Die Zukunft der Deutschen in Ungarn – Epilog zur Ödenburger Volksabstimmung (Teil 1)

Von Alfred von Schwartz

Vorbemerkung der SB-Redaktion

Unser Leser Patrick Rieckmann aus dem Ödenburger Land wies vor einigen Monaten auf ein interessantes historisches Dokument hin, das drei Monate nach der Volksabstimmung in Ödenburg und vor genau 100 Jahren publiziert wurde. Auch wenn manche inhaltlichen und sprachlichen Formulierungen auf den Menschen der Gegenwart befremdlich wirken, stellt Alfred von Schwartz’ Schriftstück eine wichtige Quelle dar, um Denkweisen und historische Vorgänge besser zu verstehen. Diesen Essay veröffentlichen wir in vier Teilen. Es folgt Teil 1.

Teil 1

I.

Die Volksabstimmung, die im Sinne des Übereinkommens von Venedig am 14. Dezember 1921 in Ödenburg stattfand, bietet so viele interessante Daten zur Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem deutschen und dem ungarischen Volksstamme, dass eine kurze Darstellung des Resultates nicht überflüssig sein dürfte.

In der Stadt Ödenburg und in den zur Abstimmung berechtigten acht Landgemeinden waren insgesamt 26.900 stimmberechtigte Wähler. Von diesen stimmten zirka 90 % ab. Von den abgegebenen Stimmen waren etwas mehr als 2 % ungültig. Von den abgegebenen Stimmen entfielen:

1. Auf dem ganzen Gebiete:

63,6 % für Ungarn

34,1 % für Österreich

2. Nur in der Stadt Ödenburg

71,2 % für Ungarn

26,7 % für Österreich

3. Nur in den acht Landgemeinden:

44,3 % für Ungarn,

53,2 % für Österreich

Wenn man nun bedenkt, dass unter den acht Landgemeinden eine, nämlich Groß-Zinkendorf, ganz madjarisch ist, was auch daraus erhellt wird, dass in dieser Gemeinde 1026 Stimmen für Ungarn und nur 5 Stimmen für Österreich abgegeben wurden und wenn man aus diesem Grunde diese Gemeinde aus dem Gesamtresultate ausschaltet, was Österreich bei minimaler Voraussicht freiwillig tun musste, so gelangen wir zu folgenden Resultaten: Ohne Groß-Zinkendorf entfielen

4. auf dem ganzen Gebiete:

62,1 % auf Ungarn,

35,6 % auf Österreich;

5. nur in den sieben Landgemeinden:

34,5 % auf Ungarn,

62,7 % auf Österreich.

Laut der letzten Volkszählung vor dem Weltkriege waren in der Stadt Ödenburg 17.000 Deutsche und 15.000 Madjaren. In den Landgemeinden des Burgenlandes beiläufig 70 % Deutsche, 18 % Kroaten und 12 % Madjaren. Die Bevölkerung der Stadt betrug 34.000, die der Landgemeinden des ganzen Burgenlandes 311.000 Einwohner. Schon aus diesen trockenen Zahlen erhellt sich, wie sehr Österreich sich selbst schadete, als es den einzig loyalen Weg der Abstimmung zu gehen sich weigerte. Wenn Österreich klug gewesen wäre, hätte es sich auf folgenden Standpunkt gestellt: Aus der Hand meiner Feinde nehme ich kein Geschenk und keinen Gebietszuwachs zum Nachteil meines früheren Bundesgenossen und Kriegskameraden. Außerdem geht es wohl nicht an, das Burgenland gleich einer Schachfigur ohne Befragen seiner Bewohner herumzuschieben. Möge also das Burgenland selbst entscheiden!

Hätte Österreich ohne Klausel und Vorbehalt so gesprochen, dann wäre die Antwort der 345 burgenländischen Gemeinden wohl nicht zweifelhaft gewesen. Denn wenn es Österreich am 14. Dezember 1921, beim Tiefstand nicht nur seiner Valuta, sondern auch seiner äußeren und inneren Verhältnisse gelang, in den Landgemeinden 53 % der Stimmen zu erhalten, dann ist es wohl keine Frage, wie sechs Monate oder ein Jahr früher die 345 Gemeinden gestimmt hätten. Wieder einmal ein Beispiel, wie in den wesentlichen Fragen auch der Politik Anständigkeit, Loyalität und Ritterlichkeit nicht ohne Strafe außer Acht gelassen werden dürfen!

Es bedarf wohl keiner näheren Erklärung, dass der durch die Abstimmung geschaffene Zustand niemanden befriedigt. Österreich hat nun das Burgenland, aber ohne sein natürliches Haupt. Ungarn behält wohl das schöne und wertvolle Ödenburg, aber das ist seines Hinterlandes beraubt. Die Burgenländler aber sind die eigentlichen Leidtragenden: Ihre Jahrhunderte alte wirtschaftliche Struktur ist zerrissen und zerfetzt, ihre Zuflüsse und Zugänge sind verstopft. Die Burgenländler an der Strecke Güns-Ödenburg – weit über 100.000 Seelen – müssen dreimal „fremdes“ Staatsgebiet überschreiten, wenn sie in ihre „Hauptstadt“ gelangen wollen.

