Der Darmstädter Schwabenball der 1950er Jahre als Zankapfel zwischen den gemäßigten und den radikalen „Deutschbewussten“

Von Krisztina Kaltenecker

Teil 1 Die Etablierung des Schwabenballs in Darmstadt 1951

In den 1950er Jahren umfasste der Stadtteil Darmstadt-Süd/Heimstättensiedlung mehrere Siedlungen: Die eigentliche Heimstättensiedlung („Altsiedlung“) der Einheimischen aus den 1930er Jahren, die Buchenlandsiedlung der Bukowinadeutschen und die Donausiedlung der ungarndeutschen Heimatvertriebenen. Alle drei „Randsiedlungen“ befanden sich damals kontinuierlich im grundsätzlich von verschiedenen Bau- und Siedlungsgenossenschaften vorangetriebenen Aufbau. Zeitgleich mit der Überwindung der schlimmsten wirtschaftlichen Not und des bedrückendsten sozialen Elends der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden hier bestimmte Strukturen für kulturelle und sportliche Aktivitäten von den Siedlergruppen bewusst geschaffen, zum Teil sogar organisatorisch manifestiert und dadurch schlussendlich verfestigt wie Kultur- und Sportvereine oder Kirchweihfeste.

Der erste „Schwabenball“ der ungarndeutschen Heimatvertriebenen fand 1951 in Hessen, genauer in der „kleinen Großstadt“ Darmstadt statt, die zu der Zeit insgesamt rund 95.000 Einwohner hatte. Darmstadt als hessischer Veranstaltungsort war eine vortreffliche Wahl, weil damals in der zwischen Griesheim und Darmstadt liegenden Sankt Stephan-Siedlung Schätzungen zufolge bis zu 100 katholische und in der Donausiedlung etwa 40 bis 60 evangelische Zwei- bis Vier-Generationen-Familien aus Ungarn lebten. Somit befand sich in und um Darmstadt-Südwest zweifellos das bedeutsamste Zentrum der heimatvertriebenen Ungarndeutschen in Hessen.

Die Hauptorganisatoren waren zugleich Gründungsmitglieder der hessischen Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn wie beispielweise Ernst Gori (auf Ung. Góri Ernő) aus der Donausiedlung oder die in Frankfurt a.M. lebende Schlesierin Irma Steinsch. Gori wurde 1949 zum Vorsitzenden der landsmannschaftlichen Vereinigung der sogenannten „Deutschbewussten“ in Hessen gewählt. Seit Juni 1950 unterrichtete er in der gerade eben aufgebauten Friedrich-Ebert-Schule Heimstättensiedlung/Darmstadt. Irma Steinsch war die Begründerin der Donausiedlung Darmstadt, ferner die „Managerin“ und Aufsichtsratsvorsitzende der Ungarndeutschen Bau- und Siedlungsgenossenschaft Darmstadt-Süd/Donausiedlung e.V.  Sie nahm auch die Geschäftsleitung der hessischen Landsmannschaft wahr.

Als Veranstaltungsstätte fungierte beim ersten Schwabenball noch der kleine Concordiasaal, bei den darauffolgenden die viel größeren Säle auf der Mathildenhöhe. „Die Schwabenbälle waren gesellschaftliche Ereignisse, zu denen die Landsleute von weit her angereist kamen, um Verwandte und Freunde zu treffen und mit ihnen ‘wie zu Hause‘ zu feiern und die wunderschönen bäuerlichen Trachten der einzelnen Dörfer stolz zu präsentieren“, erinnerte sich der Zeitzeuge Landrat a.D. Josef Lach jun. 2008 an die immense Bedeutung der ersten Darmstädter Schwabenbälle beim Heimisch-Werden der ungarndeutschen Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik. Ferner schrieb Lach ebenfalls 2008 zu der sozusagen Neuerfindung des Schwabenballs und der Reaktivierung der Trachtenkleider auf hessischem Boden Folgendes: Da viele Frauen nicht mehr im Besitz ihrer Trachten waren, weil sie sie bei der Flucht oder Vertreibung gar nicht hätten mitnehmen können oder aber bereits moderne Kleider für ihre Töchter daraus gefertigt hätten, hätten die Mütter für die Mädchen und jungen Frauen in der Regel aus noch vorhandenen Stoffen extra für die Teilnahme am Schwabenball eine heimatliche Tracht anfertigen müssen.

