Von Richard Guth
Ein echtes Filetstück fiel mir in einer Budapester Libri-Buchhandlung in die Hände – eine Monografie* der Sprachwissenschaftlerin Borbála Heltai-Pach, die sich mit dem Sprachgebrauch in der Branauer 750-Seelen-Gemeinde Gereschlak/Geresdlak beschäftigt. Herausgebracht wurde das Buch von dem ungarischen Ableger des französischen Verlags L’Harmattan, der mich in der Vergangenheit schon mehrfach mit anspruchsvoller Fachliteratur mit geisteswissenschaftlichem Bezug beglückt hat – eigentlich eine absolute Nische auf dem ungarischen Markt, die durch die Entwicklung in den letzten Jahren in der Branche auch nicht gerade gestärkt wurde.
Das Interessante am Ort Gereschlak ist die Präsenz von Finnen, die sich seit der Wendezeit in der unweit von Fünfkirchen gelegenen Gemeinde niedergelassen haben. Die Entstehung der Monografie ist der jahrelangen soziolinguistischen Forschungstätigkeit von Heltai-Pach, die Hungaristik, Germanistik und Finnistik studiert hat, zu verdanken – die junge Forscherin hat dabei nicht nur Interviews mit Dorfbewohnern ungarndeutscher, madjarischer/seklerischer, bundesdeutscher und finnischer Herkunft geführt, sondern wurde infolge dessen nach eigenem Bekunden zu einem Teil der Dorfgemeinschaft, was auch die Übernahme zusätzlicher Dienste bedeutete.
Heltai-Pach geht in ihrer Monographie der Frage von Mehrsprachigkeit in Gereschlak nach – der Fokus liegt eigentlich auf dem Exotischen, nämlich der Ansiedlung von etwa 25-30 Hausbesitzern, Familien finnischer Herkunft, und deren Folgen für das Gemeinschaftsgefüge. Dennoch bietet das Werk auch einen fundierten Einblick in die wahrlich komplizierte sprachliche Situation der deutschen (Stifolder) Minderheitenangehörigen in dieser Branauer Gemeinde. Gleich zu Beginn ein Zitat: „Die Mehrheit der Finnen kommuniziert (Untersuchungszeitraum: 2009-2016, R. G.) in Gereschlak vornehmlich mit Hilfe der Ressourcen, die sich aus den deutschen Sprachkenntnissen speisen. Je mehr Zeit sie im Dorf verbringen, desto mehr ungarische Komponenten werden zum Teil ihres Repertoires. Die Mehrheit der Finnen hat kürzere oder längere Zeit Deutsch in der Schule gelernt. Diejenigen, die längere Zeit in der Schule Deutsch hatten oder früher in einem anderen Kontext die deutsche Sprache benutzten, bauen auf die Variante auf, die sie sich auf den genannten Schauplätzen angeeignet haben, wobei sie sich peu á peu mit der lokalen Varietät bekanntmachen. Diejenigen, die wenig oder gar kein Deutsch hatten, übernehmen diejenigen deutschen Sprachressourcen in ihre Sprachpraxis, mit denen die Einheimischen sie konfrontieren. Eine 42-jährigige Finnin erzählte, dass sie früher nie Deutsch gelernt hat, erst im Dorf fing sie an, deutsch zu sprechen – wie sie sagt: „Ich kann es gar nicht, ich rede nur.”
Ein erstaunlicher Befund: Finnen, die sich in Südungarn niederlassen und sich der deutschen Sprache bedienen! Heltai-Pach räumt ein, dass es mittlerweile welche gäbe, die sich um Ungarisch bemühen würden, aber Kommunikationsmittel Nummer 1 sei Deutsch. Dies führt die Linguistin unter anderem auf den Stellenwert der deutschen Sprache in Europa und die Nähe zum Schwedischen zurück – eine der beiden Amtssprachen in Finnland, die jedem Finnen geläufig ist.
Die durchgeführten Interviews waren je nach Herkunft des Interviewpartners dreisprachig: mit den Finnen auf Finnisch, mit den Deutschen auf Deutsch, mit den ungarischen Staatsbürgern deutscher oder madjarischer Herkunft/Volkszugehörigkeit auf Ungarisch. Nach Erinnerungen von Heltai-Pach zeigten sich viele Ungarndeutsche mittleren Alters erleichtert, das Interview nicht auf Deutsch führen zu müssen.
