„Wir haben jeden Abend weinend gebetet” – die Erinnerungen einer Gulag-Überlebenden

Erstmalig erschienen im Portal wmn.hu am 4. Juli 2023. Zweitveröffentlichung in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Aus dem Ungarischen von Richard Guth.

Vom ungarischen Staatsgebiet Stand während des Zweiten Weltkriegs und danach wurden aus unterschiedlichen Gründen fast 800.000 Menschen in Zwangslager, die sich auf dem Territorium der Sowjetunion befanden, verschleppt, und von ihnen kehrten etwa 200.000 nie heim. Unter den Deportierten gab es viele, die mit dem zynischen Versprechen der Malenkij Robot (ursprünglich Malenkaja Rabota), also einer „kleinen Arbeit”, in die Hölle Stalins verschleppt wurde. Die 96-jährige Anna Scheibli-Szántó (ung. Szántó Ferencné Scheibli Anna) hat auch mehrere sowjetische Lager durchlaufen, ihre „Sünde” war ihre schwäbische Herkunft. Ein Beitrag von Péter Nádudvari.

In einer ruhigen Nebenstraße von Wallei/Vállaj an der rumänischen Grenze lebt Anna Basl (wie sie von vielen genannt wird), die auf dem Gang ihres herausgeputzten Hauses auf meinen Besuch wartet. „Es freut sie sehr, wenn sie jemandem ihre Geschichte erzählen kann, sie empfängt jeden herzlich, der sich dafür interessiert”, berichtete die Verwandtschaft. Bei der Vorstellung fiel mir auf, welche Suggestivkraft die ältere, als gebrechlich erscheinende Frau besitzt – ich lauschte ihr mit Bewunderung.

Kaum die Zeit der Kindheit überwunden, musste Anna Scheibli als Erwachsene standhalten, da während des Zweiten Weltkrieges ihr Vater an der Front gekämpft hat und sie an seine Stelle trat, um den Lebensunterhalt der Familie zu verdienen.

„Die Männer wurden als Soldaten eingezogen, so dass die Frauen die Äcker bestellten. Meine Mutter blieb auch allein, daher hatte ich auch meinen Anteil an der Arbeit. Ich habe gehackt, hielt den Pflug in der Hand, kümmerte mich um die Kühe, tat alles, was gebraucht wurde”, erinnert sie sich an ihre Jugend zurück.

Solange die Dorfbevölkerung um das Überleben kämpfte, drehte sich das Rad der Geschichte. Herbst 1944 tauchten sowjetische Truppen auf und brachten die Ortschaften unter ihre Kontrolle. Es brach eine neue Zeit an für die Walleier, die sich mit doppelter Kraft ums Überleben kämpften, während sie sich Sorgen um ihre Lieben auf den Schlachtfeldern machten. Weihnachten waren jedoch nahe, so dass trotz den Widrigkeiten jedermann versuchte, seine unruhige und ermüdete Seele festlich aufzuhellen. An einem der letzten Novembertage, die zwar besinnlich und majestätisch waren, aber von Krieg und Besetzung überschattet waren, klopfte ein unerwarteter Besucher an der Tür der Familie Scheibli um mitzuteilen, dass es im Schulgebäude eine Versammlung stattfinde, der jeder Volljährige beiwohnen müsse.

Es gab kein Weg zurück von der Dorfversammlung

Anna Scheibli war zwar erst 17, dennoch musste sie an der Zusammenkunft teilnehmen.

„Es wurde uns mitgeteilt, dass jeder, der sich im Raum aufhält, für 18 Tage zur Arbeit in die Sowjetunion gebracht werde. Wir wurden angewiesen, warme Kleidung und soviel Proviant zurechtzulegen, was für diese Zeit ausreicht”, rief sie die schicksalsträchtigen Minuten in Erinnerung.

Für Protest gab es keinen Platz: Das Gebäude war von sowjetischen Soldaten mit Maschinenpistolen umstellt. Die eingeschüchterte Menschenmenge wurde paarweise hingestellt und ins Nachbardorf Merk/Mérk gebracht, wo sie drei Tage lang warten musste – in dieser Zeit nahm man die von der Verwandtschaft zusammengestellten Pakete mit Kleidung und Verpflegung entgegen. Danach wurden die Menschen aus Merk nach Großkarol/Carei, 15 km entfernt, getrieben, wo wenig später ein Viehwaggon gen Sowjetunion wartete. Der Transport setzte sich aber erst am 6. Januar in Bewegung, denn man wartete auf weitere Gefangene aus anderen Ortschaften, damit der Transport noch mehr Menschen in die Hölle Stalins bringen konnte.

