Von Ibolya Lengyel-Rauh
Wie lebte man als Kind in Pari/Pári in den 1920er, 1930er Jahren? Das Leben vor der Vertreibung der Schwaben war ganz anders als heute. In dem dritten Teil erhält der Leser einen Einblick in die Kinderjahre der Parier.
Laut Geburtenregister sind zwischen 1920 und 1930 458 Kinder zur Welt gekommen; die Anzahl der Geburten sank im nächsten Jahrzehnt auf 185. Die Geburtenrate erholte sich zwischen 1941 und 1950, als trotz Krieg 220 Kinder in Pari das Licht der Welt erblickten. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Kindersterblichkeit sehr hoch; fast die Hälfte der Neugeborenen erreichte das Erwachsenenalter nicht. Zur Veranschaulichung: In meiner Familie sind zwischen 1901 und 1917 sieben Kinder geboren, von denen nur drei überlebten. Die Ursachen der hohen Sterblichkeit waren Lungenentzündung, Krämpfe, Scharlach, Diphtherie usw. Ab den 1930er Jahren sank die Geburtenrate signifikant, was der Geburtenregelung zu verdanken ist. In vielen Familien – vor allem in den wohlhabenden – kamen zunächst ein oder zwei Kinder zur Welt. Die Kindersterblichkeit sank auch dank der besseren medizinischen Versorgung. Abtreibungen gab es kaum in Pari, wobei die Hebamme die Kenntnisse darüber hatte, wie ein ungewünschtes, uneheliches Kind abgetrieben werden kann. Da dieser Eingriff sehr gefährlich für die werdende Mutter war, wurde er nur selten praktiziert.
Schwangerschaft und Geburt
Sollte eine Frau guter Hoffnung sein, erfuhr die Schwiegermutter oder die beste Freundin zuerst darüber. Über die Schwangerschaft erfuhren die Dorfbewohner durch das Kleid der jungen Frau. Eine Schwangerschaft bedeutete aber keine außergewöhnliche Situation für eine werdende Mutter, da sie bis zur letzten Minute auf dem Feld mitarbeiten musste. Näherte sich die Geburtsstunde, wurde der werdende Vater nach der Hebamme gesandt, die aber nur bei Schwierigkeiten ins Haus kam. Arztbesuche gab es während der Schwangerschaft keine. Zeichen der Schwangerschaft waren für die Dorfbewohner die Bekleidung der Frau oder der Bauch, der immer runder wurde. Anhand der Form des Bauches versuchte man, auf das Geschlecht des Kindes zu schlussfolgern. Für die Geburt wurde eine Ecke in der Stube eingerichtet. Die werdende Großmutter half bei der Geburt viel, als die Wehen kamen. Der werdende Vater durfte die Stube nicht betreten. Kam das Kind heil und gesund auf die Welt, wurde sein Geschlecht laut gesagt. Die Familie freute sich mehr über einen Jungen, der den Familiennamen weitertrug. Nach der Entbindung bekam die Mutter eine Tasse lauwarme Milch und wurde gewaschen; ihr Kind wurde versorgt. Das Kind blieb für die ersten paar Tage bei der Mutti neben dem Bett. Erst nach einer Woche wurde es in die Wiege gelegt.
Kindbett
Der Säugling musste nach ein paar Stunden oder spätestens einen Tag nach der Geburt getauft werden, denn die Sterblichkeit war zu hoch und es sollte kein Kind als Heide sterben. Zur Taufe gingen die Hebamme, die Patin (Gevatterin) und der Vater mit. Sollte ein Kind tot zur Welt kommen oder kurz nach der Geburt sterben, wurde es von der Hebamme getauft und im Grab eines schon bereits verstorbenen Familienmitglieds ohne Zeremonie beerdigt. Am Sonntag nach der Geburt wurde das Kind in der Kirche feierlich getauft. Zur Taufe kamen der Vater, die Pateneltern und die Großeltern. Die Mutter blieb noch zu Hause, da sie zu schwach war. Die Erstgeborenen bekamen meistens die Namen der Pateneltern, so wurde meine Uroma auf den Namen Theresia getauft; die Jungen erhielten oft den Vornamen des Vaters. Es war damals eine große Verantwortung, Pate oder Patin zu sein, da die Pateneltern an der Erziehung ihres Patenkindes teilnahmen. Der Gevatter oder die Gevatterin war meistens ein guter Freund oder eine gute Freundin der Familie.
