Von Robert Becker
Blicken wir vergangenen Epochen entlang in die Zeit zurück, so müssen wir es feststellen, dass nicht nur im Verhältnis unseres eigenen Lebens, aber auch im Dasein unserer Volksgruppe gravierende Veränderungen eingetreten sind, die alle Bereiche vom sozialen, vom Bildungs-, vom politischen, vom religiösen, vom ideologischen bis zum gesellschaftlichen Umfeld erfassen, die man nicht ignorieren kann, da sonst ein unwahres, verzerrtes Bild und ein verzerrtes Verhältnis zur Wirklichkeit des Alltags, in dem es zu leben gilt, entsteht.
Obwohl das Ungarndeutschtum gerade seine letzten Anker, die es im aktiven Dasein als Gruppe in der Gesellschaft durch den Gebrauch der eigenen Sprache und ihrer (er)lebbaren Eigenart darstellen und charakterisieren, verliert, fehlen Bestrebungen, allgemeingültige Anpassungs- und Bewältigungsstrategien aufzuweisen, wie auch anregende Diskussionen, die es beabsichtigen würden, ein Fortbestehen unserer Nationalität in der Tat zu bezwecken. So muss man sich ernste Gedanken darüber machen, ob bald noch etwas mehr von uns übrig bleibt, als eine Handvoll, sonst isoliert erscheinender und agierender bekennender Vertreter, sowie eine Anzahl von Funktionären, die den Schein des Seins nach außen noch lange genug werden aufrechterhalten wollen.
Da es keine Kohäsion mit Modellcharakter in unserer Volksgruppe mehr gibt, eine Lebensstrategie als Gemeinschaft fehlt, so geben auf die Frage, in welchem Maße man Merkmale der Zugehörigkeit zum Deutschtum in Ungarn beibehält, ob man sich offen zu ihr bekennt, Einzelne (bestenfalls einzelne Familien) eine Antwort – diese jedoch im ersten Sinne nur für sich selbst. Dieses Bekenntnis rührt entweder von der emotionalen Seite her oder trägt es den Charakter von Sinn und Zweck – meistens entlang wirtschaftlicher Überlegungen. Wenn man auch als Idealist dazu neigt, erhabenere Ziele vor Augen zu halten, ist dies in der Tat nicht zu verurteilen, schließlich soll man ja Möglichkeiten, wenn sie schon einmal gegeben sind, in den Dienst seines Broterwerbs stellen. Karriere zu machen, das Wohlwollen größerer Mehrheiten als die der eigenen Minderheit zu genießen, fällt halt dann mit prioritärem Gewicht in die Waagschale der Entscheidungen.
Neben dem Idealismus, eine Kultur, die sich heute nicht mehr durchsetzt, weil sie dazu nicht fähig gemacht worden ist, sich bei den allgemeinen Bedingungen der Zeit weiter zu behaupten, zu pflegen und eventuell noch weiterzugeben, spricht vielleicht nur noch für ein gewisses, unerklärliches, hartnäckiges – nennen wir es – Bewusstsein, das in einem noch über die seit unserer Ansiedlung vollbrachte Leistung Stolz erzeugt, aber eine über die Person hinausgehende Auswirkung nicht mehr haben kann, zumal es ja nur noch um die Zugehörigkeit zu einer bis auf Einzelelemente dezimierten Minderheit geht.
Ob sich der Idealismus, wonach die Pflege und die Überlieferung sprachlich-kultureller Erscheinungen sowie nuancierter und punktueller Merkmale einer sich ehemals etablierten Lebensweise, die in einem wissenschaftlich-ethnologisch gesehenen Aspekt in dieser östlichen Breite während zwei-drei Jahrhunderte zwar eine spezifische Eigenart angenommen, aber sich bis heute immer mehr zurückgezogen und angeglichen hat, lohnt, obwohl sie sich als Wert ja kaum mehr richtig definieren lässt – wenn nicht nur in der Form von anzuzapfenden Mitteln, die als Subventionen zur Verfügung stehen, jedoch zum Fortbestand genannter Spezifika einer Volksgruppe eh nicht mehr beitragen können, ist eine höchsttheoretische Frage.
Seit etwa hundertfünfzig Jahren ist in diesem Land die Karriereschiene an Sprache und Namen gebunden ungarisch – selbst wenn dieser ausgesprochene Tatbestand Ausnahmen zugelassen hat und zulässt. Festzustellen ist aber dennoch, dass sich diese Taktik bewährt hat und bis heute Erfolge erzielt. Was in diesem Zusammenhang mit Bedauern selbst in den eigenen Reihen zu beobachten ist, ist die Erscheinung, dass man den letzten Rest der bekennenden, ambitionierten Vertreter gerne entbehrt oder sie liebend gerne zum Beispiel auswandern lässt.
