Evangelischsein in der Grenzstadt Ödenburg
Von Ágoston Frank und Dr. Norbert Frank
Über die evangelisch-lutherische Gemeinde in Ödenburg/Sopron zu berichten ist für uns keine einfache Aufgabe. Einen so wesentlichen Teil seiner Identität kann man nämlich nur schwierig mit einfachen Sätzen der Sprache beschreiben. Gefühle sind nicht uneingeschränkt übermittelbar.
Die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Ödenburg gehört zu den letzten wichtigen Festungen des deutschsprachigen, evangelischen Gemeindelebens in Ungarn. Neben den ungarischen Pfarrerkollegen verfügt die Gemeinde über eine ständige Stelle, die zu der Bayerischen Landeskirche gehört. Der jetzige Amtsinhaber, der gebürtige Nürnberger Holger Manke, legt seinen Dienst mit Ende Juni in Ödenburg nieder. Ihm ist zu verdanken, dass das evangelische deutschsprachige Gemeindeleben in den vergangen mehr als 10 Jahren durchaus explodiert ist und von den älteren Gemeindemitgliedern eine hypothetische Frage gar nicht mehr gerechtfertigt ist, ob es ein Nachwuchsmangel besteht. Die Antwort ist eindeutig. Auf keinen Fall! Wir sind auch während seiner Tätigkeit zu unserer Urgemeinde zurückgekehrt, die mit der Geschichte der Stadt untrennbar verbunden ist und bis heute vor allem das Ziel verfolgt, dem deutschsprachigen Protestantismus eine Kontinuität zu gewähren.
Wenn man sich also die Frage stellt, was das Evangelisch-Sein in Ödenburg ausmacht, ist es kein Wunder, dass die ersten Haltestellen die Kirche und die Gottesdienste sein werden.
Als Lutheraner verfügt man über die Möglichkeit, Gottesdienste nicht nur auf Ungarisch, sondern auch auf Deutsch erleben zu können. Sonntags um 9 Uhr ist die alte evangelische Kirche in der wunderschönen Innenstadt wieder mit deutscher Sprache belebt. Die älteren Generationen und die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen sitzen nebeneinander in den dunkelbraunen Bänken und singen die ausgewählten Lieder aus dem deutschen Gesangbuch. Sie sind aber nicht ein passives Publikum. Das Suchen nach einem Gottesdienst, der durch den Pfarrer allein gestaltet wurde, ohne Miteinbeziehung der Gemeindemitglieder, wäre eine unlösbare Aufgabe. Manchmal muss er sogar auf die Aufzählung der Mitwirkenden verzichten – mehrere Duzende Namen vorzulesen würde den zeitlichen Rahmen des Gottesdienstes sprengen. Und wenn es nur Lesungen gäbe! Um die Freude des Miteinanders im Haus Gottes noch wahrnehmbarer zu gestalten, ist die musikalische Mitwirkung in unserer Gemeinde unerlässlicher Teil von Gottesdiensten. Violine, Cello und Querflöte fühlen sich willkommen in der großen Kirche und verleihen dem Raum mit der prächtigen Orgel eine ganz feierliche Stimmung.
Obwohl die inhaltlichen Aussagen eines Gottesdienstes selbstverständlich jene Äußerlichkeiten überlagern, sind auch die eingeborenen Ödenburger vom Gebäude der Kirche noch immer fasziniert. Erbaut im 18. Jahrhundert und mit 2500 Sitzplätzen ist sie die größte in der Stadt und die drittgrößte evangelische Kirche Ungarns. Als erste evangelische Gemeinde in Ungarn wurde sie im Jahr 1565 gegründet. An der Architektur kann man sich auch während dem Gottesdienst ergötzen. Die gusseisernen Kamine, welche museale Werte verkörpern, ermöglichen einen angenehmen Aufenthalt auch in kälteren Jahreszeiten.
Wenn man während der Predigt von Mal zu Mal auch das Umfeld betrachtet, erblickt man zuerst die kleinen Namensschilder auf dem Pult der Bänke – einige unlesbar, andere spiegelblank, viele mit deutschen Namen, einige sogar ungarisch. Wir – wie alle anderen – versuchen uns immer zu unseren Vorfahren hinzusetzen. Diese Relikte alter Zeiten sind nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für die einzelnen Familien von immenser Bedeutung.
