Von Robert Becker
Ein Name ist, nach einer aktuellen wissenschaftlichen Definition, „ein verbaler Zugriffsindex auf eine Informationsmenge über ein Individuum“. Viele Jahrhunderte hindurch trugen die Menschen nur Rufnahmen, bei deren Wahl man danach trachtete, dass der Name in gewisser Hinsicht das Wesen eines Menschen wiederspiegelt. Diesen Vorsatz hat auch Platon ausgesprochen, indem er meinte, dass die Namenserteilung kein gleichgültiges Anliegen sei und so nicht vom Zufall abhängen sollte. Kurz gefasst: nomen est omen!
Bekanntlich lagen unseren heutigen Familiennamen, die aus Beinamen entstanden sind, ganz unterschiedliche Benennungsmotivationen zugrunde: innere und äußere Eigenschaften des Trägers, dessen Beruf, die lokale oder ethnische Bezeichnung seiner Herkunft. Es sind also Namen, die dazu dienten, das Individuum in der Gemeinschaft von allen anderen abzugrenzen und eindeutig zu identifizieren. Beinamen gelten jedoch erst ab dem Punkt als Familiennamen, wenn sie weitervererbt werden.
In den deutschsprachigen Ländern hat sich das zweigliedrige Namenssystem im 12. Jahrhundert entwickelt. In anderen Regionen, unter anderem in Russland, befolgt die Namenstradition mit der Angabe des Vaternamens ein dreigliedriges System, woraus ersichtlich ist, dass das jeweilige kulturelle Umfeld sich schon in der Form der Namen stark widerspiegelt. Obwohl heutzutage die Wahl der Vornamen meist weniger traditionsbewusst und eher von der Mode bestimmt erfolgt, sind Namen doch weitaus mehr als nur eine willkürliche Bezeichnung einer Person. Sie sind Träger von kulturellen Eigenheiten. Familiennamen verbinden unverkennbar die Reihe von Generationen miteinander und signalisieren die verwandtschaftliche Verbindung von Personen gleicher Abstammung.
Doch, dies alles trifft nur solange zu, bis in diesen Prozess nicht von außen willkürlich eingegriffen wird. Blickt man in die zurückliegenden Jahrhunderte ungarländischer Magyarisierungsbestrebungen zurück, so wird man bald nicht mit Sicherheit behaupten können, ob die staatsklerikalen Kreise, die Gelehrtenschicht oder aber erwachende Hungaristen im Adel beziehungsweise im aufstrebenden Bürgertum sich durch einen entschlosseneren Eifer ausgezeichnet haben. Wir wollen hier in erster Linie die Rolle der katholischen Kirche unter die Lupe nehmen.
Die heutige Praxis der Kirchenbuchführung wurde auf der 24. Sitzung des Konzils von Trient (1563) festgelegt. Für die durch die Türkenkriege verzögerte Umsetzung der Beschlüsse des Konzils von Trient sorgte in Ungarn das Diözesankonzil von Tyrnau im Jahr 1611. Die Sprache der katholischen Matrikel war meist Latein. 1840 wurde gemäß des Gesetzes 1840, Art. VI., § 7. verordnet, dass „an allen Orten, an denen die geistlichen Ansprachen an die Gemeinde nicht in ungarischer Sprache gehalten werden, die Matrikel drei Jahre nach Auflösung des gegenwärtigen Landtages in ungarischer Sprache zu verfassen sind“. So erfolgte die Matrikelführung von 1843 bis 1850 auf Ungarisch. Hierbei soll erwähnt werden, dass auf Anordnung des Fünfkirchner Bischofs Baron István Szepesy (der auch wohlbemerkt 1825, am ersten Landtag der Reformzeit, der erste Redner im Oberhaus war, der sich auf Ungarisch zu Wort meldete), die Matrikel in den Pfarren seines Bistums bereits schon Jahre vor der allgemeinen Regelung, nämlich ab 1833 in ungarischer Sprache geführt wurden, was in einigen Kirchenbüchern wie folgt auch vermerkt wird: „Auf Wunsch des Landes, auf Anregung der spektablen und illustren Komitate und auf Anweisung des Komitatsbischofs, Baron Ignác Szepessy, werden die Matrikel fortan auf diese Weise und in der Landessprache geführt.”