In den überfüllten Waggons waren die Umstände unmenschlich.

„Die Läuse und Wanzen haben uns ununterbrochen gebissen. Im Wagen gab es einen Ofen und zwei Eimer: In dem einen gab es Wasser zum Trinken, der andere diente dazu, die Notdurft zu verrichten. Als der Zug irgendwo hielt, durften wir nicht aussteigen, aber wenigstens haben wir ein wenig Wasser bekommen, so dass wir nicht verdursteten.”

Der Transport brauchte 18 Tage bis zum Ziel.

„Furchtbar lang war diese anstrengende Fahrt. Als wir ankamen, fragte ich mich, wie lange ich wohl dem Zuhause fernbleiben werden, wenn lediglich die Reise so lange dauerte – 18 Tage -, wie für die Arbeit vorgesehen”, merkte Anna Scheibli an, in ihrer Stimme hörte man eine herzzerreißende Verbitterung heraus.

Die ausgelaugten und verzweifelten Gefangenenen hatten keinen blassen Schimmer, wo sie ankamen.

 „Wir wurden in ein Gebäude gebracht, das kein einziges Fenster hatte. Der Zug hielt abends, bei -40 Grad Celsius, uns war kalt, es half auch nichts, alle Kleidungsstücke von zu Hause anzuziehen. Jemand hatte einen engmaschigen Kamm, damit haben wir die Läuse, die im Zug aufsprangen, aus den Haaren entfernt, die dann zahlreich auf den Boden fielen.”

Im Gebäude, wo die Gefangenen hingebracht wurden, gab es keine Schlafgelegenheiten, die erste Nacht verbrachte jeder auf dem eiskalten Boden.

”Am nächsten Morgen kam ein Russe und hat uns angewiesen, Pritschen anzufertigen, die wir dann als Schlafplatz nutzen sollten. Wir erhielten Holzlatten, daraus haben wir unsere „Schlafplätze” angefertigt, über die wir unsere Kleidung legten. Bis zum nächsten Morgen war alles platschnass. Das Gebäude war – wie die Wagen – voller Läuse und Wanzen, so dass wir praktisch nur auf dem Hof schlafen konnten. Später konnten wir uns Strohsäcke anfertigen, so dass sich unsere Lage etwas besserte.”

„Es zählte nur, das Ganze zu überleben”

Die Gefangenen – die in einem Bergwerk und dessen Umfeld arbeiteten – waren furchtbar unterernährt.

„Wir haben eine Woche weder was zum Essen noch zum Trinken erhalten. Wir haben uns von dem ernährt, was wir von zu Hause mitgebracht haben. Nach den Pritschen mussten wir auch die Küche selber herrichten. Zum Frühstück haben wir ein brotähnliches Etwas – bei dem wir nicht wussten, woraus dieses gemacht wurde – und ungesüßten Tee erhalten. Das Mittagessen bestand immer aus Krautsuppe und Brei, zum Abendessen gab es nichts. Wer vom „Brot” noch was übrig hatte, aß das, aber es kam vor, dass man es den am Straßenrand bettelnden Kindern gab, auf dem Weg vom Bergwerk zurück ins Lager. Oft legten wir uns mit leerem Magen hin.”

Die Männer und Frauen hatten den gleichen Platz um sich zu reinigen und ihre Notdurft zu verrichten.

„Dort im Lager verschwand das Schamgefühl fast gänzlich. Es zählte nur das Ganze zu überleben.”

Wegen der schweren körperlichen Arbeit, der Kälte, der Krankheiten und der ungenügenden Ernährungslage wurden die Gefangenen immer schwächer, aber es gab selbst in solch einer Situation Menschen, die ihr wenig Essen mit ihren Mitgefangenen geteilt haben. Anna Scheibli dachte auch so, dass andere mehr auf das Essen angewiesen seien als sie selbst.

