Zeitzeugen im Gespräch (3) – A. Desiderius Hufnagel

„Ich fühle mich immer noch als Ungar” – Albert Desiderius Hufnagel (86)

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Von Richard Guth

Das Telefon klingelte an diesem Endmärztag in dem Eckhaus inmitten der Darmstädter Donausiedlung ununterbrochen. Kein Wunder, denn mein Gesprächspartner, Albert Desiderius Hufnagel, feierte an diesem Tag seinen 86. Geburtstag. Der Zettel mit den Kontaktdaten, die ich bei meinem letzten Besuch in der Donausiedlung von der Tochter erhielt, lag monatelang auf meinem Schreibtisch, als ich eines Tages auf die Idee kam, eine Hanau-Fahrt mit einem Besuch bei den Hufnagels zu verbinden. Ich saß schon im Auto, als ich ihn erreichte, und fühlte mich sofort wie zu Hause in Ungarn: Er sagte sofort zu, trotz Geburtstag, etwas, was bei Bundesdeutschen mit dem Wunsch nach langer Vorausplanung so gut wie unmöglich ist. Also ein Ungar durch und durch!

Das Bekenntnis zum Hungarussein ist nicht die einzige Besonderheit bei Albert, eigentlich Desiderius, der Erwartete (dazu später mehr), Hufnagel: Seine Familie blieb nach Verschleppung, Flucht und Vertreibung in Ungarn und erst nach der gescheiterten Revolution von 1956 floh die Familie über Österreich in die Bundesrepublik – nebst 200.000 Ungarn, die ihrem Beispiel folgten. Dabei beschreibt Hufnagel die Geschichte der Familie als „äußerst kompliziert”: Was die väterliche Linie anbelangt, war der Großvater in Waroli/Váralja Grubenarbeiter und ging nach Hufnagels Erinnerungen nach Deutschland, von wo er nach Amerika auswanderte – der Aufenthalt soll aber nach zwei Jahren geendet haben, so wurde der Vater von Albert Desiderius Hufnagel in Waroli geboren. Die Familie der aus Hidasch/Hidas stammenden Mutter, die eine „odenwälderische” hessische Mundart sprach, sei zerrissen worden, denn ein Teil sei bereits mit den deutschen Soldaten geflohen. Der Großvater hingegen habe als ungarischer Honvéd gedient, sei in französische Kriegsgefangenschaft geraten und im Rahmen der Familienzusammenführung zu seiner Familie in Deutschland gelangt.

Die daheimgebliebenen Hufnagels galten nach seinen Angaben als Staatsfeinde, da sie selbstständig waren und Häuser besaßen: Der Vater hatte erst einen Krämerladen in Burjad/Borjád und zog nach Fünfkirchen, wo er Feinkost verkaufte. Als der Laden 1952 verstaatlicht wurde, habe sich gezeigt, dass die Familie in Ungarn wohl „nicht mehr Fuß fassen” werde. Dies habe insbesondere dem nun arbeitslosen Vater gegolten, die Mutter habe die Familie ernährt. Nach der gescheiterten Revolution 1956 „hat Vater keine Zukunft gesehen”, so der 86-jährige Zeitzeuge, und der Familienrat habe beschlossen, Ende November das Land zu verlassen. „Wir wurden aus dem Land geschleust, in einem Lkw. Den Schleuser haben wir auf der österreichischen Seite ausbezahlt”, so Hufnagel. Die Familie wollte nach seinen Erinnerungen nach Australien weiter, dennoch fiel die Entscheidung im Grazer Auffanglager zugunsten der Bundesrepublik, da ein Onkel bereits in Darmstadt wohnte, andere Verwandte in Friedrichshafen.

„Es war anfangs nicht einfach”, erinnert er sich, denn er habe Deutsch nur „brüchig” gesprochen, da die Großmutter „Platt gesprochen” habe und das ungarischdominierte Umfeld in Fünfkirchen, wo er ein Jahr zuvor sein Abitur ablegte, prägend gewesen sei. Aber innerhalb von sieben Monaten habe er es geschafft, „so gut Deutsch zu sprechen, dass ich im Büro arbeiten konnte”. Hilfreich soll die Unterstützung einer aus Ungarn stammenden Deutsch-Privatlehrerin gewesen sein.

Zuerst lebte die Familie in Friedrichshafen und zog zweieinhalb Jahre nach der Flucht nach Darmstadt, wo der Onkel wohnte. Die schwierige Suche nach einem Bauplatz – damals spielte die Frage, ob katholisch oder evangelisch, noch eine wichtige Rolle – endete in der Donausiedlung, wo „zu dieser Zeit fast nur evangelische Ungarn wohnten”. Er selbst fühle sich bis heute als Ungar (die Begriffe „ungarndeutsch” oder „donauschwäbisch” kenne er, aber habe keine emotionale Beziehung dazu). Wie komplex Identitätsmuster dabei sein können, zeigt das Beispiel seines gut drei Jahrzehnte jüngeren Patenkindes, das in Ungarn wohnt und sich als Deutsche fühle. Auch heute schätzt er den Anteil der Ungarndeutschen in der Donausiedlung trotz Wegzug (unter anderem nach Ungarn), Sterbefällen und Mischehen auf 30-40 %. Konflikte habe es früher mit den Alteingesessenen der Heimstättensiedlung gegeben, die bereits seit den „Hitler-Zeiten” hier wohnten. Heute sei es „ein Mischmasch an Leuten und auch der Zusammenhalt ist nicht mehr so wie früher”, so der pensionierte Betriebswirt und geprüfte Buchhalter, der sich nach eigenem Bekunden lange Zeit ehrenamtlich und kirchlich engagiert habe, unter anderem als Sänger in vier Chören. Sein anderes Hobby sind und waren ungarischsprachige Bücher.

Und worauf ist sein in Deutschland eher seltener Vorname „Desiderius“, übersetzt der „Erwartete“, ungarisch „Dezső“ (schon häufiger), zurückzuführen, zumal er den Vornamen „Albert“ erst in Deutschland annahm? Eigentlich auf ein trauriges, aber gleichzeitig erfreuliches Ereignis: Nach einer Totgeburt zuvor kam Desiderius Hufnagel vor 86 Jahren am 28. März 1937 als ein Kind, dessen Ankunft daher sehnsüchtig erwartet wurde, zur Welt. Nicht zuletzt, um heute als Zeitzeuge auf fast neun Jahrzehnte ungarndeutscher Geschichte zurückblicken zu können!

 

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