Wahrlich, diese ganze Gestaltung ist ein elendes Machwerk, ein Flickwerk, aber hoffentlich nur ein provisorisches.

II.

Die Volksabstimmung in Ödenburg darf aber auch darum erhöhtes Interesse beanspruchen, weil hier zum ersten Male diese Frage gestellt und beantwortet wurde: Stehen dem Deutschen Volksgefühl oder Staatsgefühl Heimat oder Vaterland näher? Bismarck war letzterer Meinung. Bei den anderen, im Sinne der Friedensverträge vorgenommenen Abstimmungen wurden die deutsche Bevölkerung und meist Minoritäten darüber befragt, ob sie bei dem alten Staate, dem sie seit jeher angehörten und der zugleich deutsch war, verbleiben wollen oder nicht. Bei der Ödenburger Abstimmung handelte es sich darum, ob eine kompakte deutsche Majorität dem Königreiche Ungarn, dem sie seit fast tausend Jahren angehörte, die Treue halten oder sich dem deutschen Nachbarstaat Deutschösterreich (mittelbar Großdeutschland) anschließen will.

Ich und meine Gesinnungsgenossen waren der Überzeugung, dass wir eben deshalb, weil wir Deutsche sind, dem alten Vaterlande Ungarn die Treue bewahren müssen. Wir waren der Meinung, dass der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung gleich uns denken würde. Als daher am Abend nach dem Skrutinium (Befragung; Red.) die sämtlichen Glocken unserer altehrwürdigen Kirchen erklangen, da jauchzten wir auf und dankten Gott, dass Er uns vergönnte, dass wir die Treue bewahrten und bei Ungarn verbleiben. Wir dachten, dass das deutsche Volk Ungarns in überwiegender Mehrheit mit uns sei und dass unser Sieg ein Sieg der deutschen Treue sei. Als wir dann das ziffernmäßige Resultat erfuhren, war es sofort klar: Es ist ein Phyrrussieg! Ödenburg bleibt wohl bei Ungarn, aber das deutsche Volk des Burgenlandes hat sich gegen Ungarn ausgesprochen. Der Sieg in Ödenburg ist ausschließlich den madjarischen Wählern in der Stadt zu verdanken. Denn auch in der Stadt Ödenburg hat sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen Ungarn ausgesprochen. Und dieses Urteil wurde zu einer Zeit gefällt, als alle Umstände und Imponderabilien für Ungarn günstig waren.

Wie ist dies möglich? Wie konnte es kommen, dass die Burgenländler, die immer zu den treuesten und loyalsten Bürgern Ungarns zählten, die nie – selbst zu Zeiten Josefs des Zweiten oder in der Bach-Ära – nach Österreich oder Deutschland schielten – jetzt dem Königreiche Ungarn den Rücken kehrten? Um diese Frage wahrheitsgemäß beantworten zu können, ist es notwendig, einen Blick nach rückwärts zu werfen. Wir müssen uns davon überzeugen, welche Entwicklung die Nationalitätenpolitik im Burgenlande genommen und insbesondere, wie sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Ungarn gestaltet hat. Und da ist es merkwürdig, dass – während über die anderen deutschen Stämme in Ungarn, über Sachsen, Banater Schwaben usw. eine ziemlich reiche Literatur besteht – das Burgenland in dieser Hinsicht gänzlich Neuland ist. Aus diesem Grunde wolle man es begreiflich und verzeihlich finden, dass im nächsten Kapitel der Verfasser nur über eigene Erfahrungen und Eindrücke berichtet. Der Umstand, dass ich der zünftigen Politik vollkommen ferne stehe, wird meine Darstellung zwar nicht interessanter, vielleicht aber verlässlicher machen. Die Stellung meines Vaters und mein Beruf gestatteten mir während dreier Jahrzehnte vom Zentrum des Burgenlandes aus das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Getriebe aus nächster Nähe zu beobachten.

III.

Als ich Mitte der achtziger Jahre an das hiesige Gymnasium kam, war die chauvinistische Bewegung bereits in vollem Gange. Das Deutsche wurde in Schule und Amt total vernachlässigt. Deutsch und Turnen oder Singen galten als jene Gegenstände (Fächer, Red.), in welchen eine schlechte Note zu bekommen keine Schande war.

