Von San.-Rat Dr. Johannes Angeli
Vorwort
So manches kann der Mensch erleben, wenn er über 80 Jahre alt wird, lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten, dann umso mehr – umso mehr auch, wenn er als Auslandsdeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat. Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt: „Ach Papa, bei dir war wenigsten noch was los.” Da konnte ich nur antworten: „Du weißt doch gar nicht, wie glücklich Du sein kannst, in dieser guten neuen Zeit leben zu können.” Keineswegs handelt dieser Rückblick – um mit Goethe zu sprechen – von „Dichtung und Wahrheit“, sondern von Wahrheiten aus den „Erinnerungen eines Ungarndeutschen“.
Gern hätte ich auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet, aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann, hier den kleinen 10-jährigen Jungen mitgerissen, ob er wollte oder nicht. So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht, vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen.
Wie es mir erging, will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen, eines Jugendlichen, eines Familienvaters und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die, die Ähnliches durchlebten, die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar nur für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien.
Teil 6.2 (letzter Teil): Wieder über Ungarn nach Deutschland – die Flucht 1989
Überhaupt sollte man diese Flucht 1989 mit der Vertreibung vergleichen? Sicher sind beide eine totale Entwurzelung des Menschen aus seiner vertrauten Umgebung: Abschied von Freunden und Verwandten, Verlust des Großteils des Eigentums, totaler finanzieller Neuanfang mit Angst und Gefühl der Mittellosigkeit, Aufgabe des bisherigen Erwerbslebens – ja, urplötzliches Wiederfinden in einer neuen fremden Welt.
Aber ein großer entscheidender Unterschied für uns war, dass wir nicht willenlos einem politischen Diktat ausgeliefert und wie Übeltäter „verjagt” wurden, sondern diesen Weg bewusst und mit voller Überzeugung gewählt hatten, was für uns in den kommenden Monaten und Jahren des schwierigen Neuanfangs von entscheidender Bedeutung war: Wir hatten diesen Schritt gewählt, wir waren für alles verantwortlich und da müssen wir jetzt mit der ganzen Familie, von Groß bis Klein, mit Engagement, Enthusiasmus und festen Zielen hindurch!
Das hat uns deshalb vieles leichter gemacht als so manchen DDR-Bürgern, die sich durch die folgende Wiedervereinigung „okkupiert” vorkamen oder z. T. sich leider immer noch so vorkommen.
Aber zurück zu Ungarn, zu seinen damaligen freiheitlich gesinnten, mutigen Politikern: Diesen gebührt der ewige Dank der vielen damals flüchtenden DDR-Bürger. Während die einen ungarischen Politiker uns vor Jahrzehnten vertrieben, haben den Deutschen die neuen – noch dem kommunistischen Ostblock verpflichteten – Realpolitiker den Weg in die Freiheit ermöglicht.
Ach, ist die Autobahn durch Österreich in die BRD so lang, vor allem für unser überladenes Auto! Aber mit unserem demonstrativ überklebten DDR-Schild (das erste D und das R wurden besser gesagt überklebt) lösten wir Begrüßungsgesten aus: von hupenden Lkw- und Autofahrern, winkenden Busreisenden, Tankstellenkostenübernahme durch wildfremde Reisende, Geschenke von reisenden Vertretern u. v. m. – einfach eine Euphorie und Begeisterung ohne gleichen.
Wieder erst am Abend in Grafenau bei Passau in der dortigen Bundeswehr-Kaserne angekommen, Formular nach Formular ausfüllen, ausgerechnet war nun der überladene Wartburg auch noch defekt, so fuhren wir mit 70 km/h nach Schaippach bei Gemünden am Main, etwa 40 km von Würzburg entfernt, in ein für DDR-Flüchtlinge eingerichtetes Schullandheim. Ein kleines, aber separates Zimmer, Kost und Logis waren aber gesichert (Übrigens, Übernachtungs- und Verpflegungskosten mussten wir für die ganze Zeit nach unserer Eingliederung komplett nachzahlen – wir kamen ja nur von Deutschland nach Deutschland!).
