Von Richard Guth
Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 10. November 2022 ist am Dienstag bekannt geworden: Das renommierte und regierungskritische Wirtschaftsmagazin „Heti Világgazdaság” (HVG) berichtete auf seiner Onlineplattform hvg.hu über das Gerichtsurteil, das das ungarische Wahlgesetz bezüglich der Verletzung des Wahlrechts von Minderheitenangehörigen in mehreren Punkten verurteilt und für Ungarn bindend ist.
Der Gerichtshof entschied im Fall Bakirdzi und E. C. gegen Ungarn (das Urteil kann in englischer Sprache hier nachgelesen werden: https://hudoc.echr.coe.int/eng?fbclid=IwAR16vD3Otot9yyDa0yGBioiZQpddWh3juu75tEkYwmdrraPPxHzRW5ts74U#{%22itemid%22:[%22001-220672%22]}, eine etwas benutzerfreundliche Zusammenfassung, ebenfalls in englischer Sprache, ist hier zu lesen: https://www.echrcaselaw.com/en/echr-decisions/electoral-system-which-in-practice-excluded-representatives-of-national-minorities-from-entering-the-parliament-violation-of-the-right-to-free-elections/), dass es problematisch ist, dass die registrierten Nationalitätenwähler auf ihr Parteilistenwahlrecht verzichten müssen – eine Kritik, die auch in der ungarländischen Öffentlichkeit bereits vielfach vorgebracht wurde. Ferner wird das Prinzip des Wahlgeheimnisses verletzt, durch die Verlautbarung der Listenwahl durch die Registrierung und durch die Einheitsliste, die nach Auffassung des Gerichts eine geschlossene Liste ist – auch die OSZE-Wahlbeobachter haben in der Vergangenheit mehrfach kritisiert – wie auch im Gerichtsurteil zitiert -, dass die Auswahl der Mitglieder der Nationalitätenwahlliste nicht transparent sei und dass es für den Nationalitätenwähler wegen der Einheitsliste keine richtige Wahlmöglichkeit bestehe, zumal nur der Erstplatzierte realistisch ein Abgeordnetenmandat erringen könne (Letzteres ein Kritikpunkt der Kläger).
Darüber hinaus stellte der EGMR fest, dass die Tatsache, dass die beiden autochtonen nationalen und ethnischen Minderheiten, die griechische und die armenische, keine rechnerische Chance besäßen, einen vollwertigen Abgeordneten ins Parlament zu entsenden, eine Rechtseinschränkung darstelle. Das war auch einer der Kritikpunkte der Klägerin Kaliope Bakirdzi, Angehörige der griechischen Nationalität in Ungarn, deren Klage sich ein(e) 32-jährige(r) Angehörige(r) der armenischen Minderheit anschloss. Die Klägerin halte es, wie hvg.hu zitiert, „für eine Diskriminierung, dass 11 von 13 Minderheiten aufgrund ihrer Zahl keine Chance haben, ein „vollwertiges” Mandat jeweils zu erlangen, d. h. für den eigenen Kandidaten jeweils einen Parlamentssitz zu sichern, lediglich die Entsendung eines Parlamentarischen Fürsprechers ohne tatsächliche Kompetenzen ist möglich, für den im Vergleich zu einem Wahlkreis- oder Parteilistenabgeordneten praktisch keine politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten bestehen. Meine Stimme als Angehörige der griechischen Nationalität geht sicher verloren, wenn ich für die Nationalitätenwahlliste stimme, während ich deshalb nicht mal für eine Parteiliste stimmen kann”. Die Klägerin habe in Erinnerung gerufen, dass von den 140 registrierten ungarngriechischen Wählerinnen und Wähler 2014 lediglich 102 ihre Stimmen abgaben. Eine Tatsache (Erstere), auf die auch das Gerichtsurteil hinweist. Auch dieses Jahr war die Zahl der Registrierten mit 232 weit entfernt von den 22.000 gültigen Ja-Stimmen, die für die Wahl eines vollwertigen eigenen Abgeordneten (Vorzugsmandat) 2014 notwendig gewesen wären. Allein Emmerich Ritter übersprang diese Hürde und sicherte sich wie 2018 ein Mandat für sich und die deutsche Minderheit.
Bezüglich der Listenwahl weist Bakirdzi gegenüber hvg.hu auch auf das Problem hin, dass durch die Registrierung auch das Prinzip des Wahlgeheimnisses verletzt werde, denn die Allgemeinheit wisse durch die Registrierung, dass sie für die Griechische Wahlliste stimme, wohingegen man bei Wählern, die ihre Zweitstimme auf eine Parteiliste abgeben, das genaue Abstimmungsverhalten nicht feststellen könne – diesem Kritikpunkt hat auch das Gericht gefolgt.
Die Klägerin übte gegenüber dem Wirtschaftsmagazin eine deutliche Fundamentalkritik am System und dessen Repräsentanten: Bakirdzi störe sich daran, dass der Nationalitätenabgeordnete (der deutsche Abgeordnete Emmerich Ritter, Red.) und die Fürsprecher diese obigen Probleme des Wahlsystems nie beanstandet hätten – aus Sicht der Klägerin deswegen, weil man eine „Schaufensterpolitik” betreibe und die gut verdienenden Nationalitätenabgeordneten und -fürsprecher nicht wirklich eine tatsächliche Interessensvertretung anstrebten. Das System begünstige nur das eine Dutzend Menschen, die Abgeordneter und Fürsprecher sind, und darüber hinaus könne die Regierung – zum Teil über die genannten Personen – mit ihrer Förderpolitik Einfluss auf die Minderheiten ausüben.
Das Gerichtsurteil, das unter anderem von Dr. Péter Paczolay – unter den konservativen Staatspräsidenten Dr. Franz Madl und Dr. László Sólyom Mitglied in der Präsidialamtsleitung sowie während der Amtszeit der zweiten Orbán-Regierung Botschafter der Republik Ungarn in Italien -, der entgegen von zwei Corichtern keine Sondermeinung formulierte, gezeichnet ist, lobt das Bemühen des ungarischen Wahlsystems um die Beteiligung der Minderheiten an der politischen Willensbildung, aber bemängelt die obigen Punkte, was nach Ansicht der Richter ein Verstoß gegen Artikel 14 bzw. Artikel 3 des 1. Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention, wo es um das Verbot jeglicher Diskriminierung und die Freiheit der Wahl geht, darstellt. In Folge behindern die Bestimmungen laut EGMR die Effektivität der politischen Vertretung der Minderheiten und somit den Grundgedanken der Pluralität. Der Gerichtshof fordere Ungarn auf, ohne zeitliche Vorgaben, wie der Anwalt der Klägerin Bakirdzi, Dr. Dániel Karsai, gegenüber HVG betonte, um den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen.
Das Onlineportal bat das Justizministerium um eine Stellungnahme – bis zur Veröffentlichung des Artikels habe dieses aber keine Antwort erhalten.