Zwischen Tradition und Erneuerung – zu Besuch beim Branauer Gastgewerbe

Von Richard Guth

Man nähert sich dem Ziel der Reise. Autobahnausfahrt Surgetin/Deutschbohl, danach knapp zwei Kilometer Kreisstraße und man erreicht die Grenzen der Kreisstadt Deutschbohl in der Südbranau. Das Kellerdorf – nichts Ungewöhnliches in den deutschbewohnten Gemeinden Südungarns – erscheint auch hier als ein eigenständiger Ortsteil. „Neidhardt Vendégház” steht am schmucken Bau, davor noch Anzeichen reger Bautätigkeit – das Gästehaus ist in diesem Jahr bezugsfertig geworden, nun sind Restarbeiten im Garten im Gange. Nach der Unterbringung meiner Familie eile ich zu Zoltán Kelbert, dem Betreiber des Landhotels.

Das Presshaus, wo jetzt das Gästehaus steht, stand jahrelang leer. Mein Neidhardt-Opa hatte hier einen Weingarten, sein Wein war in dem Keller des Presshauses gelagert. Er ist leider vor 20 Jahren verstorben. In Bohl/Bóly war schon immer eine große Nachfrage nach Unterkünften. Die Lage des Presshauses ist günstig. Es liegt an der Hauptstraße. Vor ihm liegt eine große Wiese, wo viele Veranstaltungen stattfinden. Ich wollte mich schon immer mit der Gastwirtschaft beschäftigen. Dieses Projekt war eine gute Gelegenheit dazu”, erläutert Zoltán Kelbert die Parameter des Projekts „Gästehaus Neidhardt”. Die Familie gilt im Ort als alteingesessen: Zoltán Kelberts Mutter, geborene Neidhardt, arbeitete in der örtlichen Grundschule, der aus Maarok stammende Vater war Schlosser von Beruf, jetzt pflegt er den Weingarten der Familie: „Unsere Familie besitzt einen kleinen Weingarten an der Hauptstraße Mohatsch-Fünfkirchen. Dort hatten die Bohler schon immer ihre Weingärten. Südlicher Hang, guter Boden, keine Frostgefahr – das Gebiet ist günstig für den Weinbau. Ich helfe meinen Eltern im Weingarten, vom Schneiden bis zur Weinlese. Der Winzer ist vor allem mein Vater.” Er erzählt noch, dass in Bohl sowohl Weiß- als auch Rotwein hergestellt werde und dass der Weintourismus eine große Rolle in der Kreisstadt spiele, wozu auch Feste wie das Weinlesefest oder der Emmausgang am Ostermontag beitragen würden.

Traditionspflege wird in der Familie Kelbert auch heute großgeschrieben, dazu gehörte – gehört – beim dreifachen Familienvater auch die deutsche Sprache (im Übrigen die Sprache der Konversation mit dem Sonntagsblatt): „Die deutsche Sprache – die Identität – war immer vorhanden. Meine Großeltern und meine Großtante sprachen die Mundart, wir Enkel – mein Bruder, der in Österreich als Simultandolmetscher arbeitet, und ich – wuchsen damit auf. Meine Mutter sprach mit uns auch die Mundart. Wir haben als Kinder die Sprüche und Verse von unseren Großeltern gehört und gelernt, in der Schule und der Tanzgruppe mitgemacht. Die Volksmusik, die Tänze, die Sprüche lernen auch meine Kinder.” Er sieht aber auch die Entwicklung der letzten Jahre, Jahrzehnte, in denen die Mundart zunehmend aus dem Alltag verschwand bzw. verschwindet, da die Jüngeren die Mundart nicht mehr erlernen würden, sondern nur die „in der Schule gelernte deutsche Sprache”. Dies hat/hatte auch mit dem Umstand zu tun, dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele aus Deutschbohl vertrieben wurden – ihre Stelle nahmen Madjaren beziehungsweise Ungarn aus der Tschechoslowakei und der Großen Ungarischen Tiefebene ein, erinnert sich der Sohn, dessen Mutter in der örtlichen Grundschule unter anderem Geschichte unterrichtete.

Aber nun kehren wir zum Thema „Gästehaus“ zurück, das nach Kelberts Angaben zum Zeitpunkt des Besuchs Mitte August „fast immer besetzt” sei. Das Publikum sei heterogen: Familien, Durchreisende, aber auch Geschäftsreisende von Bohler und deutschen Firmen würden bei Neidhardts eine Unterkunft finden. Auch Firmentrainings würde man im schmucken Gästehaus, das aus zwei Gebäuden besteht, veranstalten. Das Projekt wurde nach Kelberts Angaben zum Teil aus Erspartem und einem Bankdarlehen, aber auch aus EU-Mitteln realisiert. Das Gästehaus Neidhardt ist dabei ein richtiges Familienunternehmen: Hauptberuflich arbeitet hier Zoltán Kelberts aus Siebenbürgen stammende Frau Boglárka, unterstützt werde sie noch von Zoltáns Mutter und ihm selbst.