„Ich meinte zu einem Mann aus meinem Dorf, der im gleichen Lager war: „Um mich würden nur meine Mutter und mein Vater trauern, wenn ich sterbe, aber dich würden drei Kinder betrauern” – danach gab ich ihm mein Brot. Mein russischer Mitgefangener gab mir wiederum von Zeit zu Zeit seins.”

Als das Essen ausging, haben die Gefangenen alles Erdenkliche zu sich genommen, was sie als verdaubar betrachteten, um dem Hungertod zu entkommen.

„Die Männer haben Konservdosen besorgt, die Frauen haben wiederum alles Unkraut zusammengesammelt, um dann eine „Suppe” zu kochen, um unseren Hunger irgendwie zu stillen.”

Die Toten, die nicht beerdigt wurden

Viele fielen im Kampf ums Überleben.

„Als wir zur Arbeit gingen oder von dort heimkamen, wurden wir von einer Kutsche begleitet. Diejenigen, die aus der Reihe fielen, wurden auf den Wagen gepackt. Was ihr Schicksal wurde, wissen wir nicht, aber wir haben sie nie wiedergesehen”, erzählte Anna Scheibli mit tränenerfülllten Augen, und fügte hinzu, dass die Ruhestätte der verstorbenen Mitgefangenen eine Ziegenweide war.

Wie gesagt, es gab klirrende Kälte, der Boden war gefroren, so dass man die Armen nicht einmal begraben konnte. Die Russen haben ein kleines Loch gebuddelt, dort die Toten reingelegt und das bisschen Erde drübergeschüttet. Ob sie in der wärmeren Jahreszeit ordentlich begraben wurden, darüber wissen wir nichts.” 

In ihrer letzten Verzweiflung haben einige versucht, aus dem Lager zu fliehen. Es gab welche, denen es gelang, und wiederum welche, denen es nicht gelang.

„Einer aus Merk wurde nicht weit vom Lager gefangen genommen und ins Lager zurückgebracht. Wir wurde angewiesen, uns um ihn herum aufzustellen. „So ergeht es einem, der zu fliehen versucht”, sagte der Wächter und erschoss ihn. Anderen gelang es hingegen zu fliehen, sie wurden von den Einheimischen mit russischer Tracht, Essen und ein wenig Geld versorgt. So sahen sie wie Russen aus. „Aber seid vorsichtig, redet nicht zu viel, auf Ungarisch schon gar nicht, um nicht aufzufliegen. In den Zügen sollt ihr euch nur kurz aufhalten”, so die Empfehlungen.”   

Anna Scheibli hat in den Zwangslagern von Nikitovka und neben Gorlovka/Horlivka (Region Donbass) gearbeitet: mal nachts, mal tagsüber. Manchmal musste sie Erze aus dem Bergwerk holen. Mal musste sie Holz aus einem Sägewerk auf den Schultern schleppen. Sie hat auch in einer Quecksilberfabrik gearbeitet oder Eisenbahnwaggons ein- und ausgeladen.

Im letzten Lager waren die Bedingungen etwas besser.

„Manchmal, an Festtagen, haben wir sogar Weißbrot erhalten. Weihnachten 1947 haben wir gegenseitig Geschenke angefertigt, ich habe beispielsweise ein schönes Gemälde von einem deutschen Mitgefangenen erhalten.”

In der Zeit der Zwangsarbeit hat Anna Scheibli viele herzergreifende und furchtbare Ereignisse miterlebt oder war sie sogar Teil davon. Eine davon erzählte sie unter Tränen.

„Einer unserer Mitgefangenen war bereits sehr geschwächt, er spürte es, dass ihn Gott bald zu sich rufen wird. „Ich würde noch was Gutes essen, bevor ich in den Himmel ziehe”, sagte er seufzend. Ich dachte mir, dass ich ihm ein reichhaltiges und leckeres Essen aus Kartoffeln zubereite – in dem Lager hatten wir auch Kartoffeln – aber bis das Essen fertig war, gab es niemanden mehr, dem man das geben konnte.”

Als ich sie fragte, was ihr geholfen hat, das Unerträgliche zu ertragen, meinte sie, dass sie nur ihrem Glauben zu verdanken gehabt habe, all die furchtbaren Dinge des Lagerlebens zu überleben.

