Der Zaun

Von Prof. em. Dr. Josef Bayer

Der Schaflerhof, wohin wir im Jahre 1953 endlich einzogen, war für Kinder ein besonders guter Platz. Zwei flache, einander quer stehende lange Blöcke umarmten einen Hof. Seinen Namen erhielt die Siedlung von den ehemaligen Schafställen, aus denen mit der Zeit kleine Einzimmerwohnungen für Bergarbeiter abgespaltet wurden. Da Arbeiterfamilien in der Regel kinderreich waren, hatten wir ständig viele Spielfreunde. Auch wir waren zu vier mit meinen Geschwistern, aber in der Nachbarschaft gab es Familien mit sogar sieben Kindern. Die Häuser lagen gleich unter dem Hügel, und wenn sich der Hof für uns Kinder als zu eng erwies, konnten wir nach oben rennen – der oben liegende Fichtenwald war ein reines Kinderparadies.

Wir wohnten zwar etwas beengt in der kleinen Wohnung, aber nun konnten wir endlich unter elektrischem Licht den Abend verbringen – früher hatten wir nur Petroleum-Lampe in hinterem Teil des Hauses, wo wir aus Gunst von Verwandten geduldet waren. (Vaters Elternhaus wurde enteignet und er daraus verjagt, zur Zeit der Vertreibung – er durfte als Bergarbeiter in der örtlichen Kohlengrube im Land bleiben.) Eine Reihe von Aborten, aus rohen Brettern gebaut, stand draußen im Hinterhof; Wasser konnten wir in Eimern aus dem artesischen Brunnen von der Straße holen, nur im Winter wurde es etwas umständlich, wenn der Brunnen im tiefen Frost einfror.

Im Sommer gehörte uns Kindern auch die weite Feldmark, wir stöberten frei durch die ganze Umgebung, Wald und Wiese. Im Winter suchten wir jedoch Wärme in der engen Küche; die Sparherdplatte glühte oft, wenn die Kohle im Ofen echt aufflammte. Im Zimmer wurde nur abends geheizt – Mutter legte etliche Gluten auf die Schaufel, rannte ins Zimmer und goss sie in den kleinen Gusseisen-Ofen, damit wir warm zu Bett gehen konnten. Früh morgen wachten wir jedoch meist auf den Blick eingefrorener Fenster auf.

Im Hof hatte jede Familie eine Kammer für Holz, Kohle und etliche Werkzeuge, daneben einen Schweinestall. Im Winter wachten wir oft auf enormes Geschrei und Schrillen wegen Schweineschlacht auf.

All jene, die schon früher da wohnten, hatten ein winziges Grundstück vor ihrer Tür eingezäunt, um sich behaglicher zu fühlen. Dieses Gärtchen war ihr Eigenes, mit einem kleinen Tor; höchstens ein kleines Gebüsch, Blümchen oder Gras fand darin Platz, das davon zeugte, dass sie sich in ihrem Besitz befinden. Es verlieh ein gewisses Gefühl der Geborgenheit.

Wir jedoch hatten keinen Zaun. Wir vermissten ihn auch sehr, denn es zeigte, dass wir weiterhin Neuankömmlinge am Ort waren. Aber nach einer Weile haben wir es trotzdem geschafft, einen eigenen Zaun anzurichten – ich erzähle, wie es geschah.

Im Jahre 1956 gab es gegen Jahresende eisigen Frost. Die Temperatur sank nicht selten unter -20 Grad und es gab auch viel Schneefall damals. Der artesische Brunnen ist eingefroren; die Weiber waren etwas beklemmt, woher sie Wasser nehmen sollen zum Kochen. Findige Leute häuften jedoch Stroh rund um den Brunnen und zündeten sie an. Es dauerte eine gute Weile, bis der Eisstoppel auftaute und zuerst langsam und dünn, aber dann in immer breiteren Spuren das Wasser aus dem Gusseisen-Brunnen rausfloss.

Die meisten Männer, auch mein Vater, verweilten eben zu Hause, weil der Arbeiterrat in der Grube Streik verordnet hat, als Protest gegen die Niederwerfung des ungarischen Aufstandes. Die zwangsläufige Untätigkeit war ein guter Ratgeber: hinaus in den Wald! – schlug Vater vor. Zieh dich warm an!

Er nahm eine kleine Handsäge zu sich, hatte vorher ihre Zähne selbst durch Feile verschärft. In seine Tasche steckte er Zünder – dies war eine gedrehte und durch Pech verfestigte Schnur, die in der Kohlengrube zum Anzünden des Sprengsatzes genutzt wurde – und wir gingen los. Wir marschierten in den Wald, wo in der Nähe des Teufelsturms – ein auffallendes Kalkgestein auf einem kleinen Hügel – ein junger Wald voll von schnell anwachsenden Akazienstielen zu finden war. Er sägte ein paar dickere Stiele für Pfählen und viele kleinere Stangen ab. Als es genug schien, band er sie zusammen, einen kleineren Haufen für mich und einen größeren für ihn selbst. Mit dem Gepäck auf unsrer Schulter machten wir auf den Weg zurück ins Dorf.

