„Historische Ergebnisse und Fortschritte erzielt” – Im Gespräch mit dem Listenführer der Deutschen Liste, Emmerich Ritter

SB: Herr Ritter, vor den kommenden Parlamentswahlen im Frühjahr haben Sie Bilanz über Ihre Tätigkeit in der vergangenen Wahlperiode gezogen und darüber Ihren Wählern beziehungsweise der Vollversammlung der Landesselbstverwaltungen Bericht erstattet. Worüber haben Sie berichtet, welche wichtigen Ereignisse und Entwicklungen der letzten Jahre haben Sie dabei hervorgehoben?

ER: Neben der ausführlichen Berichterstattung bei den Vollversammlungen der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen über meine Arbeit in der Zeit zwischen zwei Versammlungen habe ich im Oktober 2021 gegenüber der Vollversammlung der LdU, den Vollversammlungen der deutschen Nationalitätenorganisationen sowie allen 402 Selbstverwaltungen deutscher Nationalität und den deutschen Zivilorganisationen landesweit Rechenschaft abgelegt. In diesem Bericht über die vergangenen sieben Jahre habe ich folgende unbestreitbare Ergebnisse – betreffend alle 13 Nationalitäten hervorgehoben: Die Betriebskostenzuschüsse für die Landesselbstverwaltungen haben wir nahezu verdoppelt und für das Jahr 2022 bereits einen Investitions- und Renovierungsrahmen von ca. drei Milliarden Forint für Nationalitätenbildungs- und -kultureinrichtungen in der Trägerschaft von Nationalitätenselbstverwaltungen festgelegt. Bei den örtlichen Nationalitätenselbstverwaltungen haben wir die Betriebskostenzuschüsse vervierfacht sowie die aufgabenbezogenen Subventionen um das Zweieinhalbfache erhöht.

Auch im Rahmen der Kultur- und Bildungsautonomie der Nationalitäten wurden in den vergangenen sieben Jahren bedeutende Fortschritte erzielt: 55 örtliche Nationalitätenselbstverwaltungen haben die Trägerschaft von insgesamt 75 Nationalitäten-Bildungs- und Erziehungseinrichtungen übernommen. Bei diesen Einrichtungen haben wir 2020 auch die Eigentümerrechte der Immobilien übernommen. Für diese Institutionen haben wir einen Investitions-, Erneuerungs- und Ausschreibungsrahmen in Höhe von ebenfalls drei Milliarden Forint geschaffen und einen Betriebskostenzuschuss in Höhe von 350 Millionen Forint festgelegt.

Auch der Bereich der Ausbildung und besseren Entlohnung der Nationalitätenpädagogen war ein für uns wichtiger: In drei Schritten (in den Jahren 2018 und 2019 sowie zum 1. Januar 2020) wurde die Zulage für Nationalitätenpädagogen vervierfacht und auf alle Nationalitätenpädagogen ausgedehnt; das heißt, dass im Jahre 2021 etwa 4.000 Nationalitätenlehrerinnen und -lehrer 3,5 Milliarden Forint mehr Zulage erhalten haben als 2017. Ebenfalls zum 1. September 2018 haben wir das Stipendienprogramm für angehende Nationalitätenpädagoginnen und -pädagogen eingeführt. So konnten wir im Studienjahr 2018/19 mit 87, 2019/20 mit 217 und 2020/21 mit 436 Studentinnen und Studenten einen Vertrag abschließen; diese Zahl ist im aktuellen Studienjahr 2021/22 bereits über 500. Um die Anzahl der Studierenden und die Qualität der Ausbildung in der Nationalitätenpädagogenausbildung deutlich zu erhöhen, fördern wir ab 2019 vorrangig und gezielt die ausbildenden Universitäten und Hochschulen.

Die Wiegen der nationalen Identität und Kultur sind die kulturellen und traditionellen Vereinigungen der Nationalitäten. Deshalb bin ich besonders stolz darauf, dass wir die Unterstützung von Nationalitäten-Zivilorganisationen von 110 Millionen Forint auf 500 Millionen Forint, d. h. um das Viereinhalbfache, die Unterstützung für Nationalitäten-Kulturprogramme von 110 Millionen Forint auf 700 Mio. Forint, d. h. um das Sechsfache, und die Subventionen für Deutsch-Studentencamps von 30 Millionen Forint auf 400 Millionen Forint, d. h. um das Dreizehnfache, erhöhen konnten.

Alles in allem kann objektiv gesagt werden, dass wir die Unterstützung der in Ungarn ansässigen Nationalitäten von weniger als vier Milliarden Forint (12,12 Millionen Euro, Red.) im Jahre 2014 bis 2022 auf 22 Milliarden Forint (62,82 Millionen Euro, Red.) – d.h. nominell fast um das Sechsfache – erhöhen konnten. Wenn wir noch berücksichtigen, dass es in den 14 Jahren vor der parlamentarischen Vertretung zwischen 2000 und 2014 fast keine Subventionserhöhung gab, dann muss man meiner Meinung nach nichts mehr hinzufügen.