Parallel zu der Benutzung der ungarischen Sprache in den katholischen Kirchenbüchern erscheint die ungarische Schreibweise der früher in lateinischer Form geführten Taufnamen, dessen zum Trotz, dass diese Formen vermutlich mit den gebräuchlichen Rufnamen der verschiedenen Nationalitäten nicht im Einklang waren. Obwohl der Versuch einer zentralen, gesetzlich geregelten und vereinheitlichten ungarischen Vornamensführung erst wesentlich später mit dem Inkrafttreten der staatlichen Matrikelführung ab 1895 erfolgt, ist die oben genannte Bestrebung als früher Vorreiter einer uniformierten, vereinheitlichten und der ungarischen Norm untergeordneten Namensführungstradition zu werten. Somit treffen wir in den Kirchenbüchern aus dieser Zeit neben den allgemein bekannten ungarischen Vornamenformen auch bei deutschen Familiennamen die Vornamenschreibweisen wie Trézsi statt Theresia oder Örzse statt Elisabeth, sowie Borbála statt Barbara. Diese Schreibweise sticht allein schon wegen jener veränderten Tendenz ins Auge, dass vor allem im 18. Jahrhundert (vereinzelt auch später) in manchen Einträgen noch die regional gebräuchliche, mundartliche Lautung der gebräuchlichen deutschen Rufnamen aufgezeichnet wurde, so zum Beispiel: Stoffel für Christof oder Palzer für Balthasar.
Quasi parallel dazu verlief auch eine mehr und mehr bewusste Anpassung der Familiennamen in der Schreibweise an die ungarischen Grapheme s, ß zu sz, ä zu e, w zu v, a zu á, e zu é. Behilflich waren bei der Einführung neuer Schreibweisen neben Matrikeleintragungen im Allgemeinen auch die Registrationen, so zum Beispiel bei (hoch)schulischen Immatrikulationen oder bei der Rekrutierung ins Militär. Bei so einer Registration ist bei mir auch das „ä“ in meinem Namen zu „e“ geworden (Becker).
Ab dem Jahr 1852 erscheint in den Matrikeln schließlich eine Rubrik für Bemerkungen, wo neben besonderen Umständen auch die eventuellen Namensänderungen geführt werden konnten. Auch die Presse – besonders wohl nach dem Ausgleich (1867) – hat getan, was sie nur konnte. So erschienen Namen zum Beispiel in Zeitungen in einer ungarisch entstellten, in ihrer Lautung einer Bedeutung angepassten Form: Wess als Vész, Käß wird als Kész geschrieben, Wigand als Vígan oder Lang als Láng.
Worauf man allerdings gar keinen Wert in der breiten Welle der Magyarisierung gelegt hat, ist der Umstand, dass man es zuließ, dass in der gleichen Familie Brüder sich für unterschiedliche ungarische Namen haben entscheiden dürfen. In der Entfernung von bereits nur zwei Generationen hat man sich nicht nur auseinanderleben können, sondern konnten sich auch noch unwissentliche Verwandtenehen ergeben. In der Familie meiner Gattin sind so aus ursprünglich Kist die Namen Köves, Keresztvölgyi und Regős hervorgegangen.
Die Annahme ungarisch klingender Namen statt der angestammten Nationalitätennamen hat man mehr und mehr versucht, „schmackhaft“ zu machen, in Mode zu bringen, alleine schon dadurch, dass die Magyarisierung als eine Aufnahme in „gehobenere“ Schichten und Kreise erscheinen sollte. Gründe der Namensänderung konnten politische und gesellschaftliche Vorteile sein, so galt sie als Erwartung bereits bei besseren Handwerkern. Beim Militär gab es Auszeichnungen oder Beförderungen, die mit einer verbindlichen Magyarisierung einhergingen, so zum Beispiel die Aufnahme in den Helden-Orden (vitéz). Die Magyarisierung galt auch als Bedingung für eine Offizierskarriere.
