Rubicon-Historikerrunde über die Geschichte der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
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Von Richard Guth
Am 28. Oktober 2021 veranstaltete das Budapester Rubicon-Institut unter Beteiligung renommierter Historikerinnen und Historiker eine Gesprächsrunde zur Geschichte der deutschen Minderheit nach 1945. Der Bogen reichte von dem Beginn des Leidensweges unserer Volksgruppe über die Zeit der Konsolidierung in den Sechziger und Siebziger Jahren bis zur Wendezeit, so dass die Runde zum Schluss auch einen Blick über 1990 hinaus wagte.
Wie dachten die Großmächte 1944 über die „deutsche Frage”?, lautete die Eingangsfrage der Historikerin und Leiterin der Runde, Dr. Réka Marchut. Dr. Beate Márkus sprach von einem Scheitern des Minderheitenschutzsystems der Vorkriegszeit, daher habe man mit Umsiedlungen und Vertreibungen gerechnet und somit entsprechende britische Pläne und Überlegungen übernommen. Radikale Ansichten wie die Errichtung von Internierungslagern brachen dabei auch Bahn. Der Vergeltungsgedanke und die Wiedergutmachung dominierten nach Dr. Márkus’ Ansicht die Überlegungen der sowjetischen Besatzungsmacht in Form von Verschleppungs- bzw. Zwangsarbeitsaktionen, der die anderen Großmächte anfangs nicht widersprachen, so die Quellenlage. Auch in sowjetischen Dokumenten findet man deutliche Hinweise darauf, dass die deutsche Nationalität einen Ausschlag bei der Verschleppung aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern ins Sowjet-Reich gab, dennoch betraf dies auch die nichtdeutsche Bevölkerung. Ende 1944 / Anfang 1945 wurden in Folge der Aktion (geheimer Befehl) gegen die Deutschen aus Ungarn Schätzungen zufolge 30-32.000 Menschen, aus Rumänien 70.000 Bürger in die Sowjetunion verschleppt. Hinsichtlich der Zahl aller aus Ungarn Verschleppter seien die Quellen viel ungenauer, so Dr. Márkus. Die Reaktion der lokalen Verwaltungen sei dabei unterschiedlich gewesen, so die Historikerin Dr. Ágnes Tóth, eine weitere Teilnehmerin der Runde: Manche hätten versucht die Aktion zu verlangsamen, manche Hauptamtsleiter in den Dörfern und Städten hingegen hätten auch zusätzliche Personen auf die Liste gesetzt. Von Dämonisierung der deutschen Minderheit und der Idee einer Kollektivstrafe für die Deutschen sei die Atmosphäre gekennzeichnet gewesen, so Dr. Márkus, Dozentin an der Universität Fünfkirchen. So seien in erster Linie nicht die Schuldigen, sondern Unschuldige verschleppt worden, wie das Beispiel von siebzehnjährigen Verschleppten zeigt. Problematisch sei dabei die Definition der deutschen Nationalität beziehungsweise Herkunft gewesen, was die Willkür begünstigte, so die Gesprächsrunde.
Gleichzeitig habe ab Sommer 1944 eine Fluchtbewegung Richtung Westen eingesetzt, worüber man aber recht wenig wisse. Man schätzt die Zahl der Flüchtlinge auf 40.-50.000. Aus Katschmar/Katymár flohen 2000 von den 5000 Deutschen – ein Teil kehrte zurück, rief Dr. Ágnes Tóth in Erinnerung, die am Institut für Minderheitenforschung am Loránt-Eötvös-Forschungsnetz als Professorin tätig ist.
Der Leidensweg begann nach Dr. Ágnes Tóth im Februar 1945 mit der Bodenreform. Die erste Stufe der Kollektivstrafe war die Beschlagnahmung des Boden-Besitzes der Volksbundmitglieder gewesen. Erschwert worden sei die Identifizierung der Volksbund-Mitglieder durch Vernichtung oder Mitnahme von Unterlagen, ergänzte die Teilnehmerin der Runde, Dr. Réka Marchut. 20.000 Bukowina-Sekler klopften bereits an der Tür. Für die chaotische Situation stünden u. a. die Bodor-Aktionen in Südungarn, wo Schwaben ihre Häuser verlassen mussten. Die Bodenreform habe für viel Aufruhr im Land gesorgt und den Prozess der Enteignung der Deutschen beschleunigt. Bis Mai sei festgestanden, dass die Deutschen vertrieben werden sollen – die Kleinlandwirtepartei sei damals noch gegen die Kollektivstrafe gewesen. Die Historikerin Dr. Tóth wies – unter Bezugnahme auf die Forschungstätigkeit von Dr. Beate Márkus – noch einmal deutlich darauf hin, dass der Potsdamer Beschluss („Potsdamer Legende”) die Vertreibung lediglich ermöglicht habe, die Entscheidung aber die ungarische Seite getroffen habe. Bei aller Verantwortung der Großmächte sei man in Potsdam damit beschäftigt gewesen, die wilden Vertreibungsaktionen im Sudetenland und in den deutschen Ostgebieten zu regeln. Die Lobbytätigkeit der Tschechoslowakei dürfe auch nicht verkannt werden – eine Vertreibung der Madjaren lehnte man ab, man regte einen Bevölkerungsaustausch an.