Versuche verschiedener BRD-Autowerkstätten unser n stotternden Wartburg durch Einbau mancher VW-Ersatzteile (Kosten!) zu reparieren, schlugen fehl. Schließlich reichte es mir! Kurzerhand fuhr ich allein nachts um zwei Uhr mit meinem kaputten Auto – kriechend und hoffend – mit 60-70 km/h und bei Schneeregen von unserem Landschulheim bei Gemünden zu meinem Cousin bei Budapest.
Welch’ eine Energie und Kraft dieser Aufbruch in die neue Zeit in mir hervorrief, kann man allein daran erkennen, dass ich, in Höhe von Wien vormittags angekommen, von der Autobahn runterfuhr, um so ganz nebenbei die österreichische Hauptstadt, die ich natürlich vorher noch nie gesehen hatte, einfach im Centrum parkend, stundenlang zu erkunden, auch Schloss Schönbrunn, als ich überraschend daran vorbeifuhr.
Eine irre Idee, aber charakterisierend für diesen euphorischen Aufbruch jedes Einzelnen in die neue Zeit!
Als ich dann spätnachmittags auf den Hof meines Cousins fuhr, stellte er als 2-Takt-Kfz-Profi allein am Motorklang fest, was meinem kranken Wartburg fehlte. Auto schnell repariert, wieder vollgepackt mit unseren dort zwischengelagerten Wintersachen ging es einen Tag später mit doppelter Geschwindigkeit zurück nach Deutschland. (Auf meinem Schreibtisch steht noch heute das ausgebaute defekte Teil, bestens geeignet als Kuli- und Bleistiftbox, zur ewigen Erinnerung.).
Hier sei noch unbedingt erwähnt, dass wir durch die Aus- und Zwischenlagerung unserer wichtigsten Gegenstände, Artikel aller Art, Kleidungsstücke für Groß und Klein, Bücher, Fotos und u. ä. m. an drei verschiedenen Orten (siehe oben), neben dem schon im Lager in der BRD in Koffern, Taschen und Kartons Befindlichen langsam jeglichen Überblick verloren hatten. So fanden wir gerahmte historische Zahnarztbilder, die wir in unserem neuen Wartezimmer aufhängen wollten, erst nach zwei Jahren zufällig wieder, während ich Kleidungsstücke (u. a. Wintermantel, Winterstiefel) jahrelang suchte, bis mein Vater mir eingestand, sie nachts heimlich auf die Müllhalde gekippt zu haben – der alte Mann, von Krieg und Diktaturen so verängstigt, dass er nun gar glaubte, als unsere „Fluchthelfer” apostrophiert und zur Verantwortung gezogen zu werden.
Wieder in der BRD zurück ging die Suche nach einer Arbeitsstelle für zwei Zahnärzte erst richtig los, auch mit Hilfe meines Studienfreundes, der schon unter vielen Schikanen mit seiner Frau (auch Zahnärztin) 1986 offiziell ausgereist war – eine echt stressige Phase. Während andere Heimbewohner leicht Arbeit und Wohnung oft in unmittelbarer fränkischer Umgebung fanden, war es äußerst schwierig, eine Praxis für zwei Zahnärzte mit Kinderunterbringung in unmittelbarer Nähe zu finden. Außerdem mussten wir laut Kassen-Zahnärztebestimmung eine halbjährige Assistentenzeit nachweisen, um eine zahnärztliche Zulassung zu erhalten. Wären wir aus irgendeinem EU-Land eingereist, wäre das nicht nötig gewesen, aber wir kamen eben nur von Deutschland nach Deutschland – immerhin war ich damals schon 27 (!) Jahre Zahnarzt! Obendrein Anerkennungsproblematik! Wir konnten doch unsere originalen Approbations-, Promotions- und Facharzturkunden nicht direkt auf die Flucht mitnehmen – das hätte uns ja gleich verraten. Also fotografierten wir sie und am Tag unserer Flucht schickten wir die Negative an verschiedene Verwandtschaftsadressen nach Ungarn, damit wir in der BRD nun beim Fotografen Abzüge machen lassen und freudig auf Ämtern und Zahnärztekammern präsentieren konnten. Und nun sieht man, in welcher Welt so mancher BRD-Beamter noch lebte: „Das gilt hier nur, wenn es amtlich beglaubigt wäre!” Das war zu viel! Laut und ärgerlich entfuhr es mir: „Wissen Sie, wo ich dann jetzt wäre, wenn ich das gemacht hätte? Nicht hier, sondern im Zuchthaus Bautzen!” Über Bürgschaften, eidesstattliche Erklärungen und viel Rennereien gelang es schließlich doch, die Paragraphen-Bestimmungen zu erfüllen, aber die „edlen (DM-) Märker” vom Begrüßungsgeld waren schlussendlich wieder fort – von den Beamtenapparat-Kosten „aufgesaugt”.