In den Nachrichten für das Schuljahr 1925/26 des Real-Gymnasiums König Béla (Adalbert) III. des Zisterzienser-Ordens in Baaja liest man: „… Wir würden es zum Gesetz erheben, dass jeder diplomierte Mensch – und sei es nur ein Diplom eines Handwerksmeisters – wenigstens einen ungarischen Namen neben seinem fremden Namen aufnimmt…“ Im gleichen Jahrbuch heißt es im Weiteren: „Wir empfehlen in die Aufmerksamkeit unserer Leser das Jahrbuch 1926 „Das Magyarentum”. Es führt auf Seite 66 unter dem Titel „Die Ungarn in der Weltkultur” jene Größen unserer Heimat und unserer Nation auf, die die Weltkultur um je einen Schritt weitergebracht haben. Rund 330 Namen werden erwähnt, aber unter den 330 sind 183 ungarische und 147 fremde Namen. Diese Zahlen sprechen für sich und geben leider keinen Grund zu größerem Stolz. Jene der Weltkultur, die über sie Daten festhalten, sind neidisch und schlecht, weil sie die Jädlik’s, Lenhossek’s, die Hutyrá’s, die Petzvals’, die Semmelweis’ die Kitaibel’s, die Pantocsek’s und Hunderte mehr ihrer Genossen niemals als Ungarn verbuchen werden.” – So wird also unverschleiert die Meinung preisgegeben, dass man in den Augen dieses Landes allein nur dann ein wertes Mitglied ist, wenn man wenigstens durch den Namen vor aller Welt als ungarischer „Volksgenosse“ erkenntlich wird.
Ganz so weit soll man entgegen dieses Gedankenganges vielleicht nicht gehen, wie der ehemalige Oberrabbiner von Budapest, György Landesmann, 1993 in einem Interview „Heti Magyarország“ gegenüber, wo er die Meinung vertrat: „(…) wenn wir die Werte jener Juden in der ungarischen Kultur aufzählen würden, die, wenn wir sie aus Ungarn zurückziehen würden, dann bliebe nichts weiteres übrig, als der Pfirsichpalinka und die breitgeschnittene Gatjehose“, aber falls wir auch alle Künstler und Wissenschaftler wegdenken würden, die unter unseren deutschen Ahnen in Ungarn mit besten Kräften und größtem Einsatz gedient haben, so wäre unser Land ganz bestimmt ebenfalls durch Etliches ärmer…
Das bereits weiter oben genannte Zisterzienser-Jahrbuch bemüht sich im Weiteren zu betonen und auszuführen: „Dem nationalen und ungarischen Gedanken wollen wir auch dadurch dienen, dass wir unter unseren Schülern die Namenmagyarisierung beschleunigen wollen. […] Auf unsere Ermunterung hin haben in diesem Jahr 17 Eltern, nicht nur für die Gymnasialkinder, sondern auch für ihre anderen Kinder ein Gesuch eingereicht zwecks Änderung ihres Namens. Leider wird die Wichtigkeit dieses Problems oben in den Ministerien nicht richtig bewertet und die Sachen kleinlich und gewissenhaft geprüft, sodass lange Monate des Wartens vergehen, bis über die Ansuche entschieden wird. Die Namenmagyarisierung wird unser Institut auch im nächsten Jahr forcieren. Wir werden den Schülern mit ungarischem Namen Vorteile einräumen, u. a. auch durch weniger Schulgeld, Belohnung usw. Wir bitten daher die Elterngemeinschaft, uns in dieser Frage zu unterstützen.”
