Geschichten gewähren Einblick in die Vergangenheit der Schaumarer Schwaben
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Von Richard Guth
Das Bild auf Seite 47 sprang mir sofort ins Auge. Es zeigt eine betagte Schaumarerin in abgenutzter Alltagstracht, die gerade ihren Hof kehrt. Alte Erinnerungen wurden wach, an die Resi Pasl, Witwe des 1984 verstorbenen Johann Taller, eine geborene Binder, aus der Schaumarer Wanderergasse, ungarisch Turista utca.
Ich marschierte lange Zeit zu Fuß vom Kirchplatz, der Endhaltestelle der Buslinie 64, zu unserem Wochenendhaus auf der Hutweide unterhalb des Schmalzberges, die sich bis heute zu einem beliebten Wohngebiet entwickelt hat und die es manchmal wegen Trinkwasserknappheit in die Schlagzeilen schafft. Mit Resi Pasl, Jahrgang 1911, einem Maikind, unterhielt ich mich öfters, sie sprach schönstes Donaubairisch, so gut wie ohne ungarische Wörter zwischendurch. Ich sah sie oft am Arbeiten, sei es auf dem angrenzenden Acker oder dem Hof, denn ihr Reich lag gleich dahinter, die Sommerküche hinter dem Kádár-Würfel, in dem sie mit den Angehörigen wohnte. Bis ins hohe Alter besaß sie ein scharfes Sehvermögen und Gedächtnis, stets von weitem erkannte und grüßte sie mich. Resi Pasl wurde fast 100, sie starb 2008 mit 97 Jahren und erreichte das gleiche biblische Alter wie die Anfang September verstorbene britische Königin Elisabeth II.
In der zum Bild gehörenden Geschichte geht es um eine andere Bas, die Schulz Pasl, und eine rote Küchenuhr:
Die rote Uhr
Ich war ein junges Mädchen, vielleicht sieben, acht Jahre alt. Meine Oma lebte nicht mehr, daher passte die Schulz Pasl, die in der Nachbarschaft wohnte, auf mich auf, wenn meine Eltern an Fasching oder Kirchweih auf Bälle gingen. Ich mochte das Ambiente ihres kleinen Häuschens mit Stube und Küche, genauso den Duft des glänzend polierten Bodens, das beruhigende Ticken der auf der Kredenz stehenden roten Uhr und das Schnurren der Hauskatze, die am Ofen ihr Quartier bezog. Alles strahlte eine unheimliche Ruhe aus. Schulz Pasl hatte immer eine Kleinigkeit unter der Schürze versteckt – mal einen roten Apfel, mal ein Stück Traubenzucker.
Ich habe sie gemocht. Nicht so die Kinder, die in unserer Gasse wohnten! Sie hatten Angst vor ihr und nannten sie eine oidi Hex, eine alte Hexe. Es war auch was dran, denn die Bas war kleinwüchsig mit einem buckeligen Rücken. Sie hatte einen Stock und humpelte auf den linken Fuß. Beide Hände zitterten. Ihren zahnlosen Mund bewegte sie hin und her, als würde sie an irgendetwas kauen. Sie sprach wenig, sie war nicht gerade redselig. Sie trug einen schwarzen Rock, eine zusammengeflickte Schürze, eine Fiette sowie eine schwarze Juppel, eine Bluse, mit einem dunklen Tuch auf dem Kopf. Hübsch angezogen haben wir sie zuletzt bei der Beerdigung ihres Mannes gesehen. Sie hatte kein Kind, so blieb sie alleine.
Als diese rote Uhr sieben schlug, ging die Pasl humpelnd raus, um am Ende des Tages den Gehweg vor dem Haus, der nicht befestigt war, zu kehren. Um Punkt 19 Uhr, jeden Tag! Wir Kinder haben auf der Wiese gegenüber den Schulz´ Fußball und Versteck gespielt. Stets, als wir die Pasl erblickten, wussten wir, dass es sieben Uhr ist, Essenszeit. So bewegten wir uns in Marschtempo Richtung trautes Heim, damit wir keinen Ärger bekamen.