Man beleuchtete im Anschluss auch die Umstände der Vertreibung. Dr. Beate Márkus sprach von einem Prozess der Entrechtung, der Ende Dezember 1945 in der Vertreibungsverordnung gipfelte, in der es von Nonsenses nur so gewimmelt habe. Die Verordnung wurde schnell umgesetzt, denn am 19. Januar setzten sich die ersten Transporte aus Wudersch in Bewegungen. Dies zeige, dass die Aktion von langer Hand vorbereitet war. Dennoch sei die Vertreibung in der ersten Phase bis Juni 1946 chaotisch und unkontrolliert verlaufen. Transportkapazitäten hätten nicht zur Verfügung gestanden, was die Vertriebenen zum Warten verdammt habe, erläuterte die Historikerin Dr. Ágnes Tóth. Im Sommer stellten – wie die Dokumente zeigen – die Amerikaner Bedingungen, wodurch die Vertreibung zum Erliegen kam. Danach wurden 1947/48 35.000-50.000 Deutsche in die SBZ vertrieben. Die Aktion endete im Sommer 1948.
Auf die Daheimgebliebenen wartete eine Zeit der Entrechtung: Sie besaßen nicht einmal Wahlrecht; das sagte bereits Balázs Dobos von der Corvinus-Universität Budapest und vom Forschungsnetzwerk Eötvös. Die Restriktionen erstreckten sich auch auf die Wahl des Wohnortes oder die Berufswahl. Eine allmähliche Entspannung habe Anfang der 1950er eingesetzt, das Wahlrecht erhielten die Deutschen erst 1953 zurück. Im Sommer 1955 entstand der „Deutsche Verband“ – unter Beteiligung von sechs Personen, drei von ihnen Journalisten, was den engen Spielraum zeige. Die Deutschen seien in einem Verzug von acht bis zehn Jahren gewesen – im Vergleich zu den anderen Nationalitäten, ergänzte Dr. Tóth. Bis Ende der 1960er Jahre habe das Stigma der vermeintlichen Kollektivschuld gegolten, so die Einschätzung der renommierten Forscherin. Diese Diskriminierung habe sich beispielsweise bei der Verteilung von Fördergeldern gezeigt – wie etwa beim Ausbau von Gehwegen in den Kommunen. Dobos nannte einen Parteibeschluss von 1958, wonach man ein friedliches Zusammenleben der Nationalitäten anstrebe – mit dem Ziel einer „natürlichen” Assimilation.
Die Vorgänge haben nach Dr. Tóths Überzeugung die Gemeinschaft insgesamt zerstört, nicht zuletzt auf der familiären Ebene: Der Prozess der Wiedervereinigung der Familien habe bis Mitte der 1960er Jahre angedauert. Ein wunder Punkt war die Restitution der enteigneten Häuser, was zu einem hohen Leerstand in den Dörfern führte. Bis Ende der 1960er Jahre wurden viele Häuser wieder in Besitz genommen, parallel dazu entvölkerten sich die Gemeinden immer mehr. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre habe eine eine Reorganisation auf der Gemeinschaftsebene eingesetzt, durch den Eintritt u. a. von Agrarakademikern, so Dr. Tóth.
Der Corvinus-Dozent Balázs Dobos wies auf Entwicklungen ab 1968 hin, wonach die Politik die Identität der Nationalitäten, denen fortan eine Brückenfunktionen zukommen sollte, fördern wollte. Die Kontrolle der Partei sei jedoch unangetastet geblieben, unter anderem zeigte sich das bei der Bestimmung der Führungspersönlichkeiten in den Nationalitätenverbänden. Der Politikwissenschaftler sprach von Grenzen für Initiativen von unten und von formalistischen Ergebnissen – mit einem starken Hang zur Kulturpflege. Darüber hinaus habe man jegliche Form von nationalistischen Tendenzen – oder was man dafür hielt – bekämpft. In den 1980ern habe man eine Liberalisierung erlebt, die Nationalitätenfrage sei aber immer mehr von der Frage der Auslandsmadjaren beeinflusst gewesen, ergänzte Dr. Tóth.
Gab es eine Wende auch in der Nationalitätenpolitik?, lautete die Abschlussfrage. Dies bejahte Dobos, allein schon wegen der Freiheit der Vereinsgründung, auch andere Gesten (Nationalitäten staatstragend und die Frage der Vertretung) zeigten in eine positive Richtung. Angesichts der Entwicklungen bei den Volkszählungen und der Organisation der deutschen Nationalität könne man bei aller Kritik die Frage bejahen, so Dr. Beate Márkus. Dr. Ágnes Tóth sprach in diesem Zusammenhang von einer lebendigen Gemeinschaft in der Gegenwart, die sich artikulieren könne.