Die frischgebackene Mutter blieb für ein paar Tage nach der Geburt im Bett, sodass die Familie von anderen versorgt werden musste. Die Aufgabe der Mutter übernahm die Patin, die am Anfang für drei, später für fünf Tage die neue Familie mit Essen versorgte. Das war das sogenannte „Passita-Tragen”. Das Essen reichte für die ganze Familie. Die Gevatterin war festlich gekleidet und trug das Essen in einem geflochtenen Weidenkorb auf dem Kopf. Die Weinkaraffe hielt sie in der Hand. Das Essen bestand aus Vorspeise (Suppe), zwei Hauptspeisen mit Fleisch und Gemüse und Nachspeise (Kompott).
Kleinkinder
Nach sechs Wochen, also nach dem Kindbett, kehrte die Mutter auf das Ackerfeld oder in den Weingarten zurück. Sie musste auf dem Feld arbeiten. Damals waren die Parier sehr arm, viele arbeiteten als Tagelöhner bei anderen oder gingen ins andere Dorf um Getreide zu ernten. Das Baby blieb bei der Oma oder einem anderen Familienmitglied zu Hause. Das Baby zu versorgen war die Aufgabe der Oma. Die Mutter stillte ihren Nachwuchs, so lange sie konnte. Sollte die Mutter keine Milch mehr gehabt haben, bekam der Säugling Mehlbrei, verdünnt mit Kuhmilch. Sollte aber der Vater einem Handwerk nachgehen, blieb das Kleinkind mit ihm zu Hause. Die Kleinkinder hatten nur hausgemachte Spielzeuge – die Mädchen eine Flickenpuppe und die Jungen ein selbst geschnitztes Holzpferd.
Erkrankte ein Kleinkind, wurde es mit natürlichen Arzneimitteln oder mit Kräutern geheilt und mit Hauspraktiken behandelt. Einen Arzt hatte das Dorf nicht, aber der Nachbarort Nagykónyi schon. Nach diesem Arzt sandte man, wenn jemand ernsthaft krank wurde.
Um ein Kleinkind zu beruhigen, wurde Tee mit Mohn eingesetzt. Das half sehr viel, da das Kind in einen tiefen Schlaf fiel. Das wurde bei der großen Wäsche auch praktiziert, obwohl es sehr gefährlich war, da das Kind an einer Überdosis sterben konnte.
Die Kindererziehung war damals ganz anders als heute. Alle Familienmitglieder erzogen die Kinder, sogar die Pateneltern. Da es viele Aufgaben im Haus und um das Haus gab, konnte man mit den Kindern nicht spielen. Die Kinder spielten miteinander auf dem Hof oder draußen oder gingen mit den Eltern auch auf das Ackerfeld. Das Dorf besaß weder eine Krippe noch einen Kindergarten, sodass die Kinder bei dem zu Hause gebliebenen Handwerker oder beim Nachbarhandwerker abgegeben werden mussten.
Ein Märchenbuch gab es damals auch nicht. Die Großmütter oder die Uromas erzählten eigene Geschichten in der Familie. So durfte sich meine Oma mehrmals vorm Schlafengehen anhören, wie die Pferde in Pari von Zigeunern gestohlen und entführt und glücklicherweise nach Wochen in der Nähe von Fünfkirchen wieder gefunden wurden. Wollte man dem Kind Angst einjagen, erzählte man ihm vom Bagrac, der auf dem Dachboden wohnt. So versuchten die Eltern zu verhindern, dass neugierige Kinder auf die Leiter klettern, den Dachboden entdecken und unglücklicherweise herunterstürzen. Leider ereignete sich das in meiner Familie; der Bruder meines Opas starb so.
Bekleidung und Aussehen
Die Bekleidung der Kleinkinder unterschied sich nicht besonders voneinander: Die Jungs und die Mädels trugen ein langes Kleid, ein Hemdchen, eine dicke Strumpfhose aus Wolle und eine Mütze mit Spitze. Ab dem 4. Lebensjahr bekamen die Jungen eine Hose, einen selbst gestrickten Wollpullover und eine Fellmütze, die von Generation zu Generation vererbt wurde. Die Mädchen trugen einen plissierten Rock, eine gestrickte Bluse und eine Weste mit Blumen darauf. Der Kopf war mit einem Kopftuch namens „Ponetschkili” bedeckt. Schuhe besaßen die Kinder damals nicht, sondern sie trugen Kapseln (ung. kapca) oder gestrickte Babusche (ung. tutyi) oder Klumpen im Winter. Im Sommer liefen sie barfuß. Nur die Reichen konnten sich ein paar Lederschuhe leisten. Die meisten bekamen ihre ersten Paar Schuhe für die Firmung oder die Eheschließung. Die Kleidung wurde von den Dorfbewohnern selbst angefertigt, gestrickt oder genäht, sogar der Stoff wurde selbst gewebt. Meine Ururoma war auch Näherin und kam dank ihrer Näharbeit über die Runden, nachdem sie jung Witwe geworden war.