Hervorheben möchte ich an dieser Stelle, dass wir neben der Erhöhung der Subventionssumme auch mit rechtlichen Garantien sicherstellen konnten, dass die Verteilung der Subventionen und Ausschreibungsgelder durch die 13 Nationalitäten selbst bestimmt werden kann – unter der Aufsicht der für die Nationalitäten zuständigen Ministerien.

Neben den objektiven Zahlen der Erhöhung der Nationalitätensubventionen halte ich es für mindestens genauso wichtig, dass durch die ständige Präsenz des Themas und eines gewählten Vertreters der deutschen Gemeinschaft im Parlament die ungarischen Politiker und das ungarische Parlament die Ziele und Probleme der ungarischen Nationalitäten kennen gelernt haben und Partner bei deren Lösung geworden sind.

Zwischen 2014 und 2018 diskutierte der Nationalitätenausschuss Ungarns zehn Gesetzesänderungen, die lediglich Nationalitätenfragen betrafen, und darüber hinaus 52 Gesetzesentwürfe und Berichte. Seit 2018 – unter meinem Vorsitz – wurden mehr als 70 Gesetzesentwürfe und Berichte, Dutzende Teil-Gesetzesänderungen sowie vier vollständig die Nationalitäten betreffende Gesetzesänderungen beim Ungarischen Parlament eingebracht sowie eine Ausschussentschließung zur Europäischen Bürgerinitiative namens „Minority SafePack” vorgelegt.

Ich persönlich betrachte es als das größte Ergebnis der letzten knapp acht Jahre meiner parlamentarischen Mitarbeit, dass wir als Minderheit in Ungarn im ungarischen Parlament erreichen konnten, dass alle Änderungsanträge und Initiativen, die der Nationalitätenausschuss vorgelegt hat, von allen Fraktionen und parteilosen Abgeordneten des ungarischen Parlaments einstimmig angenommen worden sind. Sie wurden nicht beworben, aber auch nicht angegriffen oder mit einem Änderungsantrag eingebracht. Mit anderen Worten: Nationalitätenfragen wurden aus den – oft ziemlich schmutzigen – parlamentarischen Auseinandersetzungen herausgehalten und – als seltener nationaler Konsens – immer einstimmig angenommen.

Die letzten sieben, acht Jahre haben den Nationalitäten – einschließlich den Deutschen – ermöglicht, positive Veränderungen einzuleiten und Programme auf den Weg zu bringen, die sicherstellen können, dass unsere Kinder und Enkelkinder mit einer starken Nationalitätenidentität, ihrer Nationalitätenmuttersprache und -kultur sowie ihren Nationalitätentraditionen als starke Gemeinschaft in ihrem Heimatland, im Ungarn der Zukunft, leben können.

SB: Parlamentsarbeit ist die eine Seite, der Kontakt zur Basis die andere: Wie würden Sie Ihre Beziehung zu der Gemeinschaft, die Sie im Parlament vertreten, beschreiben?

ER: Am besten könnte ich meine Beziehung zur deutschen Nationalität in Ungarn so beschreiben, dass ich mit Sicherheit sagen kann, dass weder in den letzten vier Jahren noch im vorangegangen Zyklus keine Anfragen bei uns eingegangen sind – sei es von einer lokalen Selbstverwaltung, einer Nationalitäteneinrichtung oder einer Einzelperson -, die wir nicht behandelt und diskutiert hätten und in denen wir dann mit meinen Kollegen keine Lösung und Hilfe gefunden hätten.

SB: Wenn Sie jetzt auf die Jahre Ihrer parlamentarischen Tätigkeit zurückblicken: Wie haben Sie diese im Hinblick auf die Interessensvertretung der Gemeinschaft und der anderen Nationalitäten persönlich erlebt?

ER: Nach dem Einzug ins Parlament war es wichtiger – als die aktuellen, kurzfristigen Ziele – „den Weg zu bereiten und auszubauen“ hinsichtlich der parlamentarischen Vertretung der Nationalitäten. Ich musste einige schwerwiegende strategische Entscheidungen treffen und Fragen klären, um eine dauerhaft wirksame parlamentarische Vertretung der in Ungarn ansässigen Nationalitäten zu etablieren. Um nur einige zu nennen: Sollen wir versuchen die nationalen Förderrahmen bzw. den Anteil der Nationalitäten dabei zu erhöhen oder sollen wir uns auf die Einführung oder Stärkung spezifischer Ausschreibungsrahmen speziell für die Nationalitäten konzentrieren? Wir haben uns für Letzteres entschieden. Eine weitere Frage war es, ob es erforderlich ist neben der Regierung und den Regierungsfraktionen auch mit der Opposition umfassend zu konsultieren und nur solche Gesetzesänderungen vorzulegen, bei denen der Konsens vollständig ist? Unsere Entscheidung war: Ja, wir brauchen eine umfassende Beratung.