An warmen Sommerabenden kam es vor, dass wir in den Abendbrotzeiten mit elterlichem Einverständnis mit Schmalz- oder Zuckerbrot in der Hand länger auf der Wiese verweilten. Wir haben an dem Brot geknabbert und die Pasl beobachtet. Das große Tor war auf, so hatten wir freies Sichtfeld. Sie zog Wasser aus dem Brunnen und goss es in eine Gießkanne. Ein Großteil des Wassers floss daneben. Die Kanne schleppte sie auf die Straße und den Inhalt kippte sie auf den Gehweg. Mit dem abgenutzten Besen lief sie wieder auf die Straße, mit dem Stock in der linken und dem Besen in der rechten Hand. Sie nahm einen Schwung, drehte sich nach links und, als der Besen Boden fing, zeichnete sie verschwommene Muster in den Staub. Mit dem Besen musste sie vorsichtig umgehen, um durch den Schwung nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu fallen. Die Nachbarskinder haben sich darüber lustig gemacht, ich beobachtete es mit Sorge.
Sie war eine fleißige, arbeitsame Frau. Einst hat sie mit ihrem Mann mehrere Joch Boden bestellt. Trotz ihrem hohen Alter schaffte sie es nicht ruhig zu sitzen. Wir verstanden es nicht, warum sie jeden Abend dieser unnützen Tätigkeit nachging, denn die paar Tropfen Wasser waren schnell weg und der Gehweg blieb weiterhin vom Staub bedeckt. Aber so war sie nun mal.
Eines Abends versammelten wir uns erneut auf der Wiese und hörten aufmerksam Ildi zu, die über die neueste Episode der Fernsehserie „Tenkes kapitánya” erzählte. In unserer Gasse hatte nur die Familie von Ildi einen Fernseher. Inzwischen wurde es Abend, es war nach 20 Uhr. Der Ruf meiner Mutter holte mich in die Realität zurück. Ich lag bereits im Bett und war bei dem Gebet „Bevor ich mich zur Ruh begeb, zu Dir oh Gott mein Herz ich heb”, da fiel mir ein, dass wir heute Abend die Schulz Pasl nicht beim Kehren gesehen haben.
Ist ihr irgendwas zugestoßen? Ist sie womöglich gestürzt und kann nicht mehr aufstehen, oder fiel sie etwa in den Brunnen? Es könnte auch sein, dass sie in den Kellergefallen ist und um Hilfe schreit, aber die Rufe keiner hört! Ich konnte nicht einschlafen. Meine Mutter versprach, rüberzugehen und nach den Rechten zu schauen.
Ich hatte ein Nickerchen gemacht und erwachte auf das Flüstern meiner Mutter:
„Die Pasl ist in der Küche beim Sitzen eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte, zeigte die Uhr sechs. „Ich habe noch eine Stunde”, dachte sie und schlief wieder ein. Als sie aufwachte, war es bereits dunkel, aber der Zeiger stand immer noch auf sechs. Die Uhr blieb stehen, deshalb fiel das allabendliche Gehwegkehren aus. Jetzt weißt du Bescheid, der Pasl geht es gut. Kuadi Nocht, gute Nacht!”
„Kuadi Nocht!”, murmelte ich und fiel in tiefen Schlaf.
Die Pasl kaufte am nächsten Tag im Gemischtwarenhandel auf dem Kirchplatz einen silbernen Wecker, russisches Fabrikat. Ich mochte diese Uhr nicht. Ihr gewaltiges, lautes Ticken beherrschte die kleine Küche und drang auch in die Stube ein.
Jahre später haben die Erben das Haus der Schulz Pasl ausgeräumt. Bei den Lilien habe ich die rote Uhr erblickt. Ich bat um Herausgabe. Ich habe den Staub abgewischt, während ich meinte ihr stilles, gemütliches Ticken und das Murren der Katze zu hören und die Schulz Pasl beim Herüberreichen eines Apfels oder eines Traubenzuckers zu sehen. Und ich sah auch, wie sich um Punkt sieben das Tor öffnet und die Bas mit einer Gießkanne in der Hand den staubigen Gehweg betritt.
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Soweit die Geschichte.
Das Produkt eines ehrgeizigen Projekts hält der Leser in seinen Händen: „Schaumarer Geschichten – die Erinnerungen der hiesigen Schwaben”*, diesen Titel trägt die Zusammenfassung der 10-15 Jahre langen Sammeltätigkeit der Waldorfpädagogin und Kulturschaffenden Hilda Hellebrandt Hartmann. Die Covid-Phase bot ihr nach eigenen Angaben die nötige Zeit, um die Aufzeichnungen zu ordnen und aufzuarbeiten.
