Von Richard Guth
Ein bemerkenswerter Beitrag ist Mitte Januar auf dem slowakeimadjarischen Portal ma7.sk erschienen (https://sonntagsblatt.hu/2022/01/29/der-traum-ist-ausgetraeumt-man-benoetigt-geld-um-die-zukunft-des-madjarentums-in-den-streusiedlungen-zu-sichern/). Bemerkenswert, denn darin geht es um die Ränder des slowakeimadjarischen Siedlungsgebiets der Großen Schüttinsel, ungarisch Csallóköz Während Letzteres heute noch über authentische muttersprachliche Strukturen verfügt, zeigt sich in den Streusiedlungsgebieten beispielsweise rund um die sechstgrößte Stadt der Slowakei, Neutra/Nitra, um die es in dem Beitrag geht, dass das Diasporadasein besondere Herausforderungen an die Minderheitengemeinschaften stellt (beim besagten Streusiedlungsgebiet stellen die Madjaren vier Prozent der Bevölkerung, wenngleich es immer noch Gemeinden mit madjarischer Bevölkerungsmehrheit oder relativer Mehrheit gibt). Bemerkenswert ist dieser Befund auch für uns, denn wir sind mittlerweile überall im Ungarland in der Diaspora, selbst in der Ostbranau, die lange Zeit, auch nach 1945, eine Region mit einer bedeutenden deutschen Bevölkerung war. Der Akzent liegt aber auch hier auf „war”.
Der Beitrag, den das Sonntagsblatt sofort übernommen und am 29. Januar 2022 auf der eigenen Internetseite veröffentlicht hat, enthält starke Aussagen: „Nach Ansicht der Dorfoberen (hier sind die Führungspersönlichkeiten der betroffenen Ortschaften in der Region Podzoboria/Zoboralja gemeint, R. G.) sei es an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass die Madjaren in der Diaspora effektive Hilfe benötigten und durch eine Kultur, die auf Volkstanz, Volksmusik und Traditionen basiere, nicht überlebten. Die Jugend benötige Stabilität und Sicherheit” oder wie es Ferenc Mészáros, Bürgermeister von Großzitin/Veľký Cetín, sagte, man habe in den Streusiedlungsgebieten viele Fehler gemacht, denn man habe sich auf die wunderbare Kultur, Volkstraditionen, die bunte Volkstracht und den Tanz fokussiert, aber irgendwie sei dabei die Unterstützung und Stärkung dieser großartigen Diaspora im realen Leben, im Alltag unterblieben. Es gelingt Bürgermeister Mészáros dabei nicht, den wirklichen Adressaten dieser Anregung zu finden: „Es wäre das Richtige, wenn man sich in der Region Podzoboria nicht nur symbolisch zusammenschließen, sondern zielgerichtet in Richtung Lösungen voranschreiten würde”. Aber auch auf die Verantwortung der näher nicht beschriebenen Führungsschicht weist man im Artikel hin: „Er (Bürgermeister Marián Paulisz aus Dolné Obdokovce/Alsódobok, R. G.) fügt hinzu, dass es natürlich positive Beispiele gebe, aber es auf alle Fälle ein entschlossenes Auftreten seitens der Führungsriege benötige, wenn man seine Ziele erreichen will.” Für ungarische Verhältnisse ungewöhnlich offene Worte von Bürgermeistern!
Nun stellt sich die Frage, was uns die Lage der Madjaren in Streusiedlungsgebieten angeht – meine These lautet: sehr viel. Es dauerte nicht lange, bis ein aufmerksamer Sonntagsblatt-Leser unter dem Januar-Beitrag diesem widersprach – mit der Begründung, man könne Apfel und Birne nicht vergleichen. Sicher kann man die Lage der Slowakeimadjaren, die ein flächendeckendes Bildungsangebot in ungarischer Sprache haben (auch wenn die Konkurrenz slowakischer Schulen mancherorts groß ist), nicht mit der Situation der Ungarndeutschen vergleichen – auch wenn ich über die Grenze in die Slowakei fahre, dann fällt es mir nicht schwer auf Ungarisch zu kommunizieren, selbst mit alteingesessenen Slowaken. Stellen wir uns vor, ich kehre in einer deutschbewohnten Kleinstadt in der Nähe von Budapest in einer Gaststätte ein und ich will auf Deutsch bestellen (ich sage es deswegen so vollmundig, weil es mir schon mal passiert ist) – große Augen und Ratlosigkeit sind das Ergebnis! Daher ist die Lage in der Tat nicht vergleichbar.