Im Bezug auf unser Mehrheitsumfeld, in dem wir uns in Beibehalt unserer Sprache und Kultur behaupten sollten, sowie in Anbetracht staatlich-ideologischer Ausrichtung fragt man sich wiederum danach, ob das bis in unsere heutige, sich als aufgeklärt betrachtende Zeit noch einen Sinn hat, in den in der Tat überwundenen Kategorien zum Beispiel der Nationalstaatlichkeit so zu denken, dass man in einem gegebenen geographischen Gebiet Einsprachigkeit und kulturelle Monotonie beabsichtigt und so Minderheiten nur bis zu einem Scheindasein fördert, statt dessen, dass man es doch langsam einsehen würde, dass der Frieden, die gegenseitige Achtung und Akzeptanz nicht nur in der Homogenität, sondern – und gerade – in der gelebten Vielfalt seinen Mittelpunkt finden kann.
Es kann aber sein, dass beabsichtigte geopolitische und geostrategische Richtlinien ihren Kurs eben sehr bewusst auf als längst überwunden betrachtete Geistesquellen nehmen. Ob dies von der sonstigen und doch vorherrschenden Richtung der Lauf der Dinge in der Welt akzeptiert wird oder nicht, das wird man noch abwarten müssen, aber was fest steht, ist, dass nach der politischen Wende Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre statt der wahren Befriedung und statt des Zueinanderfindens durch wahres Interesse und Dialog es unter dem nicht zu festen Boden so heftig gebrodelt hat, dass es jetzt eigentlich wieder um die Verteilung und Neuordnung der Welt geht. Eine Volksgruppe müsste dabei in ihrem Brückencharakter zwischen Völkern und Kulturen ihre Stellung beziehen und für Ausgleich sorgen, wo dies nur möglich ist.
Es gibt Pflanzen, die zwar schön sind, aber giftig. Ein Fliegenpilz kann in seiner Erscheinung eine Freude für das Auge sein, zu seiner Nahrung sollte man ihn aber nicht machen. Unsere fleischfressende Giftpflanze ist gleichsam die Tradition geworden. Die Tatsache verkannt, dass die Tradition zur Hauptnahrung statt der Vitamine des Alltags gemacht nur unverdauliche Pappe ist, sind wir zu unserem eigenen Sonntagspanoptikum geworden. Sein allgemeines Dasein fristet man unter dem Strich der Rechnung in allen weiteren Merkmalen, wie es auch die Sprache ist, in der Wirklichkeit von heute nur noch als Anpassung an den ungarischen Alltag. Die Tradition ist alleine als Ergänzung, als Besinnung, als Pflege vom hochwertigen Erbe der Ahnen eine wahre Bereicherung, jedoch nicht als Hauptgang vom Selbstdarstellungsmenü auf dem Tisch der Behauptung. Leider haben wir unser allgemeines Merkmal, als Gruppe und Gemeinschaft im Hier und Jetzt mit jeder Situation unseres Lebens auf unsere Eigenart und in unserer Sprache fertig zu werden, was unseren Willen zum Dasein als Volksgruppe so nach innen wie auch nach außen signalisieren würde, verloren. Dieses Vakuum kann die Tradition alleine nicht füllen.
Die wenigen bekennenden Kulturvertreter und Kulturschaffenden, die das Deutschtum in Ungarn heute noch hat, sollte die Volksgruppe mit beiden Händen hochhalten, schon weil sie nicht nur reproduzieren, nachmachen oder konservieren, sondern schöpfen, Neues zu Tage fördern, nachdenken und zum Nachdenken anregen – auf diese Weise also innovativ sind. Die Entschlossenheit ist wichtig, die Klarheit von Zielen und Gedanken, die Konsequenz in seiner Haltung, die dazu anregen kann, einen Alltag Wert zu machen, ihn nachzuleben, weil er zeitgemäß ist, und dadurch einen als Glied von jener Kette behält, die uns heute und jetzt an unserer Ahnenreihe festmacht und verankert.
Eine Maxime der gelebten Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe sollte beispielhaft und nachahmenswert vorgelebt werden. Statt dessen gibt es den breiten Querschnitt unserer kleinen Masse, der es gelernt hat, sich mit dem Schein zu begnügen und in dieser Zufriedenheit sich ins Publikum der Festtagsprogramme hockt, ohne sich ernst noch danach zu fragen, wieso der Gesang von der Bühne so kraftlos und falsch ertönt und rüberkommt.
Ist also die Frage zu beantworten, wo wir nun als Deutsche in Ungarn stehen? Ich denke, selbst die Suche nach einer Antwort solcher Art hat aktuell keine wahre Relevanz (mehr). Andererseits ist auch nicht anzunehmen, dass sich jemand noch die Mühe geben würde, so ein Unterfangen auf sich zu nehmen. Demzufolge ist es auch verständlich, wenn man bei näherem Betrachten sieht, wie sich das Ungarndeutschtum aktuellen, in der Wirklichkeit nicht aus ihm entsprungenen sowie ihm, seinem Interesse nicht dienenden Strömen und Bestrebungen – sich auch längst nicht mehr selbständig und tatsächlich bestimmend, formend oder gestaltend – anschließt. Als Gemeinschaft zu agieren hat das Ungarndeutschtum die Kraft verloren, und wohl auch das Interesse daran. Es ist nicht gut so, aber es ist so – und Tatsachen sind halt hartnäckige Gesellen, selbst wenn man sich ihnen nicht so gerne stellt…
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