Und wir mussten noch eine Reihe anderer wichtiger Entscheidungen treffen, die im Leben der Nationalitäten bis dahin beispiellos waren, da wir noch nie in einer solchen Situation waren und vor solchen Möglichkeiten standen. Es ist für mich ein sehr beruhigendes Gefühl zu wissen, wenn ich auf unsere Wegesuche in den ersten Jahren und die wichtigsten Entscheidungen zurückblicke, die wir in Absprache mit dem Verband der Landesselbstverwaltungen, ONÖSZ, aber auch mit dem ungarischen Nationalitätenausschuss getroffen haben, dass ich mich rückblickend, auch mit den Erfahrungen der letzten vier Jahre im Rücken, wieder genauso entscheiden würde.

Ich kann mit Überzeugung behaupten, dass es vor der parlamentarischen Vertretung der autochthonen Nationalitäten in Ungarn keine einzige Person in Ungarn gab – mich eingeschlossen –, die ernsthaft vermutet hätte, dass wir durch die parlamentarische Arbeit der letzten acht Jahre solche historischen Ergebnisse und Fortschritte erzielen können. Ich bin allen sehr dankbar, die in irgendeiner Form dazu beigetragen haben.

Für das wichtigste Ergebnis halte ich die erfreuliche Zunahme der Nationalitäten-Bildungseinrichtungen in der Trägerschaft von Nationalitätenselbstverwaltungen und deren sicheren und planbaren Betrieb sowie den Beginn der Erneuerung der Nationalitäten-Hochschulausbildung und der Nationalitäten-Lehrerausbildung unter Einbeziehung der Bildungsstätte und bildungspolitischer Experten.

SB: Was sollte im nächsten Zyklus weitergeführt werden, welche Vorstellungen haben Sie?

ER: Die konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition und den Regierungsfraktionen sowie den parteilosen Abgeordneten muss eines unserer wichtigsten Ziele sein. Schließlich ist das eine Garantie dafür, dass bei einem politischen Wechsel – sei es bei den Parlamentswahlen am 3. April 2022 oder bei einen der darauffolgenden Parlamentswahlen – eine künftige neue Regierung die von ihr auch in der Opposition einstimmig befürworteten Nationalitäten-Programme weiterhin unterstützen wird.

Darüber hinaus haben natürlich sowohl die deutsche Nationalität in Ungarn als auch die anderen Nationalitäten konkrete Ziele.

Für uns Ungarndeutsche, aber auch für die anderen Nationalitäten in Ungarn, ist ein gut funktionierendes und langfristig angelegtes Nationalitätenpädagogen-Programm eines der wichtigsten Ziele, da eine effektive Nationalitätenschulbildung die Garantie für das Überleben unserer Nationalitäten ist. Es ist Tatsache, dass ohne gut ausgebildete Nationalitätenlehrer in ausreichender Anzahl keine hochwertige Bildung in den Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Schulen angeboten werden kann. Daher müssen wir alle verfügbaren Mittel nutzen, um sowohl die Ausbildung der Nationalitätenlehrerinnen und -lehrer als auch die Arbeit der Aktiven zu unterstützen.

Am 3. April 2022 finden wieder eine Parlamentswahlen statt. Um die begonnenen Programme fortzusetzen und zu bestätigen, müssen wir wieder einen Abgeordneten ins Parlament schicken, aber dazu brauchen wir mehr Registrationen auf der ungarndeutschen Wählerliste. Dazu möchte ich alle Wählerinnen und Wähler aufrufen!

Die Vollversammlung der LdU hat in ihrer Sitzung am 27. November 2021 die Ungarndeutsche Wahlliste 2022 und ihren Listenführer, der künftig erneut deutscher Parlamentsabgeordneter sein soll, bestätigt. Diese Aufgabe wurde mir erneut übertragen.

Basierend auf dieser Entscheidung werde ich meine begonnene Arbeit in den nächsten vier Jahren fortsetzen und die vielen Erfahrungen und Bekanntschaften nutzen, die ich in den letzten knapp acht Jahren gesammelt habe, um dem Ungarndeutschtum so viele Möglichkeiten wie möglich zu bieten.

Ich bitte um die Mithilfe aller – so bei der Registrierung wie bei den Wahlen -, danke für das Vertrauen bereits im Voraus und hoffe, dass wir gemeinsam unsere Ziele erreichen. Ungarndeutsch – steh dazu!

SB: Herr Ritter, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Richard Guth.

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