Von Prof. Dr. Zoltán Tefner
Teil 8
Die soziale Explosion war im Winter von 1722/23 in Hessen so groß, dass die Auswanderung nicht verhindern werden konnte. Man konnte die Leute nicht zurückhalten und tatsächlich verließen sie Deutschland mit oder ohne Genehmigung, mit oder ohne Familie, nach der Entlastung aus dem Militärdienst oder als Fahnenflüchtlinge, als Unschuldige oder als ehemalige Straffällige. Sie gingen gebrochen, jedoch mit neuen Hoffnungen in ihrer Seele, manche verließen ihre Heimat mit der Absicht, diese einmal noch wiederzusehen, und es gab andere, die mit ihrer Familie wegen des Erbrechts oder mit ihrem intoleranten Fürsten endgültig abgerechnet hatten. Einige zogen mit einem beachtlichen Vermögen los, andere wiederum waren bettlerarm. Letztere verursachten denn auch die meisten Probleme, da sie wenig besaßen, um die erforderlichen Geldmittel für die Auswanderungsmodalitäten aufzubringen. Die fürstliche Schatzkammer hatte zudem rechtzeitig festgestellt, dass die Verluste sehr hoch wären, wenn diese arme Schicht der Auswanderungswilligen ihre Steuerschulden nicht begliche, also die „Manumissionsgebühr“ nicht zahlte. So kam es durchaus vor, dass sich einige auf den Weg machten, ohne sich zuvor die nötigen Dokumente verschafft zu haben und das Land nur noch illegal verlassen konnten, was in meisten Fällen auch gelang, obwohl die fürstliche Verordnung eine strenge Strafe für solche Steuerflüchtlinge vorsah.
Ein solches klassisches Flucht-Beispiel war die Flucht der Ober-Ramstädter (Hessen-Darmstadt) im Herbst 1723. Nachts machten sich 38 Familien, insgesamt 83 Personen, auf den Weg und gelangten immerhin bis in die Batschka, in ein Dorf namens Langenfeld/Hosszúmező/Cîmpulung. Das Deutschtum von Langenfeld – nach den Angaben von Johann Weidlein, einer der berühmtesten Chroniker des Deutschtums in der Schwäbischen Türkei – lud später den Sohn von Johann Balthasar Reichard ein, der Priester in ihrem ehemaligen Dorf Ober-Ramstadt war, zu ihnen als Priester zu kommen. Karl Reichard verließ kurz darauf Langenfeld, zog nach Warschad/Varsád in der Tolnau, wo er Seelsorger vieler, später auch nach Kötsching weitergezogener Warschader und Gallaser/Kalaznóer Kolonistenfamilien wurde. Die Erklärung für die Illegalität ihrer Auswanderung liegt einzig in deren materiellen Verhältnissen begründet: Denn hätten sie ihre Schulden beglichen, so hätten sie in Ungarn ohne Geld ein neues Leben anfangen müssen und das stellte zur Zeit der ersten karolinischen Ansiedlungen ein zu großes Risiko dar, das niemand eingehen wollte.
Nach Fuldaer Quellen mussten diejenigen, die es sich anders überlegt hatten und zurückkehren wollten, ein Vermögen von 200 Forint vorweisen. Weidlein zieht daraus den Schluss, dass die Auswanderer mindestens über so viel Geld verfügt haben müssen, weil sie nur in diesem Fall damit rechnen konnten, in Ungarn als Kolonisten angenommen zu werden. Er zitiert einen kaiserlichen Webezettel aus dem Jahre 1736, in dem jene Kosten veranschlagt sind, mit welchem man damals zur Ausstattung eines Bauernhofes rechnen musste bzw. wieviel ein Haus, Wagen, Pflug, Egge, ein Pferdegespann, 4 Kühe, 4 Kälber, 4 Ochsen, Mastschweine und Lebensmittelvorräte bis zur nächsten Ernte kosteten, wovon allein der Preis des Hauses 30 Forint ausmachte. Wenn also der überwiegende Teil der Flüchtlinge diesen Betrag mitnehmen wollte, wählten sie den illegalen Weg. Es gab Familien, für deren Schulden die in der Heimat gebliebenen Verwandten hafteten.
