In der 24. Stunde – aus dem Anlass einer Veröffentlichung

Von Richard Guth

Man trifft sich im Leben zweimal, pflegt man zu sagen, und tatsächlich tritt das hin und wieder ein. Auf unserer Partnerseite zentrum.hu des Ungarndeutschen Kultur- und Informationszentrums wurde über ein Buch berichtet, dessen Entstehen maßgeblich Maria Szorg-Thurn zu verdanken ist. Die 74-jährige Boschokerin begegnete mir vor einiger Zeit in einem anderen Kontext: Wir übernahmen aus einer regioneln Zeitung einen Artikel über Branauer Pflegekräfte, die in Deutschland und Österreich arbeiten. Eine der Interviewpartnerinnen war Maria Szorg-Thun.

Meine Mutter war elf Monate in Russland bei der Zwangsarbeit, durfte aber nach einem Arbeitsunfall frühzeitig heimkehren. Anfangs, als ich noch ein Kind war, hat man kaum etwas über die Verschleppung gehört, erst später, nach der Wende, als meine Mutter bettlägerig war, hat sie sehr viel darüber erzählt”, berichtet die pensionierte „Ernährungsleiterin“ über ihre Motivation, sich der Geschichte der Verschleppung aus ihrem Heimatdorf Boschok/Palotabozsok nahe Mohatsch zu widmen. Beim dieses Jahr herausgebrachten Band* handelt es sich um das dritte Buch des Autorenkollektivs Maria Szorg-Thurn sowie Eheleute Maria Mieth-Jordán und Josef Jordán, denn 2014 erschien eine Dorfchronik über Boschok und fünf Jahre später zum 50. Jubiläum der Gründung des Deutschen Singchors ein Buch über die Kulturgruppe, die Maria Szorg-Thurn seit 15 Jahren leitet und der sie seit der Gründungszeit angehört.

Die Existenz des Buches über die Verschleppung ist auch diesem Singchor zu verdanken: „Wir haben in den Proben viel über das Thema gesprochen. Ein weiterer Impuls war der Film „Ewiger Winter” des ungarischen Regisseurs Attila Szász (siehe hierzu das Interview mit dem Regisseur im Feuilleton!). Wir haben voriges Jahr damit angefangen und es hat ein Jahr gedauert, bis Sammelarbeit und Schreiben abgeschlossen waren. 109 Personen, 94 Frauen und 15 Männer, unter ihnen auch 16-Jährige, wurden zur Zwangsarbeit verschleppt. Fünf von ihnen lebten noch, als wir mit der Arbeit begannen, zwei der betagten Zeitzeuginnen sind jedoch in der Zwischenzeit verstorben”, erzählt Szorg-Thurn. „Eine der Interviewpartnerinnen, die 99 ist und in Deutschland lebt, frisch im Kopf, konnte uns mit vielen wertvollen Informationen versorgen”, ergänzt die Autorin. Auch ihre Tätigkeit als Hobby-Ahnenforscherin, sie habe bereits elf Stammbäume erstellt, half bei der Arbeit.

Erzählungen, die Maria Szorg-Thurn nur über die Zeitzeugen erfahren konnte, hätten – wie sie sagt -, ihren Wissensstand enorm erweitert. Aber auch die Entwicklung nach Flucht, Verschleppung und Vertreibung, die sie teilweise bewusst miterlebt hat, erscheinen als genauso interessant: so die Grundschulzeit mit den slowakeimadjarischen und seklerischen Neubürgern der Gemeinde, in der das Ungarische immer mehr die Oberhand gewann, was sich auch im Sprachgebrauch der Deutschen zeigte: Das bekannte Muster, Ansprache der Eltern in der Mundart – Antwort der Kinder auf Ungarisch, war auch in der Familie Szorg Alltag. Das anfangs angespannte Verhältnis zwischen Alteingesessenen und den „telepesek” (Neusiedlern) entspannte sich nach Erinnerungen von Szorg-Thurn allmählich, so dass mit der Zeit auch Mischehen geschlossen wurden: Das beste Beispiel ist einer ihrer Schwiegersöhne, der zwei seklerische, einen madjarischen und einen deutschen Großelternteil hat. Ihre schulische Karriere setzte die 74-Jährige in Baaja am Leo-Frankel-Gymnasium fort, das gleich vier Boschokerinnen besuchten. Auch hier dominierte das Ungarische die Pausengespräche – auch zwischen Lehrern und Schülern -, im Unterricht der geisteswissenschaftlichen Fächer wurde deutsch gesprochen und nach Erinnerungen von Szorg-Thurn bediente man sich auch in den naturwissenschaftlichen Fächern zum Teil der deutschen Sprache. Vor diesem Hintergrund erschien für sie eine Beobachtung Mitte der 1970er Jahre an der Bushaltestelle als besonders bemerkenswert: Kinder aus Ketschinge/Görcsönydoboka warteten auf den Bus und sprachen miteinander Mundart. Ketschinge sei damals noch ein deutsches Dorf gewesen – ohne „telepesek” -, was den Sprachgebrauch im Dorf auf diese Weise positiv beeinflusst habe. Über ähnliche Erfahrungen berichtete vor einigen Monaten die ehemalige Nadascher Kindergartenleiterin Theresia Keszler in Bezug auf die Kinder aus Ofala/Ófalu in den 1980er Jahren.

