes auch noch beschäftigt: Es drehte sich um das Lied: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai.” Ich dachte, das kann doch so nicht heißen, denn nach jedem Dezember kommt doch immer zuerst der Januar!
Mein Vater hat mir seinerzeit viel vom Wolf erzählt. Einmal habe ich sogar vom Wolf geträumt. Er kam auf mich zu, ich stand hinter einer Hecke. Ich wollte mich verstecken und duckte mich hinter die Hecke, damit er mich nicht sieht. Der schlaue Wolf hat mich aber schon erspäht und sagte: „Már láttalak!” Also: „Ich hab’ dich schon gesehen!” Und dann erwachte ich zum Glück. Mein Vater sagte zu mir, als ich ihm von meinem Traum erzählte: „Du träumst ja ungarisch!”
Eines Tages bin ich in eine zugefrorene Furche mit beiden Beinen eingesunken. Meine schönen neuen Schuhe waren von dem Schlamm fast eingemauert. O je, wenn ich jetzt heimkomme, gibt’s Schläge. Zum Glück war nur meine Mutter zu Hause. Ich stellte mich reumütig vor meine Mutter hin und sagte: „Verj meg, hogy túl legyek rajta”. Also: „Schlag mich, dass ich es hinter mir hab’.” Meine Mutter hat mich natürlich nicht geschlagen.
In Nyíregyháza gibt es ein Erholungsgebiet, das „Sóstó” genannt wird. Wir besuchten dieses Gebiet öfters. „Sóstó” heißt direkt übersetzt: Salzteich. Nach einem Aufenthalt in Sóstó stiegen wir in die Straßenbahn ein, um zurück in die Stadt zu fahren. In der Straßenbahn kam ein Lehrerkollege auf meinen Vater zu, umarmte ihn und gab ihm eine Zeitung in die Hand und gratulierte ihm. In der Zeitung stand, dass mein Vater zum „Rendes Tanár” ernannt worden ist. „Tanár” bedeutet Gymnasial-Schullehrer, auch Hochschullehrer und sogar Professor. „Rendes Tanár” heißt also gewissermaßen „ordentlicher Gymnasial-Schullehrer.” Die Freude war bei meinen Eltern natürlich echt groß.
Aber – und das muss hier besonders hervorgehoben und besonders erklärt werden: Das Heimweh nach Wudersch war permanent groß und schmerzlich. Wie groß das Heimweh meines Vaters war, soll folgende Episode erklären: Mein Vater war auch ein begeisterter Fußballspieler. Er spielte in der 1. Mannschaft von SC Budaörs (Wudersch). Obgleich wohnhaft in Nyíregyháza, spielte er trotzdem einige Male in Wudersch (ca. 180 km von Nyíregyháza entfernt). Als er wieder zu seiner Familie nach Nyíregyháza zurückkam, zeigte er uns seine absichtlich nicht geputzten Fußballschuhe. Er deutete auf die Sohle seiner Fußballschuhe und flüsterte fast andächtig: „A Wuderscher Eadn” (eine Wuderscher Erde). So groß war seine Heimatortsliebe zu Wudersch.
1941 Nach Beendigung der 1. Grundschule in Nyíregyháza am 12. Juni 1941 mit nur ungarischem Unterricht kehrten wir nach Wudersch zurück. Ich erinnere mich noch genau daran, wie mir mein Vater einen deutschen Text zum Lesen gab. Als ich mit dem Lesen fertig war, sagte mein Vater überrascht: „Du liest ja wie ein Ungar!” Meine Mutter erinnerte daran: „Er hat doch bisher nur ungarischen Unterricht gehabt”. Nun musste der „kleine Ungar” deutsch lernen.
Die ungarische Hauptstadt kann und möchte ich nur in Kurzform beschreiben: Die Stadt liegt an der breiten Donau, am „Schicksalsfluss” der Ungarndeutschen – der Donauschwaben – mit bombastischen Donaubrücken, mit vielen Heilquellen, Heilbädern, mit vielen Kirchen aus verschiedenen Epochen und mit mannigfachen Kultureinrichtungen. Die Hauptattraktion in Budapest ist das Parlament.
1943 Dieses Jahr stand auch im Zeichen meiner heiligen Kommunion. In Budapest hatte ich die gute Gelegenheit, das Akkordeon-Spielen zu erlernen. Aus dem schönen Land Thüringen bekam ich eine Ziehharmonika, ein kleines Akkordeon. An der Breitseite prangte eine mit besonders ziselierten Buchstaben verfasste Aufschrift: „Hess – Klingenthal”. Ich war sehr stolz darauf. Ab und zu besuchte ich unsere Nachbarn. Da war ein sehr schönes Mädchen, die einen gutaussehenden Freund hatte, der öfters zu ihr von Budapest nach Pußtawam/Pusztavám angereist kam. Sie küssten sich leidenschaftlich und oft und natürlich auf den Mund. Als Neunjähriger konnte ich das noch nicht so richtig begreifen und sagte zu dem Freund des Mädchens: „Wenn du die Ilonka so küsst, dann bekommst du ja einen ganz nassen Mund”. Er darauf: „Das ist ja gerade das Schöne”.
Anfang September 1943 lief in Budapest in einem „Revolverkino” der bombastisch ausgestattete deutsche Prestigefilm „Münchhausen”. Es war heiß, das Kino proppenvoll und daher stickige Luft. Beim Filmrollenwechsel kam ein Mann mit einer großen Spritze daher und versprühte eine Mischung aus Wasser und „Kölnisch-Wasser” links und rechts in die Film-Zuschauerreihen. Eine kleine Luftverbesserung kam zustande. Der Film war ein Ereignis. Noch heute deklamieren wir die vom Drehbuchautoren Erich Kästner kunstvoll formulierten geistreichen Dialoge.
Dazwischen fällt mir eine kleine Episode ein – mit meinem kleinen Bruder Franz: Wir nannten ihn „Bubi”; er war damals vier Jahre alt. Wir waren wieder auf dem Heldenplatz – Hősök tere – und von dort strolchten wir im Stadtwäldchen herum. Da wuchsen auch wilde „Johannisbrotbäume” und die krumme Frucht dieser Bäume sah fast wie eine Schlange aus. Ich ergriff eines dieser krummen Dinger und fuchtelte wild damit herum, ging damit auf meinen Bruder zu und zischte in der Budaörser Mundart: „A Schlaunga!” Panikartig rannte mein zutiefst erschrockenes und verängstigtes Brüderlein davon. Fortsetzung folgt