„Das Mandat ist Ausdruck einer Instrumentalisierung der Gemeinschaft“

Initiator der Petition gegen Emmerich Ritters Nominierung, Johann Weiss, im SB-Gespräch

Emmerich (Imre) Ritter gehört dem ungarischen Parlament seit 2014 als Anwalt der Nationalitäten und seit 2018 als Abgeordneter der Nationalitäten mit vollem Mandat an. Er war bis 2018 Mitglied der FIDESZ, damals hat er seine Parteimitgliedschaft nach einem Skandal formell aufgegeben. Doch Mitte 2021 schrieb die Wochenzeitung MAGYAR NARANCS über ihn: „In den letzten drei Jahren hat Emmerich Ritters Stimme der Regierung mehrmals geholfen, als die FIDESZ keine Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung gehabt hat.“ Ritters Engagement für die Minderheiten und die Ungarndeutschen ist gut nachvollziehbar, kann aber selbst bei gutem Willen nur als „bescheiden“ bewertet werden. Dennoch hat ihn die Selbstverwaltung der Ungarndeutschen kürzlich wieder an die Spitze der Liste gesetzt. Wir protestieren dagegen, dass ein ehemaliges Mitglied der FIDESZ-Partei und ein „Politiker“, der keineswegs als neutral bezeichnet werden kann, die Deutschen in Ungarn und dadurch die Minderheiten im ungarischen Parlament vertreten soll. Und wir protestieren dagegen, dass FIDESZ durch ihn wieder einmal ein Gratismandat erhält. (24. Februar 2022)“. So lautet der Begleittext einer Petition, die bis Mitte März knapp 70 Personen unterschrieben haben. Sie protestieren wegen der vermeintlichen Nähe Ritters zur Regierungspartei Fidesz gegen dessen erneute Nominierung als Listenführer der Deutschen Liste. Das Sonntagsblatt hat mit dem Initiator der Petition, dem Philosophen Johann Weiss, gesprochen.

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SB: Erzählen Sie bitte über Ihre Motivation, was hat Sie dazu bewegt diese Petition zu starten?

JW: Die tiefste Motivation war und ist eine große Unzufriedenheit mit der Lage der Deutschen in Ungarn. Die Lage hat sich nach der Wende weiter verschlechtert.

Ich muss vorausschicken, dass ich größtenteils noch immer in meinem Heimatdorf zwischen Fünfkirchen und Mohatsch wohne. Bis 1945 war die Bevölkerung hundertprozentig deutsch. Dann kamen die Enteignung, die Vertreibung und die Aussiedlung. Es kamen die ersten Ungarn in das Dorf, 1963 ist eine Straße gebaut worden, die totale Isolation ging zu Ende und die Assimilation begann. Die ersten Mischehen sind Ende der sechziger Jahre geschlossen worden. Die Schulsprache war ungarisch, die Kinder gingen nach Hause und wollten mit den Eltern und Großeltern ungarisch sprechen. Und die haben nachgeben müssen. So begann eine Zeit des Sprachverlustes. Und jetzt ein Sprung zu heute: Heute ist die ganze Kultur verloren. Wenn die Kinder Deutsch lernen, dann schon längst als Fremdsprache. Jugendliche erzählen: Ich habe auch mal eine deutsche Oma gehabt. Ein totaler Kultur- und Identitätsverlust hat sich abgespielt.

Nach 1990 gab es zwei Gegentendenzen. Erstens sind die Grenzen geöffnet worden, man konnte frei reisen. Aber die vertriebenen Verwandten sind langsam ausgestorben, deren Kinder haben keine emotionale Bindung mehr zu Ungarn. Insgesamt haben die Reisemöglichkeiten nicht viel gebracht, aber doch einige Arbeitsmöglichkeiten. Vor allem viele Frauen sind als Pflegekräfte nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz arbeiten gegangen. Selbst das hat aber keine nennenswerte Auswirkung. Die Frauen kamen zurück und haben sofort wieder ungarisch geredet. Einige Leute aus Deutschland haben im Dorf Häuser gekauft, manche von ihnen kommen im Sommer, andere wohnen fest hier. Sie fühlen sich aber schon in einem ungarischen Umfeld.

Die kleineren Dörfer haben ihre Schulen schon längst verloren, die Kirchen sind erst leer geworden, deutschsprachige Gottesdienste gab es sowieso nicht mehr, und jetzt stehen sie unmittelbar vor dem Einsturz.