Aber auch andere Dinge veränderten sich im Laufe der Zeit – und aus unserer Sicht zum Negativen. Szorg-Thurn nennt da das Beispiel des 1969 gegründeten Singchores, der wohl dieses Jahr seine Tätigkeit eingestellt hat: „Unser Chor gehörte in den 1960ern zu den ersten, die gegründet wurden. Wir konnten große Erfolge feiern, damals unter Friedrich Wild gab es diese viertägigen Fahrten durchs Land. So waren wir in den deutschen Dörfern rund um Budapest: in Werischwar/Pilisvörösvár, Schaumar/Solymár, aber auch in Gestitz/Várgesztes (dessen Singgruppe dieses Jahr 30-Jähriges feiert, siehe Aktuelles!) oder in Marka/Márkó. Damals gab es viele Sänger, wir waren jung und trugen stolz die Volkstracht. Heute sind wir alle zwischen 71 und 88 Jahren, der Nachwuchs fehlt. Die jungen Leute sagen, sie hätten keine Zeit. Ich denke aber, dass sie keine Gesellschaftsmenschen mehr sind, sie verbringen ja die meiste Zeit am Computer”, weist die pensionierte „Ernährungsleiterin“ auf die Sorgen vieler Kulturgruppen im Lande hin. Zeitprobleme, wofür die 74-Jährige wenig Verständnis hat: „Wir hatten früher mehr Arbeit, denn wir hatten noch die Felder und Weingärten zu bestellen.” In der Konsequenz musste der Chor nach 52 Jahren zum ersten Mal eine Einladung absagen, denn die Leute könnten – zum Teil krankheitsbedingt – nicht mehr. Es gab nach Szorg-Thurns Angaben Versuche, mit jungen Sängerinnen und Sängern neue Formationen zu gründen, aber ein durchschlagender Erfolg lasse noch auf sich warten, was sie sorgenvoll in die Zukunft blicken lässt, was die Pflege des deutschen Erbes anbelangt.

Als weiteres Problem sieht sie die Abwanderung an: „Viele gehen nach Österreich und Deutschland und wenn sie dann Kinder bekommen, bleiben sie dort. Auch die Binnenwanderung ist groß – mein Sohn beispielsweise wohnt in Budapest.” Sie berichtet als Paradoxon von einem Ehepaar aus Budapest, das sich hingegen in Boschok niedergelassen habe – dank der Nähe zur Autobahn. Dahingegen beobachte sie die Anwesenheit von „Fremden”, unter ihnen Bundesdeutsche und viele Alte. Die Schule stehe im 850-Seelen-Dorf bereits leer und zeigt klar und deutlich das Problem der Entvölkerung vieler Branauer Gemeinden, was sich auch an der Statistik ablesen lässt: Hatte Boschok 1910 noch fast 2000 Einwohner, waren es 90 Jahre später nur noch 1100 und heute (2019) sind es 854.

Auch kulturell habe sich vieles verändert: „Die Mütter der vier Boschoker Mädchen erschienen zum Elternabend in Baaja Mitte der Sechziger in Volkstracht. Damals hatten sich die Mütter der Batschkaer Mitschüler bereits alle umgekleidet. So folgten auch unsere Mütter diesem Beispiel. Heute gibt es in Boschok nur noch eine Trachtenträgerin.” Auch die Mundart verschwinde allmählich: „Meine Schwester, die fünf Jahre älter ist als ich, hat in Mohatsch Friseuse gelernt, kam aber jeden Tag nach Hause. Sie spricht daher viel besser die Mundart als ich. Auch in der Küche der Tagesstätte sprachen die Frauen ihre Mundarten. Heute wird – könnte man sagen – ab 75 aufwärts noch Mundart gesprochen.” Die jungen Frauen, die in Deutschland und Österreich als Altenpflegerinnen arbeiten, sprächen nach Angaben Szorg-Thurns Hochdeutsch mit den dortigen dialektalen Einflüssen.

Interessant ist dabei die Frage, inwiefern die Arbeit im „Mutterland” die Identität der Frauen beeinflusst. „Unterschiedlich”, sagt Maria Szorg-Thurn, deren Großeltern mütterlicherseits nach der Vertreibung im hessischen Griesheim lebten, wo sie die Sommer verbrachte. Sie erzählt dann, wie im Beitrag über die Altenpflegerinnen, die Geschichte mit dem betagten Freiherrn am Starnberger See: Er nannte sie stets „unsere Ungarin“ (sprich Madjarin), bis sie eines Tages im Haus auf eine Ahnentafel stieß und dort einen Urahnen des „Herrn Baron” aus Fünfkirchen fand. Szorg-Thurn sagte: „Sie haben ungarisches Blut in ihren Adern, ich hingegen nur deutsches. Danach war ich für ihn »unsere Maria«”.

*Unmenschliche Schicksale – Embertelen sorsok – Chronik der 1944 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppten jungen Boschoker Frauen und Männer, Hg. vom Boschoker Deutschen Nationalitätenverein 2021

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