Der Gedanke, man könne im Karpatenbecken alleine und nur dann als vollwertiger und ehrlicher Bürger gelten, falls man sich dem Ungartum zuschreibt und – entgegen jener Mahnung des Heiligen ungarischen Königs Stephan, der gesagt hat, es sei jenes Land schwach, wo man einer einzigen Zunge nur ist – sich der Idee der Einsprachigkeit unterwirft, wo eine Namenmagyarisierung evident ist, dringt auch in dem kommenden Zitat durch, das gerade das Sonntagsblatt der 1920er Jahre anvisiert. Der folgende „Hirtenbrief“ stammt vom Fünfkirchner Bischof Gyula Zichy (25. März 1924), gezeichnet durch den allgemeinen bischöflichen Stellvertreter, Dr. Dénes Mosonyi:
„Der ungarische Katholizismus war und ist von zwei zerstörerischen Gefahren bedroht. Die erste ist der Niedergang des Glaubenslebens, die Abkehr der Seelen von den Quellen und dem Trost der Religion und die zweite ist die Verschärfung der Nationalitätenfrage unter den Katholiken. Die erste Bedrohung wurde durch den unglücklichen Weltkrieg in erschreckender Weise heraufbeschworen, die zweite wird nicht nur durch den Friedensvertrag von Trianon und die Bestimmungen über nationale Minderheiten aufrechterhalten, sondern durch die ständige Unterdrückung unseres unglücklichen, verstümmelten Landes noch verstärkt.
Die Nationalitätenfrage wird auch dort aufgeworfen und bewusst geschürt, wo bisher der schönste Friede und die Harmonie herrschten und wo aufrichtige Liebe und Zuneigung zum ungarischen Vaterland mit der inneren Verbundenheit zum katholischen Glauben einhergingen und gestärkt wurden. Diese unselige Nationalitätenbewegung, die durch die bewusste Forcierung der Abgrenzung von nicht ausgesprochen ungarischen Nationalitäten die nicht-ungarischsprachigen Bürger nicht nur vom Ungartum, sondern auch vom ungarischen Vaterland entfremdet, wird nach erneuter Feststellung auch vom katholischen Sonntagsblatt gefördert. Die Nationalitätenbewegung versucht in der Seele der deutschsprachigen ungarischen Bürger eine überschwängliche Begeisterung und Bewunderung für ihre „eigentliche” Heimat zu wecken, die wiederum die innere Verbundenheit mit der ungarischen Heimat, ihre Wertschätzung, die Förderung ihrer Einheit und das Voranbringen ihres Wohlstandes mindert und lockert.
So schmerzlich die dem ungarischen Katholizismus drohende geistige Gefahr ist, gegen die die Seelsorger mit allen Mitteln der geistigen Lebensrettung ankämpfen müssen, so bedauerlich ist die zweite, die den Schrecken der weiteren Zerstörung und des Verderbens unseres verstümmelten Vaterlandes heraufbeschwört, und deshalb ist es notwendig, sich gegen dieses Minenwerk mit kluger Einsicht zu wehren.
Hiermit erbitte ich den Hochwürdigen Herrn Diakon, in dessen Bezirk das genannte Blatt an mehreren Stellen bezogen wird, es zusammen mit den Interessierten und den Herrn Pfarrern zu überwachen und sollte es weiterhin in der angegebenen Richtung wirken, nach vertraulichen Gesprächen sein Bestes zu tun, um es durch ein anderes geeignetes Blatt zu ersetzen.”
Mein Großvater erschien im Amt, da man ihm keine Ruhe ließ, damit er sich endlich einen ungarischen Namen zulegen soll. Er bat um einen Tag Frist und ging im Hinterkopf mit dem ihm vorgeschlagenen Namen nach Hause. Am nächsten Tag ging er wieder hin, und teilte entschlossen mit, dass, wenn der Name Becker all seinen Vorfahren gut genug gewesen ist, er diesen auch für sich behalten wird.
Wenn ich jetzt überlege, könnte ich sicherlich auch mit dem Namen Berecki ganz gewiss glücklich sein. Ob ich aber in allen weiteren Merkmalen mit meinem jetzigen Ich identisch wäre, da habe ich meine Zweifel: nomen est halt omen…