Daneben waren wir mit unserem treuen Auto von Nordhessen bis ins tiefe Bayern (Allgäu) unterwegs auf der Suche nach einer Arbeitsstelle. Unser dort oft unbekannter Wartburg war die Attraktion auf allen Parkplätzen – nicht nur dadurch erkannten wir immer mehr, je weiter man ins Land hineinkam, wie weit weg und unbekannt einem Durchschnitts-BRD-Bürger die DDR und ihr System waren.
„Praxistourismus” habe ich diese Touren später genannt, weil wir damals viel mehr in der BRD herumkamen als wegen Arbeitsüberlastung in den nächsten zehn Jahren. Überall „Ladenhüter”, fürchterliche Alt- und „verwitwete” Praxen, Praxisvermittler, die dumme Ossis suchten für Praxen und Preise, die wir wahrscheinlich noch heute abbezahlen müssten! Besonders prekär und immer schwieriger wurde es für uns Suchende – und das muss man hier ungeniert sagen – als die Grenze aufging und viele DDR-Zahnärzte „im Westen” auch auf Praxis-Suche waren, wohlwissend in der alten Heimat ihre Arbeitsstelle noch sicher zu haben.
Endlich – kurz vor Weihnachten 1989 – tat sich ein Lichtblick auf: Ich fand auf einer Zahnärztekammer-Beratung eine Praxis in der Oberpfalz zwischen Nürnberg und Regensburg. Eine verwitwete Zahnärztin wollte nach meiner halbjährigen Assistenzzeit die Praxis an uns verkaufen sowie Haus und Wohnung darüber vermieten – genau das, was wir für uns und unsere Kinder dringend suchten. Kurz vor Weihnachten 1989 zogen wir dann frohen Mutes mit Kind und Kegel unter Mithilfe eines ehemaligen DDR-Zahnarztes aus Franken, der ursprünglich bei einem Fluchtversuch verhaftet worden war und mit seiner Frau (Ärztin) bewusst unter Kriminellen zweieinhalb Jahre im Zuchthaus Bautzen einsaß, während die zwei Kinder durch Hilfe von BRD-Verwandten schon vorher erfolgreich in die BRD geschleust worden waren. (Auch ein bezeichnendes DDR-Schicksal, das man heute wie anderes so einfach abtun möchte – von wegen DDR kein Unrechtsstaat, keine Diktatur!)
Trotz Arbeit für einen Hungerlohn – ich bekam 1100 DM monatlich, davon wurden aber 830 DM monatlich gleich für die Wohnungsmiete einbehalten und das bei einer vierköpfigen Familie – war unser Optimismus auf Grund der sich öffnenden Perspektive ungebrochen. Ein örtlicher Kollege ergriff aber nach brutal kapitalistischer Manier die Gelegenheit, die unliebsame Konkurrenz aus dem Weg zu räumen, indem er heimlich und hinter unserem Rücken Haus und Praxis von der Kollegin abkaufte und, wie wir einige Jahre später erfuhren, die Praxis total auflöste und das Haus anderweitig vermietete.
Nun hatte die noch Praxisbesitzerin, für die wir im Endeffekt nur die Köderfunktion für einen guten Haus- und Praxisverkauf darstellten, nichts anderes zu tun, als uns mit allen Mitteln rauszuekeln: Meine Assistenzstelle und die Mietwohnung wurden gekündigt – ich kam mir so vor, als ob ich mit meiner Familie nun endgültig in der „kapitalistischen” Gosse gelandet wäre!