Frisiert wurden die Jungs zwei-, dreimonatlich, wenn der Friseur samstagnachmittags oder in der Früh am Sonntag seine Kunden zu Hause aufsuchte und die Haare schnitt. Die Jungs bekamen im Sommer eine Glatze.
Schule
Die Schüler hatten nur eine Schiefertafel und einen Schiefergriffel bis zur zweiten Klasse, die sie im Ranzen trugen. Ab der dritten Klasse bekamen sie eine Feder mit Tinte. Die Tinte musste in der Schule gelassen werden. Manchmal zerbrach die Schiefertafel, da sich die Kinder unterwegs auf dem Weg nach Hause prügelten. Dafür bekamen sie zu Hause „ihren Verdienst”. Es war in der Schule üblich, dass die Schüler eine Tatze (Ohrfeige) oder Schläge auf die Finger mit einem Rohrstock bekamen, wenn sie ihre Hausaufgaben vernachlässigten, die Aufgaben nicht lösen konnten – oder sogar auch, wenn sie den Kirchenbesuch schwänzten. Die Lehrer schickten sie in die Ecke, und sie mussten auf Maiskörnern knien. Es hatte sich auch ereignet, dass sich die Lehrerin an der Tafel verschrieben hatte und eine Schülerin aus diesem Grund die Aufgabe nicht lösen konnte. Dafür bekam das Kind eine Tatze, da es das zu sagen wagte. Am Abend erschien aber die Lehrerin bei der Familie und entschuldigte sich bei der Schülerin und den Eltern für die Ungerechtigkeit.
In die Schule (Elementarschule oder Volksschule) musste jedes Kind gehen. Es gab 130 bis 140 Schüler. Der Unterricht ging von 8.00 Uhr früh bis 12.00 Uhr mittags und dann von 13.30 Uhr bis 16.00 Uhr. Um zehn und um fünfzehn Uhr gab es eine Pause. Vor 8.00 Uhr wurde das Einmaleins gelernt und laut vorgesagt. Die Schulkinder frühstückten zu Hause. Ein zweites Frühstück gab es in der Schule um 10 Uhr: Schmalzbrot oder Obst – im Winter getrocknetes Obst; Fleisch hatten nur die Reichen. Im Winter bekamen die Jungs eine warme Kartoffel in die Jackentasche, die ihre kalten Hände warm machen sollte. Zu Mittag beteten die Kinder den „Engel des Herrn” und liefen nach Hause, um etwas Warmes zu essen. „Von der Schule nach Hause sind wir paarweise gegangen und wir mussten jeden grüßen (Gelobt sei Jesus Christus) und singen. Es gab immer Aufpasser. Wenn sie etwas Schlechtes von uns meldeten, wurden wir am nächsten Tag vom Lehrer bestraft”, erzählt Lissy Oma über den Nachhauseweg von der Schule.
In den 1920er und 1930er Jahren gab es nur sechs Klassen und drei Räume, aber die Kinder vom Jahrgang 1929 mussten schon acht Klassen besuchen. Im ersten Raum waren die 1. und die 2. Klasse. Hier lernten die Kinder die Buchstaben. Der Lehrer hieß Johann Weiszer (Világos). Im zweiten Raum waren die 3. und die 4. Klasse, ihre Lehrerin: Frau Elekes, die damals ins Dorf gekommen war. Hier lernten die Kinder fließend lesen. Im dritten Raum waren die Klassen 5 und 6, der Lehrer war Rektor Andreas Brunner (nach der Magyarisierung Barnabás). Deutschunterricht gab es Dienstag vormittags und Freitag nachmittags. Religionsunterricht war auch zweimal in der Woche. Nach der Elementarschule mit sechs Jahrgangsstufen gingen die Schüler noch drei Jahre wöchentlich einen halben Tag in die Wiederholungsklasse oder Sonntagsschule. Da die Jungen schon früh auf den Feldern arbeiteten, blieben sie den Wiederholungsklassen fern. Die Mädchen waren meistens schon verlobt, so besuchten sie nach der 6. oder 8. Klasse die Schule auch nicht mehr. Die Jungen mussten noch anderthalb Tage bei den Levente verbringen, bis sie zum Militär gingen. Ab Jahrgang 1942/43 betrug die Schulpflicht 8 Jahre. Folgende Fächer wurden gelehrt: Rechnen, Lesen, Rechtschreibung, Geschichte, Erdkunde, Religion und Singen; Religion erteilte der Pfarrer. Neben dem Lernen mussten die Kinder an der Heiligen Messe teilnehmen. Es gab täglich eine Messe um halb 8 und sonntags zwei Messen. Damals war die Kirche randvoll gefüllt. Die Messe bot den Mädchen eine gute Gelegenheit, ihre schönen Kleider zu zeigen. Im Sommer arbeiteten sie oft auf dem Ackerfeld und verdienten dort ein bisschen Geld, das sie für ihr Aussehen ausgaben.