Es war damals die Zeit des politischen Aufschwunges und der nationalen Begeisterung. Unsere Väter waren felsenfest überzeugt von der Richtigkeit der liberalen Ideen, vom „ewigen“ Gesetze des Fortschrittes und sahen ihre „Ideale“ in der ungarischen Staatsidee verkörpert. Der für polyglotte Staaten grundfalsche Satz „Nyelvében él a nemzet“ („In ihrer Sprache lebt die Nation!“) wurde nicht nur ein politisches, sondern auch ein Axiom des Patriotismus. In hunderttausend Varianten wurde uns der (direkt unmoralische) Grundsatz gepredigt, dass derjenige kein guter Patriot sei, der nicht die ungarische Sprache bevorzugt, auch wenn das nur mit der Zurücksetzung der Muttersprache geschehen kann. Außer der unzweifelhaft großen Werbekraft der ungarischen Staatsidee und der madjarischen Psyche war es hauptsächlich dieser Grundsatz, der die deutsche Intelligenz geradezu in Fesseln schlug. Deutsch sein heißt treu sein. Wenn irgendwo, so hat sich in Westungarn dieses Wort bewahrheitet. Trotzdem es hier kaum eine bodenständige Familie gibt, die nicht mit Wien und Österreich nahe verwandtschaftliche und intime geschäftliche Beziehungen hat, so ist es uns nie eingefallen, dort völkischen oder politischen Anschluss zu suchen, obwohl wir seitens des ungarischen Staates wahrlich nicht verwöhnt und von den führenden chauvinistischen Elementen trotz aller unser Hingabe nur als Patrioten zweiter Klasse behandelt wurden. Und damals war Wien wirklich noch eine politische oder wenigstens eine kulturelle Großmacht. Wohl hatten viele Zweifel und Bedenken, ob die rücksichtslose Beseitigung des deutschen Unterrichtes der richtige Weg zum Aufbau des modernen Ungarn sei, wohl sahen viele mit tiefstem Schmerze, wie Schritt für Schritt in der eigenen Familie die seelische und kulturelle Entfremdung größer wurde, aber dagegen Stellung zu nehmen getraute sich keiner. Das Schlagwort von der patriotischen Pflicht war entscheidend. Da wollte keiner zurückstehen.

Wir sind heute wohl schon in der Lage, uns über diese Zeit ein objektiveres Urteil zu bilden. Und da muss man gestehen, dass die Situation unserer Eltern keine so leichte gewesen ist. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die nationale Begeisterung nicht nur die Alten selbst, sondern noch in viel größerem Maße die Jugend ergriffen hatte. Der deutsche Familienvater also, der es unternommen hätte, sich der chauvinistischen Bewegung entgegenzustellen, wäre oft in der eigenen Familie heftigem Widerstande begegnet. Ferner darf bei der großen Masse des städtischen Bürgertums das Moment der Sorge um die wirtschaftliche Zukunft der Kinder nicht unterschätzt werden. In der allgemeinen Bewegung musste es der Familienvater praktisch, ja notwendig finden, seine Kinder in der Staatssprache erziehen zu lassen. Endlich sehen wir das Ergebnis der Bewegung als Ganzes, während unsere Vorfahren immer nur einzelne Schritte beobachten konnten: zuerst die Mittelschule, dann die Volksschule, dann das Theater, die Gerichte usw. usw. – Sie waren also tatsächlich nicht in der Lage, sich vom Anfange ein Urteil über die ganze Tragweite ihrer Entschließungen zu bilden.

Aber nicht nur auf politischem, sondern vielleicht noch einschneidender waren die Folgen der Madjarisierung auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiete.

Derjenige, der ein Auge dafür hat, muss gestehen, dass sich die Struktur und das Wesen unserer Stadt vollständig verändert hat. Damals gab es noch ein deutsches Bürgertum, heute gibt es nur noch Patrioten. Zu Ignaz Flandorffers Zeiten spielten die führende Rolle Gewerbetreibende, Fabrikanten, Landwirte – mit einem Worte: die schaffenden Berufe. Heute sind da fast ausschließlich Advokaten und Beamte. Damals schuf die Bürgerschaft ohne Inanspruchnahme des Staates – ja sogar des Stadtsäckels – Spitäler, Versorgungshäuser, mustergültige Schulen, Theater, öffentliche Anlagen, Gasbeleuchtung usw. – heute erwartet jeder alles allein vom Staate oder der Kommune. Dafür wird aber aus jedem Ding – sei es noch so rein praktischer oder technischer Natur wie z. B. Kanalisation oder Markthalle – ein Politikum gemacht und damit können natürlich nur Juristen umgehen. Damals galt es als selbstverständlich, dass der Sohn – auch wenn er die Mittelschule absolviert hatte – das Geschäft oder die Fabrik des Vaters übernimmt. Heute gilt es selbstverständlich, dass der junge Mann mit „höherer“ Bildung nur Advokat, Beamter, Landwirt, Ingenieur und eventuell noch Offizier werden muss, aber beileibe nicht Kaufmann oder Fabrikant oder gar Gewerbetreibender! Den Nutzen hatten von dieser Umgestaltung nur die Juden, gegen die das Bürgertum, solange es deutsch war, eine geradezu beispiellose Widerstandskraft zeigte.                                                                                    Ende Teil 1, Fortsetzung folgt

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wahlurne.jpg

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