Aber ist die Not am größten, finden sich doch immer helfende Menschen, wahre Samariter. Wir hatten schon vorher guten Kontakt zum katholischen Pfarrer der dortigen Kleinstadt aufgenommen. Dieser sprach uns in seiner ruhigen Art Trost und Mut zu, zeigte uns eine Wohnungsnotlösung im Pfarrhaus auf und vermittelte uns einen Rechtsanwalt, der sogar unentgeltlich für uns tätig wurde, indem juristisch beide Kündigungen abwies bzw. aufschob. Mit diesem katholischen Pfarrer stehen wir noch heute im persönlichen und telefonischen Kontakt, weil er uns als Priester und Mensch in unserer größten Not mit Tat und Rat beistand und uns neue Perspektiven und Wege aufzeigte – eben ein Seelsorger als Schutzengel uns geschickt.
Auch mein Kampfgeist, genährt durch diese gemeine Niedertracht und Enttäuschung, war aus der anfänglichen Schockstarre wieder erwacht. Mit Bitten und Betteln verschaffte ich mir für die noch fehlenden zwei Monate der nötigen Assistenzzeit für mich und meine Frau eine Assistenzstelle in der nahen Kreisstadt – mehr eine Hospitationsstelle, aber dafür auch ohne Gehalt. Mit Wochenendfahrten nach Plauen (DDR) und dortigen Einkäufen von Konserven und Lebensmitteln aller Art mit unserer restlichen DDR-Mark hielten wir uns „über Wasser”.
Der „Praxistourismus” lief wieder auf Hochtouren, aber er wurde durch die offenen Grenzen immer schwieriger – siehe oben!
Endlich Licht am Horizont: Ein Kollegenehepaar ging in Nord-Hessen nahe der Grenze zu Thüringen in Rente. Praxis mit Haus und Wohnung (beides auf Mietverhältnis) wurden frei – ideal für unsere Bedürfnisse. Nach erfolgreicher Zulassungsprüfung bei der Zahnärztekammer in Frankfurt konnten wir endlich Ende Juni 1990 zu einem sehr fairen Kaufpreis – aber voll finanziert von der Bank zu den damaligen zweistelligen Zinskonditionen – unsere Praxis und drei Monate später unsere Wohnung übernehmen. Ein wahrhaft „erlösendes Gefühl“ – zu dem Kollegenehepaar pflegten wir bis zu deren Tod (beide wurden über 90 Jahre) einen „dankbaren” Besucherkontakt.
Nun muss man wissen, Hochsommer- und Ferienzeit ist schon immer und besonders auf dem Lande eine „Saure-Gurken-Zeit” gewesen, dazu neue Behandler in der Praxis, die noch allen „Tipps” von professionellen Praxismaklern zum Trotz bewusst mit ihrem Wartburg rumfuhren. – Das war nicht gerade einladend für die reserviert veranlagten Nordhessen. Was aber positiv für uns war: Es lief eine euphorische Wiedervereinigungswelle durch Deutschland und gerade die westdeutsche Bevölkerung im ehemaligen Zonenrandgebiet mit persönlichen Erfahrungen mit Grenzsoldaten, Flüchtlingen, Schießbefehl und mit Verwandtschaft nahe der Grenze in Thüringen hatte ein auffallend realistisches Bild von der DDR – viel realistischer als so mancher Bayer oder Oberpfälzer. Obendrein sprach man ein hannoveranisches Hochdeutsch, angenehm verständlich für beide Seiten.
Die Praxis lief wohl sommerlich an (s. o.), die Neuen mussten erst beäugt werden, aber mit Verständnis, offenem Entgegenkommen und nicht zuletzt mit guten Arbeitsergebnissen wuchsen Zutrauen und Patientenzahl. Da ja Mundpropaganda auf dem Lande jeglicher Reklame überlegen ist, konnte ich so manchem Neupatienten direkt auf den Kopf zusagen, dass man ihn wohl auf der letzten großen Familienfeier endgültig überzeugt hat. Schon im Oktober/November 1990 konnte man sagen, die Praxis „brummt” und die übernommenen Helferinnen staunten, was uns erst recht motivierte – auch wegen der Kreditschulden im Nacken. Es gab für uns keinen Urlaub, wenigstens Sonntagnachmittag sollte „Familientag” sein – das gelang einmal im Monat! Geflügelte Worte unserer Kinder untereinander: „Wo ist der Papa?” „In der Praxis, im Büro oder im Labor!” So war meine Ehefrau ganztags als Kollegin und Mutter intensiv gefordert, was nur durch eine gute Organisation in der Praxis und im Privaten zu schaffen war.