Die zeitgenössische ungarische Politik erkennt nur die Auslandsungarn als Minderheiten an; im Großen und Ganzen gibt es keine Minderheitenpolitik bzw. die inländischen Minderheiten werden instrumentalisiert. So wie jetzt auch mit diesem Mandat.

SB: War die Petition zu starten Ihre ganz persönliche Entscheidung oder gab es „Motivatoren” in Ihrem Umfeld?

JW: Mehrere Leute haben ihr Unbehagen geäußert, es waren sowohl Ungarn als auch Deutsche dabei. Die ungarischen Leute haben beklagt, dass FIDESZ so ein Gratismandat bekommt. Die Minderheiten würden durch dieses Wahlsystem verführt. Die Deutschen haben sich meistens so geäußert, dass die LdU zu einem kleinen Walbetrug assistiere. Aber noch mehr: Der parteipolitisch gebundene Kandidat vertrete, vertritt nicht die Heterogenität der Deutschen.

SB: Wie kam die Petition bislang an, wer hat sich angeschlossen, gab es sonstige persönliche Rückmeldungen?

JW: In zwei Wochen haben fast 70 Leute die Petition unterzeichnet. Ich bin damit höchst zufrieden. Das ist mein Umkreis: Es sind viele hochgebildete Leute aus dem Uni- und Akademie-Bereich, aber auch jüngere Leute dabei. Auch viele, die mit dem Deutschtum etwas zu tun haben. Es gab bestätigende Rückmeldungen. Einige haben geschrieben, dass sie unterzeichnen, weil sie einverstanden seien. Andere haben angemerkt, dass es schade sei, dass so ein Mann die Minderheit vertrete, in der auch viele rechtschaffene Leute zu finden seien. Wieder eine andere Person hat sich so geäußert, dass sie sich wegen dem Herrn Kandidaten ihrer eigenen Abstammung schäme.

Es gab aber auch Kritiken, die ich hier nicht verschweigen will. Einer der Kritiker sagte, es sei jetzt schon zu spät, die Liste ist von der LdU genehmigt worden. Was man höchstens noch machen könne, ist, die Leute zu überzeugen, dass sie ihre Registration zurückziehen sollen. Einige hätten das auch schon getan. Mein Ziel aber war etwas Symbolisches zu machen. Ein anderer war der Ansicht, dass man diese Frage intern hätte behandeln, eine Petition nur für Ungarndeutsche starten müssen. Ich entgegenete, dass es meiner Überzeugung nach nicht nur ein Minderheitenproblem, sondern auch eine politische Frage ist. Eine dritte Person wies auf Aktuelles hin: Es gäbe zurzeit so viel Elend und Krieg in der Welt; es gäbe also viel Schlimmeres, als solche Instrumentalisierungen und kleine Wahlfälschungen. Meine Reaktion darauf: Zugegeben, das ist jetzt aber unser Problem. Eine weitere Person war der ansicht, dass die Führung der Ungarndeutschen uns schon so oft enttäuscht habe, dass wir uns nicht mehr überraschen könnten. Das dürfte aber nicht endlos weitergehen, entgegnete ich.

SB: Sie scheinen ein überzeugter Ritter-Kritiker zu sein. Gab es dennoch etwas, was Sie bezüglich seiner bisherigen Tätigkeit positiv bewerten würden?

JW: Ich habe gehört, dass man an den Hochschulen Stipendienprogramme für Deutschlehrer gestartet hat. An sich ist das eine sehr gute Idee. Es hat aber zu Spannungen und Ungleichheiten geführt. Oft sind wohl so Schüler zurückgestellt worden, die selbst zur deutschen Minderheit gehörten.

SB: Was sagt Ritters erneute Nominierung Ihrer Meinung nach über die deutsche Gemeinschaft aus? Unter dem Motto „Kritisieren ist einfach“: Was würden Sie anders machen?

JW: Die deutsche Gemeinschaft ist in einem miserablen Zustand. Wie die Mehrheitsgesellschaft, ist sie auch unfähig, das beste Führungspersonal zu wählen. Die „da oben” sind meistens Machtzyniker, die, die „unten stehen”, sind tief enttäuscht und fühlen sich immer wieder betrogen. So geht es schon seit Jahrzehnten.

Kritisieren“ ist gar nicht so leicht; man müsste dringend zur Basis zurückgehen. Sich mal umschauen, Bestandsaufnahme machen. Und großartige Programme starten. Kämpfen um die politische Anerkennung unserer Gruppe… Es mag aber sein, dass da schon alles zu spät ist.

SB: Herr Weiss, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Richard Guth.

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