Doch darf man sich gar nicht nur auf die Gottesdienste beschränken. Die im Rahmen des evangelischen Gemeindelebens angebotenen Veranstaltungen sind unzählig. Diese sprechen jede Altersgruppe an und bieten Platz und Möglichkeit nicht nur für die Vorbereitung auf die Konfirmation, für die Diskussion der den Jugendlichen relevanten Themen in der Ifi-Gruppe (Jugendgruppe) oder für die Themen der Älteren im Glaubensgesprächskreis oder in der Wochenpredigt. Wir musizieren zusammen an dem jährlich veranstalteten Musikalischen Advent, fahren gemeinsam zu unseren Partnergemeinden nach Bad Wimpfen oder Seinäjoki und plaudern im Gemeindehaus nach dem Gottesdienst beim Kirchencafé. Das Kirchencafé bietet außerordentliche Möglichkeiten, sich besser kennen zu lernen und sich auszutauschen. All diese Erlebnisse sind Teil der evangelisch-lutherischen Identität in Ödenburg und sie tragen wesentlich dazu bei, dass die jüngere Generation das Erbe weiterführt.
Die Identität der Stadt beruht seit langer Zeit jedoch nicht nur auf der Kirche. Das evangelische Lyzeum ist sogar vor einer offiziellen städtischen Gemeinde gegründet wurde. Die seit 1557 im Sinne des Protestantismus ausgeübte Bildung stellt bis heute einen wichtigen Partner der evangelischen Gemeinde in Ödenburg dar. Mithilfe der seit der politischen Wende eingeführten Nationalitätenklasse verbindet die Schule die evangelischen Schüler über den vom amtierenden Pfarrer gestalteten Religionsunterricht unmittelbar mit dem deutschen Gemeindeleben. Und natürlich dürfen wir nicht vergessen, den evangelischen Friedhof zu erwähnen, auf dem unsere Vorfahren ihre ewigen Träume träumen. Der lutherische Friedhof in der Schlippergasse wurde 1886 eröffnet, nachdem der bisherige Friedhof im Hintergarten des Lyzeums voll war bzw. die Stadt über ihn hinausgewachsen war.
All diese Facetten des evangelischen Gemeindelebens – seien sie der geistlichen, seien sie der weltlichen Sphäre zuzurechnen – sind durch ein kräftiges Bindeglied vereinigt: durch die deutsche Sprache. Für die aktiven Gemeindemitglieder wird sie immerwährender Teil des Alltags bleiben, auch wenn sie sie sonst nirgendwo verwenden. Als ein stabiler Punkt ist sie in der Form der Gemeinde erhalten geblieben. Die Sprache ist unser Kulturerbe, das willig oder unwillig in uns lebt. Wir haben es erhalten und geben es weiter, sowohl im weiteren als auch im engeren Sinn.
Natürlich muss festgestellt werden, dass dies nicht mehr der deutsche Sprachgebrauch ist wie noch vor wenigen Jahrzehnten, als die Großeltern mit den Enkeln auf den Markt gingen und sich mit den „alten“ Onkeln und Tanten nur auf Deutsch unterhielten. Damals sprach in Ödenburg die Altersgruppe über 20-30 mehr oder weniger auf muttersprachlichem Niveau Deutsch – natürlich nur, wenn sie sich das an einem öffentlichen Ort trauten. Zu Hause war das anders… Natürlich ist jetzt alles anders. Jeder, der möchte, kann sein Deutschtum bekennen, die deutsche Sprache üben und sogar die schönen deutschen Zeilen von Thomas Mann oder Goethe aufsagen.
Unterschiede können natürlich vorkommen. Niemand kann sich wundern, dass das durch einen Muttersprachler bzw. eine Muttersprachlerin gesprochene Deutsch von der Sprachqualität her anders ausgestaltet ist als jenes von einer Person, die vielleicht überhaupt keinerlei Beziehung zum Ungarndeutschtum hat. An der Motivation besteht aber kein Mangel. Die Explosion der Gemeinde ist in unseren Augen vor allem diesem Faktum zu verdanken. Unsere deutschsprachige Gemeinde verfolgt nicht den Zweck, ihre Tätigkeit und Handlung ausschließlich auf Ungarndeutsche bzw. Muttersprachler zu begrenzen und damit als eine Art Sprachverein zu funktionieren. Unsere Gemeinde öffnet die Türe für alle, die das Evangelium auch in deutscher Sprache genießen und ihre Perspektiven unter Miteinbeziehung neuer Kommunikationskanäle erweitern wollen. Für die Neuhinzugekommenen entstehen somit neue Erkenntnisse und werden Teil einer lebendigen Vereinigung. Für die eingeborenen Ödenburger Ungarndeutschen wird das Forum weiterhin existent, wo sie sich in ihrem Glauben und ihrer Muttersprache austauschen können.
Die Stadt, die einst nur deutsch sprach und dann ungarisch wurde, hat wieder den wunderbaren Weg der Mehrsprachigkeit eingeschlagen – den besten Weg, miteinander bekannt zu werden, einander zu akzeptieren und die wahre Geschichte der Stadt und der in der Stadt lebenden Ungarndeutschen sowie das Deutschtum besser kennen zu lernen.
Bild: Ev. Kirche Wolfs/Balf, https://www.balfikirandulas.hu/img/balf/evangelikus-templom/karzat.jpg