Auch für unsere Kinder waren Flexibilität und Anpassung in kurzer Zeit gefragt. Die Tochter schrieb zum Beispiel in der DDR in der ersten Klasse gleich mit Füllhalter in einer neu eingeführten Schreibschrift, in Franken jetzt in der zweiten Klassenstufe deutlich andere Buchstabenformen, die sich zum Teil wieder von denen in der Oberpfalz unterschieden und erst recht von denen in Hessen, zumal man hier sogar wieder mit Bleistift schreiben konnte. Und das alles noch immer innerhalb Deutschlands, sehr verwirrend für ein siebenjähriges Kind, in der zusätzlich immer wieder neuen Schul- und Klassenumgebung!
Daneben war die Tochter ein tolles Kindermädchen für den Sohn, brachte ihn in den Kindergarten und holte ihn ab bei Wind und Wetter – kein „Mamataxi”, höchstens später mit Papafahrrad frühmorgens. So wurden unsere Kinder nie verwöhnt, hatten von Anfang an ihre festen Pflichten und Aufgaben in Haus und Garten, aber dennoch waren wir jede freie Minute für sie da, was sie schlussendlich – und das konstatieren wir doch mit einem gewissen Stolz – nach einem Hochschulstudium zu selbstständigen, erfolgreichen Erwachsenen (Zahnärztin und Pädagoge) werden ließ.
Wenn wir nach der Wiedervereinigung bei Studientreffen Kollegen aus der alten Heimat trafen, merkten wir schnell, welch einen beruflichen und verwaltungstechnischen Vorsprung wir hatten – durch unsere halbjährigen Hospitationen bei bundesdeutschen Kollegen und auch dadurch, dass wir „ins kalte Wasser” geworfen wurden und schnellstens in der neuen Berufswelt zurechtkommen mussten – insbesondere mit Banken, Versicherungen, Vertretern, Laboren, Krankenkassen, KZV (Kassenzahnärztliche Vereinigung), LZK (Landeszahnärztekammer), Gutachterwesen und – nicht zu vergessen – mit vom Konkurrenzdenken behafteten Kollegen. Nur zur Verdeutlichung ein Beispiel: Gleich bei meinem ersten Treffen mit örtlichen Kollegen wurde ich sofort gefragt: „Woher haben Sie den schönen Titel?” (Auf Kreisebene nicht auf Landesebene negiert man bei offiziellen Anschreiben die Bezeichnung nach wie vor.) Da ich hierzu schon aus allen Richtungen die tollsten Interpretationen gehört habe, die notwendige Erklärung, dass dieser Titel ebenso wenig mit dem Militär zu tun hat wie z. B. ein Sanitätshaus! Im Gegenteil, mit Glück und Geschick wurde ich nie zum Wehrdienst eingezogen. Den Titel „Sanitätsrat“ gibt es seit den 1920er Jahren – also schon seit hundert Jahren – in Deutschland – in den alten Ländern heute u. a. im Saarland und in Rheinland-Pfalz sowie in der ehemaligen DDR. Während Medizinalrat (MR) oder gar Obermedizinalrat (OMR) in der DDR den leitenden Funktionsträgern des dortigen Gesundheitswesens vorbehalten und somit meist politisch angehaucht war, wurde Sanitätsrat (SR) für gute Leistung bei der ambulanten Versorgung der Bevölkerung vergeben. Meine hiesigen Fußball-Sportfreunde waren da viel lockerer und machten aus Sanitätsrat einen „Zahn-Rat” mit lustiger Doppelbedeutung.
So mussten also manche Vorurteile und Hochnäsigkeit gegenüber ostdeutschen Zahnärzten abgebaut werden, auch unter der Bevölkerung. Verständliches Leitmotto: Wer solche Autos baut, was macht denn der für Zahnprothesen!? Die „armen” Autobauer der DDR waren genauso wirtschaftssystembedingt gehandicapt wie alle anderen Wirtschaftszweige, was allein schon dadurch bewiesen ist, dass nach der Wende 1989 große Autofabriken wie Opel, VW, BMW, Bosch u. a. mit den dort vorhandenen Fachkräften entstanden, wo alte DDR-Autowerke waren – so u. a. in Eisenach, Zwickau und Dresden. Den gut ausgebildeten, innovativen und motivierten Menschen dort fehlte wie den Ärzten im Gesundheitswesen nur eines: die technischen wie wirtschaftlichen Voraussetzungen und ein freies System, in dem sie sich verwirklichen konnten.