Die 60-Jährige gewährt dabei über kleine Geschichten, teilweise mit autobiografischen Bezügen, einen Einblick in das Leben der Angehörigen der deutschen Minderheit in Schaumar/Solymár, im Speckgürtel der ungarischen Hauptstadt gelegen. Die Gemeinde, die bis 1946 zu 95 % von Deutschen bewohnt war, verlor seitdem zusehends ihr deutsches Gesicht: Den ersten Einschnitt stellten Verschleppung und Vertreibung am Kriegsende dar, tragische Ereignisse, die sich in das Gedächtnis der Zeitzeugen und deren Nachkommen eingebrannt haben. Kein Wunder, dass sich viele Geschichten um diese beiden Ereignisse drehen! Bei der Vertreibung mussten knapp 2000 Menschen ihre Heimat Richtung Trizone verlassen. Die Kontakte zu den Daheimgebliebenen brachen aber nicht ab, das zeigen die Geschichten, in denen es um gegenseitige Besuche geht.
Das Besondere dieses Werkes der Oral History, also der erzählten Geschichte, ist der behandelte Zeitraum: Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der Nachkriegszeit, ein bislang wenig erforschtes Gebiet ungarndeutscher Geschichte. Besonders eindrucksvoll werden zwischenmenschliche Beziehungen beschrieben, nicht nur unter Schaumarern selbst, sondern auch mit Menschen außerhalb der Gemeinde: Die Nähe zur Hauptstadt bedeutete Kontaktmöglichkeiten, viele Budapester erinnern sich noch an die schwäbischen Obst- und Blumenverkäuferinnen in Volkstracht, die bis in die 1980er Jahre ihre Produkte am Heumarkt oder auf dem angrenzenden Moskauer Platz (heute wie vor Kriegsende Kálmán-Széll-Platz) auf der Ofner Donauseite oder am Bosnierplatz (ung. Bosnyák tér) auf der Pester Seite anboten. Hier eröffneten sich für manche ältere Schwäbinnen ganz andere Berührungsmöglichkeiten – so wird von einer Frau erzählt, die ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, was ihrem Arbeitsethos zuwiderlief – so versuchte sie mit allen Mitteln, sich aus dem Spital zu befreien, um nicht aus dem Geschäft mit den Pfingstrosen verdrängt zu werden.
Die Geschichten wirken auch deshalb so authentisch, weil Hellebrandt Hartmann, die nach langen Jahren in Deutschland vor 15 Jahren heimgekehrt ist und seitdem über die Laiendarstellergruppe Kumpanie und das Schwabenhaus, das sie aufgebaut hat, das kulturelle Leben der Großgemeinde bereichert, sich der Mundart bedient, auch wenn mithilfe der ungarischen Orthografie. Für ihre Bemühungen erhielt sie 2022 vom Gemeinderat die Auszeichnung „Für Schaumar”. Ihre Devise laute stets: „Ohne Inhalt geht es nicht”.
Das Werk zeigt eine Welt, die peu á peu verschwunden ist, aber trotzdem immer noch den Alltag vieler prägt, in einer Gemeinde, in der heute in großer Mehrheit Zugezogene leben. Das Buch richtet sich auch an sie, denn jedes Dorf hat seine eigene Seele – diese zu kennen hilft einem sich im neuen Umfeld zurechtzufinden.
Das Werk enthält zahlreiche Archivaufnahmen, die die Identifizierung mit den Menschen in den Texten erleichtert. Über einen QR-Code sind die dazugehörigen Tonaufnahmen erreichbar. Das Buch ist in ungarischer Sprache erschienen, auch wenn die meisten Geschichten in der Mundart erzählt wurden – es bleibt zu hoffen, dass der Erinnerungsschatz irgendwann auch in deutscher Sprache zugänglich wird.
* Solymári történetek. A helyi svábok emlékei. Eigenverlag von Hilda Hellebrandt Hartmann.- Schaumar/Solymár 2022. Zu beziehen über die Autorin (hhartmannhilda@gmail.com).