Mittlerweile wurde es immer kälter. Eisiger Wind wehte im Tal, der immer schon sehr zugig war. Der Schnee knirschte unter unseren Sohlen, unser Atem war voller Dunst, wohl sichtbar in der klaren Luft. Ich begann mich bald höllisch zu frieren, meine Hände wurden immer steifer und taten weh vor Frost. Ich legte mein Bündel ab, versuchte meine Hände durch Atemluft aufzuwärmen, es half aber nichts. Vater riet, ich soll lieber meine Hände an den Schultern querschlagen, aber es wurde nicht viel besser. Mein Mantel war nicht besonders warm, mein Schuh begann auch langsam nass zu werden im hohen Schnee. Immer öfters legte ich meine Last ab, am Ende versuchte ich sie zu ziehen wie ein Rodel. Als zehnjähriger Junge war ich leider nicht besonders kräftig. Mein Vater nahm einige Stangen aus meinem Pack heraus und legte sie zu seiner zu. Er ermunterte mich, uns zu beeilen, denn es begann zu dunkeln. Je früher wir nach Hause kehren, umso schneller könnten wir uns von der Plage befreien. Und so geschah es auch – wir erreichten bald den Fichtenwald und von dort stiegen wir hinab in unseren Hof.

Als genug Stangen gesammelt wurden, bastelte Vater den Zaun geschickt zusammen. Mit der Axt schnitt er Dornen und Auswüchse ab, grub ein Loch und setzte die Pfähle fest mit Hilfe von Steinen und nagelte die Latten und Stangen zusammen. Das Akazienholz sprengt sehr leicht, deshalb bedarf es einen Trick, was er in der Grube gelernt hat, als sie Zimmerwerk für Untermauerung der Stollen machten. Die Nagelspitze musste man stumpf hämmern, erklärte er, dann sprengt das Holz nicht. Kein Nagel durfte fehlen – krümmte einer, hat er ihn sogleich auf einem Stein gerade geklopft und erneut gebraucht. Es durfte kein Abfall entstehen.
Der Zaun hat guten Dienst geleistet, nun sind wir endlich heimeliger geworden und fühlten uns viel besser, etwas abgesondert von der Außenwelt. Der Zaun bestand bis zum guten Ende, solange wir dort wohnten. Nach vielen Jahren, nach Schließung der Kohlengrube, wurde der Schaflerhof selbst abgerissen, samt seinen Zäunen.

Erst viel später habe ich begriffen, warum Vater mit der Aufrichtung des Zaunes abwartete. Geld war knapp, um fertiges Material dafür zu kaufen, und vor 1956 wäre er vom Förster und Jäger bestraft worden, hätte er sich getraut, Holz aus dem Wald zu holen. Nach dem Krieg – und wohl auch schon davor – war es nicht erlaubt, Reisig aus dem Wald aufzulesen. Ich ging oft mit meiner Mutter hinaus in den Lindenwald, abgefallene, um trockene Äste für Zündholz zu sammeln. Ich erinnere mich, wie beängstigt sie war, stets vorsichtig umschauend, um nicht vom Förster erwischt zu werden.

Meine älteste Schwester erzählte mir auch, dass Vater früher, nach dem Krieg schon einmal Krach mit dem Förster hatte. Der hielt ihn an, als er trockenes Holz aus dem Wald nach Hause trug, nahm sein Gewehr von der Schulter drohend und forderte ihn auf: „Du legst es hier ab und verschwindest!“ (Dieser „Gendarme Pertu“ war üblich in der Zeit, als der Jäger noch im Dienst vom Grafen Karácsonyi stand, der die ganze Gegend in seinem Besitz hatte. Daran erinnerten noch die Trümmer seines Jagdschlosses, die im Weltkrieg niederbombardiert wurde.)

Vater ist aber nicht erschrocken. „Ich kann nicht zusehen, dass meine Kinder frieren.“ – „Aber das ist verboten! Du legst es ab oder ich zeige dich an.“ Daraufhin fluchte Vater nur und antwortete: „Du kannst mich anzeigen, aber ich lege dies nicht ab. Kannst mich auch umbringen, wenn du willst.” – Damit ließ er den Förster stehen.

Stolz und stur, wie er war, ließ er sich nicht einschüchtern und widersetzte sich immer der puren Gewalt. Der Förster traute sich ihn nicht anzuzeigen, obwohl die neue Macht nicht weniger nachsichtiger geworden war als die alte.

Aber im Winter des Jahres 1956, nach dem Aufstand, war es völlig ausgeschlossen, die Arbeiter zu bedrohen. Die Revolution ließ das Selbstvertrauen der Bergarbeiter sehr anwachsen und es war nicht damit zu rechnen, dass die Obrigkeit mit den Menschen so umspringt wie früher.

Das war die Geschichte unseres Zauns, wie ich mich heute noch daran erinnere.

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