Der Erfolg des Schwabenballs inspirierte Ernst Gori, für den Erhalt des mitgebrachten Kulturguts in der Donausiedlung einen Kulturverein zu gründen. Zwei weitere Zielsetzungen des Ungarndeutschen Kulturvereins sollten primär die Chancen für den sozialen Aufstieg der Siedlerkinder erhöhen. Man wollte den Bildungsrückstand aufholen und die Integration auch durch Kennenlernen der neuen Heimat durch Fahrten und Vorträge fördern. Es war geplant, einen Chor und eine Laienspielgruppe aufzustellen. Die noch bei der Ankunft in der Notunterkunft des Evangelischen Hilfswerks Darmstadt entstandene Tradition der gemeinsamen Weihnachts-, Silvester-, Geburtstags- und Trauerfeier der „Siedlerfamilie” sollte auch der Kulturverein weiterführen.

Teil 2 Der Konflikt innerhalb der landsmannschaftlichen Vereinigung der Deutschbewussten in Hessen

Goris persönliches Engagement für die Darmstädter Etablierung des Schwabenballs diente – durch eine realitätsbezogene Neukonzipierung – der Wiederbelebung der in Ungarn gepflegten Kulturtradition. Sein primäres Anliegen war eine „heimatlich geprägte“ Feier, ein großes „Familienfest“, das den überall in der Bundesrepublik zerstreut lebenden Landsleuten, die sich zuletzt in den Verteilungslagern gesehen hatten, die Chance bot sich wiederzusehen. Zudem sollte eine sogar für einheimische Hessen oder US-amerikanische Besatzungskräfte attraktive Plattform für ein gegenseitiges Kennenlernen sowie für fröhliche, gesellschaftsschichtübergreifende Geselligkeit geschaffen werden. Mit diesen „laschen“ der gesellschaftlichen Valenzbildung dienenden Zielsetzungen, denen es an sozialpolitischen Ecken und Kanten mangelte und die somit zur offensiven vertriebenenpolitischen Profilierung ungeeignet schienen, waren aber die von Heinrich Mühl (1901–1963) angeführten ehemaligen Volksdeutschen Kameraden und Kameradinnen (wie beispielweise Irma Steinsch und Heinrich Neun) nicht zufrieden. Sie betätigten sich ab 1951 in der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung ungarndeutscher Interessen (Frankfurt a.M.), um sowohl die laufende Ansiedlung und Eingliederung als auch die eventuelle gemeinsame Rückkehr der ungarndeutschen Heimatvertriebenen in das von Kommunisten befreite Ungarn maßgeblich mitbestimmen und mitgestalten zu können. Sie hatten noch den Usus der vormaligen Volksgruppen- bzw. Volksbundführung in lebhafter (und guter) Erinnerung. So konnte der alljährliche Budapester „Landesschwabenball“ gegenüber den Regierungsstellen als minderheitenpolitisches Druckmittel zur imposanten Großkundgebung der inneren Geschlossenheit und Stärke der überwiegend bäuerlichen „Volksgruppe“ instrumentalisiert werden. Die gelungene Darmstädter Festveranstaltung wurde von ihnen bereits 1952 zur „würdigen Schau der ungarndeutschen Volksart“ verklärt, um ihr einen übergeordneten vertriebenenpolitischen Sinn zu geben und sie auch als Forum für landsmannschaftliche Agitation und Propaganda zu nutzen.

Nachfolgend einige Beispiele für die 1952–1954 anlässlich des jährlich wiederkehrenden Fests in Darmstadt vor einer landesweiten Öffentlichkeit verkündeten Thesen des Arbeitskreises um Heinrich Mühl:

Der Darmstädter Schwabenball sei ein Ball,

  1. der ungarndeutsche Heimat stiftet; daher sei er ein „Heimatball“ der „Volksgruppe“,

  2. der die Manifestierung der Anerkennung durch die Landes- und Stadtregierung sei, dass die Ungarndeutschen „vollwertige Staatsbürger“ seien,

  3. der die Erinnerung daran sei, dass ein Teil der jetzigen ungarndeutschen Vertriebenen über Vorfahren verfügt, die vor etwa 200–250 Jahren aus Hessen ausgewandert sind, folgerichtig sozusagen urhessisch (historisch gesehen hessischer als die meisten heutigen Hessen) sei,

  4. der (in Bezug auf die Lastenausgleichs-Pläne der Bundesregierung und den Hessenplan) beweisen würde, dass die Ungarndeutschen für jegliche seelische, geistige, politische und materielle Eingliederungshilfe würdig seien,

  5. der den Kreis um Ludwig Leber (Stuttgart), der die Ungarndeutschen von den Deutschen segregieren und in das nationalungarische Lager überführen wolle, politisch demaskieren würde,

  6. der ein Forum sei, das der rechtsgeschichtlichen Aufklärung diene. Bei der Abwägung der Rückkehrchancen seien die Ungarndeutschen unter den Landsmannschaften, die aufgrund des Potsdamer Abkommens vertrieben wurden, zu positionieren, also kategorisch nicht unter den „Südostdeutschen“ usw.