Noch einmal zurück zur Schule: Die Klassen von Oma Lissy (1933-1939) wurden noch in Ungarisch und Deutsch unterrichtet. Ab Kriegsanfang gab es nur noch die Unterrichtssprache Ungarisch! So musste meine Uroma Ungarisch in der ersten Klasse erlernen. Für die Parier ungarndeutschen Kinder war Ungarisch eine Fremdsprache, da sie sie nicht gesprochen haben. Da die meisten Kinder Deutsch als Muttersprache sprachen, wurden die madjarischen Kinder als Privatschüler von den Lehrern außerhalb des Schulunterrichts unterrichtet. Zu dieser Zeit! Meine Uroma lernte relativ schnell Ungarisch, aber als ich sie fragte, in welcher Sprache sie betete, gab sie mir immer an, „auf Deutsch.”
Die meisten Kinder besuchten die Elementarschule in Pari und lernten nicht weiter, da die Eltern kein Geld dafür hatten. Wenn ein Junge einen Beruf, der in der Familie nicht ausgeübt wurde, erlernen wollte, suchte er einen Meister auf, wo er dann als Lehrling arbeitete und den Beruf in ein paar Jahren erlernte. So ging mein Ururopa ins Nachbardorf zur Hut-Holzdrechslerei und erlernte den Beruf von A bis Z. Er legte die Meisterprüfung ab und wurde Holzdrechsler im Dorf. Er eröffnete seine eigene Werkstatt und fertigte Spinnräder, Zapfen für Fässer, Wiegen usw. an.
Erstkommunion
Pari war eine religiöse Gemeinde, sodass die Erstkommunion nach der Taufe im Leben der Kinder eine wichtige Rolle spielte. Die Erstklässler nahmen nach monatelanger Vorbereitung auf die Erstkommunion „Christus Körper” am Himmelfahrtstag zu sich. Die Mädchen wurden wie eine Braut gekleidet: Auf dem Kopf hatten sie einen Wachskranz und am Körper trugen sie ein weißes Überhemd, einen plissierten Rock, eine weiße Schürze und Zwirnstrümpfe. Außerdem bekamen sie ein Paar Lederschuhe – meistens von jemandem ausgeliehen. Die Jungen hatten einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und ein Paar Lederschuhe an; auf dem Anzug war ein weißer Strauß aus Wachs gesteckt. Die Erstkommunikanten hielten ein Gebetbuch und einen Rosenkranz in der Hand. Nach der Zeremonie kamen die Kinder im Pfarrerhaus zusammen, aßen Gugelhupf und tranken Milchkaffee. Die Erstkommunikanten hatten noch eine wichtige Aufgabe: Am Fronleichnamsfest streuten die Mädchen Blumenblätter während des Umzugs.
Firmung
Die Firmung fand meistens alle fünf Jahre statt. 1922 gab es 406 Firmlinge, da die Firmung während des Ersten Weltkriegs ausblieb. Danach gab es 1927, 1933, 1937 und 1941 Firmungen in Pari. Normalerweise wurden 100-1300 Kinder vom Bischof gefirmt. Zu diesem Anlass kam der Bischof nach Pari und wurde schon am Dorfeingang mit freundlichen Worten, Wein und Brot empfangen. Die Hauptstraße war festlich geschmückt und mit gestickten Tischdecken und Halstüchern bedeckt; zwischen den Hausreihen wurden Tücher an Seilen aufgehängt. Der Bischof zelebrierte die Heilige Messe. Die Mädchen trugen ein grünes, blaues, dunkelrotes oder rosafarbenes Kleid, dessen Stoff von der Oma gekauft war. Die Anfertigung des Kleides dauerte 4-5 Stunden, da es plissiert werden musste. Es gab 4-5 Gehilfen, die beim Bügeln mithalfen. Die Jungen trugen einen schwarzen Anzug. Nach der Firmung gingen die Firmlinge zu ihren Firmpateneltern zum Festessen. Die Jungen bekamen dort eine Taschenuhr oder Taschentücher, die Mädchen hatten einen Rosenkranz oder ein Kopftuch als Geschenk.
Nach der Firmung durften die Jugendlichen heiraten. Wie es sich mit dem Kennenlernen, der Hochzeit und weiteren Bräuchen im Dorf verhielt, wird der Leser in der nächsten Ausgabe erfahren.