Das Vermögen derjenigen, die illegal auswanderten, wurde als verlassenes Gut zur Treuhand der Verwandten überlassen, es sei denn, man konnte es rechtzeitig in Geld umsetzen. Wohlhabende Auswanderer konnten naturgemäß mit besseren Aussichten rechnen. Johann Konrad Storck aus Groß-Bieberau übergab im Jahre 1723 seinem Bruder Johann Jakob Storck seine Mühle, seinen Bauernhof und sein Haus und kam als wohlhabender Bürger im Komitat Tolnau an. Eine kurze Zeit hält er sich in Gallas auf, zieht 1730, im Gründungsjahr, nach Kötsching, wo er sich endgültig niederlässt und wo seine Nachkommen und Verwandten die weitverzweigte Familie der Storcks/Starks bildeten.
Heinrich Bücker aus der Gemeinde Semd im Kreis Umstadt – das Heimatdorf der später in Kötsching angesiedelten Familie Rapp – hatte den Wunsch auszuwandern, was ihm aber nicht gelungen ist, da er zwar ein Vermögen von 70 Gulden besaß, gleichzeitig aber auch genauso hohe Schulden hatte. Laut Aufzeichnungen des Umstädter Schultheiß‘ musste er als Hirt mit seinem Verdienst seine Frau und sechs Kinder ernähren.
Unter den illegalen Auswanderern findet man welche, die der Strafe entgehen wollten und nach Ungarn flüchteten: Der Forscher Johann Schmidt fand im Warschader Totenregister zum Beispiel einen Fall, der auf einen in der Heimat begangenen Mord hinwies. In Gallas wurde Johann Jakob Lang beerdigt, der in der alten Heimat einen Menschen getötet habe und wegen der Angst vor der Strafe nach Ungarn geflohen sei.
Nachdem die Auswanderer aber ihre Pflichten erfüllt hatten, konnten sie mit den verschiedensten Verkehrsmitteln nach Ungarn abreisen, wobei ihnen ausgehängte Bekanntmachungen bzw. Agenten zur Seite standen. Die Menschen beeilten sich, zu den auf den Plakaten genannten Sammelpunkten zu gelangen, um dann an Bord eines Donauschiffes weiterzufahren. Die Schifffahrt war damals das einzige relativ bequeme und schnelle Beförderungsmittel von Deutschland nach Ungarn. Einer der letzten Transporte des Agenten Falck im Jahre 1723 dürfte laut einer Ausschreibung am 20. Oktober von Marxheim aus abgefahren sein. Schon bei früheren karolinischen Aussiedlungen dienten die Orte um die Mündung der Lech als Verladehafen, insbesonders die Städte Neuburg, Donauwörth und Marxheim, laut den Angaben von Anton Tafferner auch Ehingen und Günzburg. Später, zur Zeit der theresianischen Aussiedlungen, wurde die freie Reichststadt Ulm ein wichtiger Anlegeplatz für Schiffe in Richtung Osten.
Bei den Schiffen handelte es sich um leichte Donaufrachtschiffe mit einem überdachten Last- und Passagierraum und drei Rudern, mit denen man das Schiff gleichzeitig lenken konnte. Man nannte sie „Wiener Zille“ oder auch „Wiener Schachtel“, an deren Bord 30-40 Menschen Platz fanden. Der Frachtpreis bis Wien kostete durchschnittlich 1 Gulden. Bis 1766 waren bei den Frachtpreisen einige Abwechselungen zu beobachten. Ab 1764 erhielten die Ausanderer vom Staat ein Fahrgeld, womit die Fahrkosten bis zum Bestimmungshafen gedeckt werden konnten. Die Passagiere waren während der Reise von nicht selten drei Wochen zusammengesperrt, sie mussten während der Reise die störenden Gewohnheiten voneinander friedlich erdulden, was nicht immer gelungen ist. Häufig gab es Stimmungsumschwung unter den Mitfahrern, nicht selten sind welche von ihnen verstorben, die Leichen sollten auch „mitfahren“ oder das Schiff wurde angelegt und die Verstorbene irgendwo am Ufer beerdigt. Seelenkraft und Ertragsfähigkeit halfen aber dabei, dass die Kompanien zuerst Ofen und dann die mittlere Donau, Bonnhard, Tolna, Paks usw., also die neue Heimat erreichen konnten. (Fortsetzung folgt)