Wiederum ein interessanter Befund, was unsere Erfahrungen bestätigt! Die Autorin bringt Beispiele dafür, dass man von einer komplexen Gemengelage hinsichtlich der deutschen Sprache sprechen kann. Dabei, so die Ergebnisse, überschätzten gerade Zugezogene die Verbreitung der deutschen Sprache – ihre ungarndeutschen Mitbewohner sprechen von einem begrenzten Gebrauch der deutschen Sprache im Alltag. Auch die Autorin widmet sich der Frage des Sprachgebrauchs in Gereschlak: Dabei unterscheidet sie – auch bezüglich der Intensität des Sprachgebrauchs – zwischen drei Generationen, das Wendejahr stellt für die Forscherin 1944 dar, denn danach kamen ungarischsprachige Siedler (telepesek) nach Gereschlak („was den Sprachwechselprozess eindeutig beschleunigte”). Eigentlich handelt es sich ursprünglich um zwei Orte, außerdem entfaltete sich die Madjarisierungswirkung der Schule, was den Sprachgebrauch beeinflusste. Bei den ältesten Generationen – so bei einem im Jahre 1925 Geborenen – geschah die Sozialisation über die Mundart, die interfamiliäre Kommunikation war und ist nach Ergebnissen von Heltai-Pachs Forschungen deutsch. In den beiden anderen (jüngeren) Generation verschob sich die interfamiliäre Kommunikation zugunsten des Ungarischen. Beeinflusst würde dies aber auch von der Herkunft der Familienmitglieder, der Berufstätigkeit im deutschsprachigen Ausland oder bei deutschen Firmen in Ungarn. Bemerkenswert ist der Fall eines zum Zeitpunkt des Interviews 64-jährigen Interviewpartners, der als Madjare in eine schwäbische Familie eingeheiratet hatte, wo er sich nach eigenem Bekunden die deutsche Sprache, die Mundart, aneignete. Früher, also in den 60ern und 70ern sei der Gebrauch des Dialekts ohnehin noch weit verbreitet gewesen, steht es an anderer Stelle. Die Finnen hätten nun das Nordic Walking, also Spazierengehen in Gruppen, vermittelt, so dass jetzt auch Gruppen von Schwaben und Schwäbinnen solche Aktivitäten entfalten und dabei stifoldisch sprechen würden. Aber auch Jüngere würden sich freitagabends im Café bei „Martha” versammeln, um die Mundart zu üben. Die jüngeren Schwaben würden aber oft spaßeshalber die Mundart verwenden. Damit hängt nach Ansicht von Heltai-Pach auch der lokale Wertverlust der deutschen Sprache (inklusive Mundart) zusammen, die aber global eine Rolle spiele.
Heltai-Pach stellt diesen Befund in einen größeren Zusammenhang: „Die Mehrheit der Interviewpartner betrachtet den Prozess des Sprachwechsels als einen natürlichen, aber dennoch einer aufgrund externer Gründe („Nun ist es halt so.”). Nur sehr selten erschien das Individuum als Mitspieler, der diese Prozesse beeinflussen kann. Eine Ausnahme bilden diejenigen Interviewpartner aus der jüngeren Generation – die aber einen verschwindend geringen Anteil in der Bevölkerung vertreten -, die mit ihren Kindern die lokale Mundart bewusst, zwecks einer Kompetenzorientierung, sprechen, beziehungsweise die Großeltern mit den Enkeln dasselbe tun.” Die Autorin stellt dabei Familien vor – in jeder Familie fand sich mindestens ein Lehrer oder eine Lehrerin. Eine damals 29-jährige Deutschlehrerin begründet ihre Entscheidung mit dem Charakter der lokalen Mundart als Unikat, der Verbindung von ethnischer Identität mit der Sprachpraxis („Was macht einen Schwaben denn aus, wenn er kein Schwäbisch spricht”) und dem Verschaffen von Vorteilen. Sie und andere Interviewpartner – insgesamt wenige – wiesen auf die Gefahr hin, dass der Sprachverlust auch die Bindung zur lokalen (deutschen) Kultur zerstöre. Ohnehin wurden in den Interviews Befürchtungen vor einer Entvölkerung von Gereschlak durch die Abwanderung der Jugend geäußert, was den Verlust der Mundart (Würde man in 20 Jahren noch Schwäbisch sprechen?) weiter beschleunigen könnte.
Heltai-Pach geht neben dem deutschdominanten Kommunikationsmuster der Finnen – wobei auch diese Gespräche durchsetzt seien mit ungarischen und teils englischen Begriffen, was eine große Vielfalt darstelle – auch auf das der Deutschen ein – die aus Gereschlak Stammenden würden in Deutschland die deutsche Sprache, in Ungarn beide benutzen; hier spiele das Alter und die Sozialisation (im ungarischsprachigen Umfeld) eine Rolle. Die aus Deutschland Stammenden würden deutsch kommunizieren und lediglich Höflichkeitsformeln auf Ungarisch verwenden.
Eine interessante Facette stellt die Untersuchung dessen dar, wie man versucht das sprachliche Landschaftsbild in Gereschlak zu konstruieren: Dabei unterscheidet die Autorin zwischen einer „Top-Down”- und einer „Bottom-Up”-Praxis. Das bedeutet, aus welcher Richtung Initiative ergriffen wird: Beim Ersteren geht es um ein aktives Zutun der Kommunen, beim Letzteren um Aktionen der Gemeinschaft. Die Autorin stellt Beispiele für beide vor, unter anderem mehrsprachige Aufschriften an Gebäuden, Orts- und Straßenschilder, sogar in finnischer Sprache, was von den Finnen unterschiedlich wahrgenommen würde, aber mehrheitlich als nette Geste. Genauso finden sich aber auch zwei- oder dreisprachige Aufschriften und Werbebeiträge im kommerziellen Rahmen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Sprachgebrauch beim Germknödel-Festival (Gőzgombóc Fesztivál), wo die deutsche und finnische Sprache lediglich eine symbolische Funktion erfüllten und nicht die einer Vermittlungssprache.
Diese Rezension stellt nur wenige wichtige Erkenntnisse heraus. Die Monographie enthält unzählige weitere und lädt geradezu ein, sich über das Beispiel dieses 750-Seelen-Dorfes und über Zukunftsfragen der deutschen Minderheit in einer sich wandelnden Zeit intensiv Gedanken zu machen.
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* Heltai-Pach, Borbála (Pachné Heltai Borbála): Többnyelvűség Geresdlakon (Mehrsprachigkeit in Gereschlak).- Budapest 2020