Auch deshalb nicht vergleichbar, denn dort kennt man ungarische Parteien, aber wiederum keine parallelen (Nationalitäten-) Selbstverwaltungsstrukturen, denn wo die Madjaren in der Mehrheit sind, dort stellen sie in der Regel auch die Mehrheit in den Gemeinderäten, ob über ihre politischen Parteien oder parteilos (oder eben unter der Ägide slowakischer Parteien). Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir um die Jahrtausendwende eine ähnlich Konstellation, als sich Gemeinderäte zu lokalen Nationalitätengemeinderäten erklären konnten: Gemeinderäte mit voller Verantwortung für alle Bereiche des lokalen Daseins und nicht lediglich als Kulturverantwortliche oder – wo es Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in der Trägerschaft örtlicher Nationalitätenselbstverwaltungen gibt – als Bildungsmitverantwortliche. Letzteres ist aber immerhin ein begrüßenswerter Teil-Ausdruck der Idee von kultureller Autonomie, die die Slowakeimadjaren jedenfalls in Bezug auf Schulen und Kitas in dieser Form nicht genießen.
Also ein recht komplexes Bild, das sich für uns eröffnet! Auch Gemeinsamkeiten weisen die beiden Minderheitengemeinschaften auf, so zum Beispiel der immer höhere Anteil von Mischehen – während es mancherorts im Süden Ungarns erst in den 1960ern zu ersten Mischehen kam, kenne ich heute kaum einen Jugendlichen, bei dem beide Eltern Deutsche sind. Studienergebnisse, so auch aus der Slowakei, zeigen, dass Mischehen den Assimilierungsdruck deutlich erhöhen – natürlich macht es einen Unterschied, ob die madjarisch-slowakische Familie in einem madjarischen Dorf nahe Niedermarkt/Dunajská Streda wohnt oder im slowakisch geprägten Neutra. Dies gilt nicht weniger für uns Deutsche in Ungarn, zumal nun die dritte Generation heranwächst, für die die deutsche Sprache keine Muttersprache mehr darstellt (bei allem Respekt für die Ausnahmen).
Daher ist ein Vergleich mit dem Blockmadjarentum schwer möglich, da mag der Kommentator Recht behalten. Wohl aber ist ein Vergleich mit den Madjaren in den Streusiedlungsgebieten der Südslowakei angemessen. Die Bürgermeister der zitierten Orte erteilten dabei eine klare Absage an eine traditionspflegebasierte Identität, denn diese kann man ja – siehe das Beispiel der Iren – auch ohne Sprache hegen und pflegen. Jetzt höre ich schon die Stimmen der Kritiker, ich sei nicht gewillt die Bemühungen von Kulturschaffenden zu würdigen. Falsch! Genauso schätzen die madjarischen Bürgermeister dieses kulturelle Erbe, aber sagen völlig richtig, dass man mit Volkstanz, Volksmusik und Traditionspflege, also der „bőgatyás” Seite des Minderheitendaseins, nicht überlebe. Man habe darüber hinaus laut Bürgermeister in der Vergangenheit die Unterstützung der Diaspora im Alltag sträflich vernachlässigt.
Was könnte das in unserer Relation bedeuten? Wohl, dass dieses Minderheitendasein mit Inhalt gefüllt werden soll, allen voran in sprachlicher Hinsicht! Aber wenn man das beklemmende Gefühl hat, dass die fünf Deutschstunden plus Volkskundestunde nicht ausreichen, um die verlorene Großmuttersprache wiederzubeleben? Wenn man den Eindruck hat, dass man – trotz verbriefter Rechte – seine offiziellen Angelegenheit in der Kreisverwaltung oder auf dem örtlichen Amt nur ungarisch erledigen kann? Oder wenn man sonntags der deutschen Messe beiwohnen möchte und feststellen muss, dass der Herr Pfarrer, der eigentlich Deutsch studiert hat, die Predigt auf Ungarisch hält?
Jetzt würden einige entgegenhalten, dass man das ja nicht forcieren sollte, denn die Leute verstünden deutsche Predigten nicht mehr. Und da ist ja der halbe Hund begraben: Ja, WIR müssen das wollen und alles dafür tun. Lösungsorientiert, wie einer der slowakeimadjarischen Bürgermeister fordert! Dass es geht, zeigen Beispiele von Jüngeren und Älteren, denn ihnen liegt sehr viel daran, die Minderheiten-/Nationalitätenidentität nicht nur auf der Bühne – dort selbstverständlich auch! – auszuleben.