Wer außerdem als Kind Vorurteile und Ausgrenzung (siehe Teile 3 und 4) erlebt hat, weiß, dass Anerkennung und Integration nur über Leistung und Willenskraft geht. Gegen „Besserwessi” hilft kein Jammern („Jammerossi”); wir haben es so gewollt und da müssen wir jetzt mit Kind und Kegel, mit unserem ganzen Einsatz hindurch.
Wenn wir heute darüber rückblickend sprechen, fragen wir uns oft, wo haben wir bloß diese Kraft und diese Selbstaufopferung hergenommen?
Vielleicht durch solche Nachrichten, die wir von unseren Freunden aus der alten Heimat erhielten? So hatte ich über Jahre auf meinem Schreibtisch ein Inserat unseres ehemaligen Kreisarztes, SU-Student, parteipolitisch hochgeschulter SED-Parteifunktionär, der nach der Wende sogar das ehemalige Ost-CDU-Parteibüro als Praxisräume erhielt, indem er frech und ungeniert mit seiner Kooperation mit einer bundesdeutschen Ärzteorganisation warb. Das Inserat war für mich in so manchen müden Stunden ein wunderbares Aufputschmittel. Das mitansehen und ertragen zu müssen, wie so mancher geschickter Wendehals sich zum Funktionsträger der neuen Ärzte- und Zahnärzteorganisationen mauserte, hätte sicher mehr Nerven und Frust gekostet.
Obendrein konnten wir jetzt schalten und walten nach unserem Empfinden, eigenverantwortlich ohne diese staatlichen und wirtschaftlichen Beschränkungen in unserem Beruf uns verwirklichen; das Klagen unserer Praxisvorgänger wegen Repressalien bundesdeutscher Krankenkassen war für uns Klagen auf hohem Niveau. Fragen von Patienten, wie ich mich in der „neuen Welt” fühle, konnte ich stets nur so beantworten: „Die Freiheit, die ich spüre, ist die Freiheit in meinem Beruf und die Möglichkeit meiner Selbstverwirklichung auf allen Gebieten.”
Erst später kamen die neuen Reisemöglichkeiten, die schönen Dinge des Lebens und Alltags dazu – vor allem frei von politischem Druck und Zwang.
Nach Hauskauf und totalen Haus- und Praxisumbauten in den 90er Jahren konnten wir uns noch so manche Traumreisen in alle Welt ermöglichen, neben den zahlreichen Wanderungen durch die deutschen, österreichischen und schweizerischen sowie Südtiroler Alpen.
Sicherlich wird im Leben selten jemandem ´was geschenkt und Glück allein ist von seltener Dauer. Wer aber durch politisch aufgezwungene Ereignisse, durch Vertreibung und Flucht jeweils bei null oder gar mit erheblichen Schulden anfangen musste, muss sich schon ganz gewaltig strecken, um erfolgreich ans Ziel zu kommen – und eben auch (wie ich), bis 72 Jahre in seinem Beruf arbeiten.
Nicht zuletzt hängt über meinem Schreibtisch der tiefgründige Vers des großen indischen Dichters, Philosophen und Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore (1861-1941):
Ich schlief und träumte,
das Leben wäre Freude.
Ich erwachte und sah,
das Leben war Pflicht.
Ich handelte und siehe,
die Pflicht ward Freude.
Inzwischen haben wir unserer Tochter Haus und Praxis überlassen und sind nebenan in unser neugebautes „Traumhaus” gezogen. Nun kann ich als schon immer großer Gartenliebhaber – das Blut der Ahnen, die Liebe zur Erdscholle lässt grüßen – in unserem großen Baum-, Zier- und Blumengarten mein Leben endlich ruhig ausklingen lassen. Gern fahren wir immer wieder „rüber” zu den zahlreichen Klassen-, Schul- und Studientreffen, u. a. nach Lützen und Leipzig, besuchen Familiengräber und alte Freunde, freuen und amüsieren uns über Erinnerungen aller Art, diskutieren aber mit der Erkenntnis und der Erfahrung aus Ost und West unseres Deutschlands, indem wir sagen, wir sind Wossis (Wessis und Ossis) – sind entschieden gegen Larmoyanz und falsche Erwartungen.