Es war kommunalpolitisch weise, dass der auf dem Ball anwesende Oberbürgermeister Ludwig Engel (SPD) auf solche einseitig-selbstbezogenen, fast selbstsüchtigen vertriebenenpolitischen Ausführungen, die die Interessen, Problemlagen, Sichtweisen und bisherigen Eingliederungsleistungen der Gesamt-Stadtgemeinschaft Darmstadts schlichtweg außer Acht ließen, nicht verbindlich reagierte. Stattdessen nahm er auf das damals einzigartig integrative Potential des Fests Bezug und betonte, dass der jährliche ungarndeutsche Ball für ihn eine Darmstädter Kulturveranstaltung sei und als solche „aus dem Leben der Stadt nicht mehr wegzudenken“. Somit erklärte er im Namen des Magistrats den Schwabenball bereits 1953 – fünf Jahre nach der Ankunft der ersten ungarndeutschen Heimatvertriebenen in der Stadt – sozialpolitisch überaus konstruktiv und vorausschauend kurz und bündig für heimisch.

Die persönliche Konsequenz seiner von der kämpferischen Volksbundtradition abweichenden kommunalpolitischen Einstellung war für Gori, dass er den Vorsitz der hessischen Landsmannschaft verlor. Zudem aberkannte die von Matthias Vogl angeführte neue Leitung Gori seinen Beitrag zur Wiederbelebung des ungarndeutschen Schwabenballs auf hessischem Boden per se. Sie reklamierte für sich selbst das ausschließliche Recht auf die Neuetablierung. Dies geschah mit dem Axiom, dass die Landsmannschaft als explizit politische Organisation die einzige berufene „Wahrerin der Kulturgüter“ sei, die die Vertriebenen aus der Heimat mit sich brachten. Gori versuchte, der drohenden Übernahme zuvorzukommen oder zumindest entgegenzuwirken, indem er 1953/54 einen Schwabenball in Eigenregie, in Organisation seines gerade eben ins Leben gerufenen Darmstädter Ungarndeutschen Kulturvereins aufzog. Diese Veranstaltung in den Mathildensälen wurde auf den 16. Januar 1954 terminiert und unter den Ungarndeutschen landesweit propagiert. Daraufhin wurde Gori im Presseorgan der hessischen Landsmannschaft als „kein rechter Ungarndeutscher“ persönlich angegriffen. Ihm wurde absurderweise unterstellt, dass er im Auftrage des Kreises um den „Ungarischbewussten“ Ludwig Leber sowie im Dienste nationalungarisch gesinnter Emigranten durch „Quertreibereien“ die friedliche Aufbauarbeit in Deutschland sabotieren wolle. Die Gesamtleserschaft wurde alarmiert und gegen ihn mobilisiert und die Erscheinung auf dem „richtigen“, weil von Vogls Landsmannschaft organisierten, (vierten) Darmstädter Schwabenball vom 23. Januar 1954 zur „Pflicht der Rechten“ gemacht. Dieses Beispiel ist als Fortsetzung des in der Minderheitenpolitik Ungarns praktizierten Nullsummenspiels (durch die altbekannten destruktiven Methoden wie Alarmierungen, Mobilisierungen, Verleumdungen, Beschuldigungen, Beschwerdeführungen, Kränkungen, Abrechnungsbestrebungen und Gehässigkeiten usw.) in Hessen zu sehen. Es spiegelt die massiven Schwierigkeiten der deutschbewussten akademischen Elite der 1950er Jahre wieder, sich auf eine demokratische Vertriebenenpolitik auf lokaler wie Landesebene einzustellen.

Die unrühmliche Konfliktsituation innerhalb der „deutschbewussten“ Führungselite wegen der Zugehörigkeit des Schwabenballs belastete die Donausiedler etwa zwei Jahre schwer. Die Konkurrenz wurde erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre obsolet, nachdem Irma Steinsch als Aufsichtsratsvorsitzende der ungarndeutschen Bau- und Siedlungsgenossenschaft abgewählt und Ernst Gori weggezogen war.

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Beitragsbild: Das Bild zeigt den dritten Schwabenball in Darmstadt (23. Januar 1953). Es spricht einer der profiliertesten Leiter des vormaligen Volksbundes der Deutschen in Ungarn, der damals in Mühlhausen/Heidelberg lebende Heinrich Mühl, auf dem Ball. Diesmal seien rund 1.500 Ungarndeutsche bei der Veranstaltung erschienen – behauptete das Presseorgan der Landsmannschaft.

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