Am nächsten Tag nehmen wir Abschied vom Gästehaus, es geht weiter ins Herzland des Willander Weingebiets. Jackfall/Kisjakabfalva heißt die nächste Station, wo ich von Gábor Jandrasics erwartet werde. Das Sackgassendorf unweit von Willand/Villány macht einen gemischten Eindruck: Verlassene, halb verfallene Höfe neben herausgeputzten, auch die Kreisstraße, die zum Ort führt, könnte eine neue Asphaltschicht vertragen. „Der Name und die Begebenheiten des Dorfes, also ein kleines Sackgassendorf mit schönen, aber verfallenen und doch unberührten Höfen und einem gepflegten Friedhof sowie die Botschaften, die auf die schwäbische Mentalität zurückzuführen sind und auch für das Heute eine Aussagekraft besitzen, haben mich berührt. Das Dorf hatte eine Vergangenheit, aber keine Gegenwart – aber was mich noch mehr reizte, war das Potenzial die Zukunft aktiv zu gestalten”, berichtet der in Budapest lebende IT-Unternehmer.

Anders als Zoltán Kelbert hat Jandrasics nach eigenen Angaben keine familiären Beziehungen zu Jackfall, das er als Markennamen für seine Weinmanufaktur mit Pension nahm, in der er Mehrheitseigner ist: „Wir hatten in Willand eine kleine Familienkellerei mit 0,3 Hektar Fläche und einer Produktion von 2000 Flaschen pro Jahr. Daraus entstand eine Premiumkellerei mittlerer Größe, die 16 Hektar bewirtschaftet und 60.000 Flaschen im Jahr abfüllt.” Die Weinmanufaktur Jackfall beschäftigt sieben Angestellte und erzielte im Vor-Corona-Geschäftsjahr 2019 einen Jahresnettoumsatz von 61 Millionen Forint (170.000 Euro), der im ersten Corona-Jahr um ein Drittel auf 41 Millionen Forint (114.000 Euro) sank. Im letzten Geschäftsjahr weist der Geschäftsbericht eine Investitionstätigkeit in Höhe von 120 Millionen Forint (330.000 Euro) aus, was auf eine auch vor Ort wahrnehmbare Bautätigkeit hinweist, d.h. Erweiterung des Unterkunftsangebots. Darüber hinaus wurde im vergangenen Jahr eine 450-Millionen-Forint-Investition (1,25 Millionen Euro) im Weinbausegment abgeschlossen. Nach Angaben von Gábor Jandrasics erwirtschaftete die Weinmanufaktur bislang jedes Jahr einen Gewinn, der zur Finanzierung von Investitionsprojekten diente und dient.

Ein Herzstück des Unternehmens sind die schwäbischen Bauernhäuser, die Jandrasics im Laufe der Zeit herrichten ließ und die immer mehr Platz für Gäste bieten. Gegenwärtig stehen nach Unternehmensangaben 18 Zweibett-Zimmer zur Verfügung der Gäste. Diese sind nach seinen Angaben in erster Linie „anspruchsvolle Weinliebhaber, die deswegen zu uns kommen” und bestätigt somit die starke Bindung zwischen Wein und Tourismus wie im Falle des Gästehauses Neidhardt in Bohl. Die Mehrheit der Gäste komme aus Ungarn, der Anteil der Ausländer betrage 20-30 %.

Qualitätsmanagement spiele für Jandrasics, der seine Führungskompetenzen im eigenen IT-Unternehmen erworben hat, eine wichtige Rolle: „Die größte Herausforderung stellt die Etablierung des ungarischen Weins und Ungarns dar. Die Antwort darauf ist die Steigerung der Qualität beim Wein, in der Gastwirtschaft und in der Gestaltung und Pflege des Umfelds.” Ungarns multikulturelle Welt könnte nach Jandrasics’ Ansicht gerade über die Weinkultur vorgestellt werden, unter anderem durch einen Besuch im Konrad-Haus in Jackfall. Im März 2020 zog Gábor Jandrasics mit seiner Partnerin Ottilia Burger nach Jackfall, wodurch er mehr für die Gemeinde tun könne – über die Teilnahme an und die Organisation von lokalen Ereignissen. Der Unternehmer nennt hier die Kooperation mit dem Kodály-Institut in Kecskemét: Gasthörer aus dem Ausland hätten bereits sechsmal ein Platzkonzert vor der Pfarrkirche in Jackfall gegeben, dieses Jahr plane man zum ersten Mal ein Konzert in der Kirche selbst. Im Ergebnis und zum Teil dank der Spendengelder, die man bei den Konzerten gesammelt habe, habe man die verfallene Kirche 2019 renovieren können.

Es handelt sich aber um ein Umfeld, das nach Jandrasics Eindruck hinsichtlich Bevölkerung, Sprachgebrauch und Identität nicht mehr deutsch sei. Dennoch will er mitwirken, das schwäbische Erbe in der Architektur und der Weinkultur als Ausdruck einer nach seinem Eindruck „starken Traditionspflege” ein Stück weit zu erhalten.

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