Wir staunen über die Fortschritte des „Aufbau Ost”, die neuen Straßen und Autobahnen mit so freier Fahrt in die neue Zeit, und sind begeistert von der wirtschaftlichen, kulturellen und städtebaulichen Entwicklung „unseres Leiptsch” (Leipzig), können aber nicht verstehen, wie und warum diese extreme politische Entwicklung zuerst nach „links” und jetzt nach „rechts” auf dem Gebiet der alten DDR gefolgt ist, wo wir uns damals doch so einig waren: nur Demokratie und Freiheit – unsere großen Ziele. Wo ist die große Euphorie der Wiedervereinigung und des Neuaufbaus geblieben?
Aber ebenso gern kehren wir wieder zurück in unser Nordhessen und werden nicht aufhören, weiter zu werben für die Verständigung der Ost- und Westdeutschen – das sind wir uns und unserer Lebensentwicklung schuldig.
So haben wir diese dramatische Flucht über Ungarn nie bereut. Wie waghalsig sie auch war, begreifen wir oftmals erst heute. Aber nicht zuletzt drückt der Spruch „Nur wer wagt, gewinnt!” die Lebensweisheit aus, der ich, der wir nur vom ganzen Herzen zustimmen können.
Man kann es auch klassisch mit Demokrit sagen: „Mut steht am Anfang des Handelns, Glück steht am Ende.”
Mit dieser Flucht 1989, mit diesem Weg wieder über Ungarn nach Deutschland wie 1948 schließt sich der Kreis meines Rückblickes, der sich umfangreicher gestaltete als zu erahnen war.
Es sind die prägenden Erlebnisse und innig verwurzelte Erinnerungen eines Ungarndeutschen, der in den Strudel der deutschen und europäischen Geschichtsereignisse hineingeboren und von ihnen mitgerissen wurde, rückblickend über acht Jahrzehnte aus ganz persönlichem Erleben.
Wunderbar passt zum Abschluss hier hinein das Gedicht „Stille Rückschau” von Fred Endrikat (1890-1942):
Stille Rückschau
Plötzlich bleibst du stehn und schaust zurück
auf den Weg, den du gegangen bist,
siehst die Jahre rückwärts, wie die Kilometersteine.
Manche sind beinah verblasst im Dämmerscheine,
wie wenn Gras darüber hingewachsen ist,
wieder andre leuchten hell vor deinem Blick.
Deine Augen forschen nach den Sorgen und den Nöten,
über die dein Fuß so mühsam oft getreten,
klein und winzig wirken sie, von rückwärts aus gesehn.
Die Gedanken wie die kleinen Lämmer weiden
auf den Blumenwiesen der erlebten Freuden.
Möchtest du denselben Weg noch einmal gehn?
Wenn du stillstehst, wirst du deutlich sehn,
wie die Gegenwart wird zur Vergangenheit.
Lebenswert sind solch beschauliche Minuten,
Kraft zu schöpfen aus dem Quell des Guten
für den Marsch ins Morgen, denn der Weg ist weit.
Noch ein Blick ins Gestern, und dann heißt es: Weitergehn.
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Suchanzeige – neuester Stand der Ahnenforschung (24. 2. 2023)
Franziscus Xaverius Angele, der Stammvater aller Angele/i von Isszimmer/Isztimér, wurde am 06. 11. 1730 in Sulmingen bei Biberach geboren. Als Eltern sind Joannes Georgius Angele und Catharina Nüsser/Niesser im Kirchenbuch angegeben. Deren Heirat und sonstige Daten konnten im Ursprungsgebiet aller Angele/i bisher nicht gefunden werden, vor allem die Anbindung an die dortigen bis 1405 dokumentierten 16 Angele-Hauptstämme des Risstales. Erbitte Hinweise unter johannes-angeli@gmx.de.