„Wir haben jeden Abend weinend gebetet, um dieses Ganze irgendwie zu überleben und so schnell wie möglich wieder zu Hause zu sein. Das Zählgerät, womit wir unsere Gebete zählten, hatten wir auch bei der Arbeit bei uns.”

Anna Scheibli kehrte Sommer 1948 nach Ungarn zurück.

„Die Wächter haben von Beginn meiner Gefangenschaft an gesagt, dass „ich bald heimkehren werde”, aber dieses „Bald” wollte doch nicht kommen, die dreieinhalb Jahre kamen ewig vor, die ich in den Fängen der Russen verbracht habe. Insgesamt 400 Walleier wurden verschleppt, gut 200 kehrten nie zurück”, sagte sie.

”Bis Debrezin fuhren wir mit dem Zug, als wir heimkamen, wurden alle desinfiziert und gebeten unsere Verwandten zu benachrichtigen. Wir erhielten auch ein wenig Geld. Von dort brachte mich ein Pferdewagen nach Hause, nach Wallei.”

Es war ihr ungenehm sich im Dorf zu zeigen

Die Familie freute sich auf den Empfang des nun zwanzigjährigen Mädchens, das sowohl körperlich als auch seelisch von dem unbeschreiblichen Schrecken gekennzeichnet war.

Mein Vater hat freudenvoll auf der Straße auf mich gewartet, aber ich zog hinter den Gärten nach Hause, weil mir mein Aussehen unangenehm war: auf 22 Kilo abgemagert, in Lumpen gehüllt. Als mich mein Vater erblickte, küsste er mich weinend.”

Das Mädchen von Knochen und Haut wurde mit der Zeit aufgepeppelt. In den Lagern schwor sie, nach der Entlassung die besten Essen zu sich zu nehmen, aber ihre Familie ermahnte sie vorsichtig zu sein.

„Ich habe mir vorgenommen, mich mit all den Köstlichkeiten bis zum Gehtnichtmehr vollzustopfen, aber auf Bitten der anderen habe ich nur kleine Portionen gegessen, weil viele gestorben sind, nach einem ordentlichen Schmaus.”

Anna Scheibli hat zwei Jahre nach ihrer Heimkehr geheiratet und in der örtlichen LPG gearbeitet, während sie noch ihre bettlägrige Mutter versorgen musste. Sie hat zwei Kinder, vier Enkelkinder und neun Urenkel.

„Mein Leben war auch nach der Malenkij Robot hart, aber Gott stand mir immer bei. Wie Sie sehen, ich bin immer noch da, nächstes Jahr werde ich 97 und leben, bis die Himmlischen es so wollen”, so ihr Credo.

Seit ihrer Gefangenschaft sind 75 Jahre vergangen, und auch noch als ältere Frau erinnert sie sich genau darauf zurück, was sich einer, der das nicht miterlebt hat, nicht vorstellen kann.

„Auch heute noch träume ich von diesen Jahren. Wenn ich aufwache, frage ich mich: „Wie konnte ich es überleben?” Ich weiß wohl die Antwort. Mit Hilfe des guten Gottes. Wenn er mich mit seiner schützenden Hand umarmt, kann mir nichts geschehen”, sagte sie mit glänzenden Augen.

Während des Gesprächs habe ich verstanden, warum diese mehrfach geschundene Frau so viel Kraft ausstrahlen kann. Als ich aus dem Haus trat, dachte ich nur daran, welch besonderen Minuten ich beiwohnen konnte: Ich habe eine der letzten Zeitzeugen eines historischen Schandflecks getroffen, die das Unerzählbare erzählt hat. Das, was nie wieder passieren darf.

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Erstmalig erschienen im Portal wmn.hu. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Quelle: https://wmn.hu/wmn-life/60408-sirva-imadkoztunk-minden-este–egy-gulag-tulelo-asszony-visszaemlekezesei?fbclid=PAAaY7sgmKtHKrwSK9yBuKhtgqyYW51QFLb2uDo-xu4KGPLUXkK97bOr5Efbc_aem_AfMmLqB_4wkxf7RO7VFefJUsMLCCO6qva3MTkoqt1yU8R9FNJSR6Gki6zaKXYYLZFD8

Beitragsbild: Malenkij-Robot-Mahnmal in Vásárosnamény, http://Készítette: Derzsi Elekes Andor – A feltöltő saját munkája, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24999979

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