Von Prof. em. Dr. Josef Bayer
„Wenn die Menschheit dieses Jahrhundert überlebt, gönnt ihm eine lange und glänzende Zukunft“, so prophezeite ein berühmter Astronom über die Zukunft unsrer Gattung. Unter dem Schock der Einsetzung der Atombombe 1945 stellten Wissenschaftler – in Protest gegen nukleare Waffen – eine atomare Uhr auf, deren Zeiger jedes Jahr nachgestellt wird, um nachzuzeichnen, wie weit wir vor der Selbstvernichtung stünden. Die neueste Einstellung besagt genau 120 Sekunden vor Mitternacht (siehe die Webseite: http://www.bulletin.org). Es ist zwar bloß eine symbolische Warnung vor einer drohenden Selbstvernichtung, dieser Akt drückt Optimismus aus, denn darin steckt die Hoffnung, ein „Armageddon“ trotzdem durch entschlossene Handlung verhindern zu können. Heutzutage häufen sich jedoch weitere ernstzunehmenden existenziellen Gefahren. Dabei sind nicht die Naturkatastrophen die bedrohlichsten, sondern die von Menschen selbst verursachten Unglücksfälle, die nicht nur lokale Gemeinschaften gefährden, sondern die menschliche Existenz als solche.
Die üblichen vier „Reiter der Apokalypse“ hießen einst Seuche, Krieg, Hungersnot und Tod. Der Tod ist unvermeidbar und steckt in den drei anderen drin. Der kollektive Tod der Menschengattung wurde aber lange Zeit nur in religiösen Fantasien, wie Johannes‘ Vision vom „letzten Urteil“, beschwört. Seit der Möglichkeit eines Atomkrieges und dem Amoklauf einer galoppierenden ökologischen Krise ist es leider dringender geworden. Dank neuer mikrobiologischer Entdeckungen phantasieren zwar einige reiche Leute vom „ewigen Leben“, die Zweckmäßigkeit einer solchen Ewigkeit ist jedoch sehr fraglich. Viele warnen davor, es wäre die größte vorstellbare Katastrophe für die Menschen. Der Tod ist vielleicht die Selbstverteidigung der Natur gegen die Überbevölkerung, eine nötiger Selektionsmittel der biologischen Evolution.
Für die Beschwichtigung von Ängsten führe ich ein ermutigendes Zitat vor: „Müssen wir uns vor den nächsten zehn Jahren fürchten? Nein. Auch wenn einiges schiefläuft: Das Gute besteht zumeist darin, dass nichts passiert.” Das war die Antwort Steven Pinkers, des renommierten Psychologen und Aufklärers, auf die Frage, was in den 2020er Jahren zu erwarten ist (Neue Zürcher Zeitung, 15.01.2020). Ziemlich gewagt, und der letzte Satz klingt auch zu konservativ, als gönne man der Menschheit keine erfreulichere Veränderung mehr; genug sei, dass nichts Schlimmes passiere. Aber dass er nichts Schlimmeres erwartet, wirkt beruhigend.
Wir stehen allerdings noch am Anfang des Jahrzehntes. Auf ersten Blick scheinen die turbulenten Ereignisse der ersten zwei Jahre den vorsichtigen Optimismus von Herrn Pinker eher zu unterstützen. Nehmen wir den Ausbruch der Covid-Plage. Die war schlimm genug – bislang hat sie mehr als 400 Millionen Menschen erwischt. Wissenschaftler – Biologen, Biochemiker und Mediziner – konnten jedoch die Ursache und die Natur der Epidemie sehr schnell aufdecken und haben die Regierungen dazu gedrängt, sofort Strategien zur Eindämmung der Pandemie einzuleiten. Leider konnten sie nicht alle Politiker davon überzeugen. Wegen Verleugnung und Verzögerung – vor allem Präsident Trumps unsinnige Verweigerung – sind allein in den Vereinigten Staaten fast 1 Million Menschen an der Seuche gestorben. Ich erinnere auch an die anfängliche Panik hierzulande, die anfangs uns alle ergriff. Dann aber konnten sich – wenigstens in den entwickelten Ländern – viele Menschen bald rasch erfundener Schutzimpfungen bedienen. Für die „Dritte Welt“ wurden von der WHO ebenfalls gemeinsame Programme entwickelt, deren Verwirklichung hakt aber am Widerstand der Firmen von „Big Pharma“, die ihre Lizenzrechte, die ihnen milliardenschwere Gewinne einbringen, nicht aufgeben wollen. Es werden zum Glück in immer mehr Entwicklungsländern selbst Anti-Covid-Impfungen produziert, deren Lizenzen schon aus Indien, China, Russland oder neulich sogar aus Kuba stammen.
Bislang sind etwa 62 % der Weltbevölkerung wenigstens einmal geimpft worden, wenngleich sehr ungleich verteilt zwischen den Weltteilen. Und nun macht sich in Europa und Nord-Amerika schon eine Art Covid-Müdigkeit breit. Öffentliche Proteste flammten auf gegen als überzogen empfundene, „unnütze“ Kontrollmaßnahmen. Dahinter steht aber schon die abflachende Phase der Epidemie; die neue Omikron-Variante des sich reproduzierenden Corona-Virus scheint nicht mehr so tödlich zu sein wie die früheren Varianten.
Von der anderen Plage, vom Krieg zu sprechen, ist in modernen Gesellschaften ebenfalls sehr zurückgegangen. Der Verfasser von historischen Bestsellern Yuval Noah Harrari behauptete sogar, die Zeiten für große, vernichtende Kriege seien vorbei. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind die Kriege meist von begrenzter und lokaler Natur gewesen, auch ihre Anzahl ist niedriger geworden. Die meisten bewaffneten Auseinandersetzungen finden heute innerhalb schwacher Staaten bzw. zwischen regionalen Mächten statt. Bislang ist es auch teilweise gelungen, die Einsetzung, das Testen und die Verbreitung nuklearer Waffen zu stoppen. Die gegenseitige Abschreckung hat bislang gewirkt und den Frieden gesichert, aber diese tödlichen Waffen der Massenvernichtung sind nicht abgeschafft worden. Die erste breite Welle der Verminderung ihrer Zahl am Ende des Kalten Krieges fand leider keine Fortsetzung. Die biologischen und chemischen Kriegsmitteln stehen zwar größtenteils unter Kontrolle, aber nicht die nuklearen Sprengköpfe. Im Gegenteil, ihr Arsenal wird noch ergänzt und technisch verfeinert, und raffinierte Technologien sorgen für ihre schnelle Einsatzbarkeit und für die Zielgenauigkeit der Atomraketen bzw. ihrer Abwehr. Viele Menschen begreifen nicht so ganz, welch großes Risiko ein nuklearer Krieg in sich birgt. Es ist wissenschaftlich belegt, dass seine Folgewirkung, der „atomare Winter“, der menschlichen Zivilisation endgültig Schluss macht.
Man dachte auch, in Europa kehrt der Krieg nie mehr zurück, auch schon wegen der gelungenen europäischen Integration nicht. Und auf einmal tauchten nicht nur die Gespenster eines lokalen begrenzten Krieges, wie noch unlängst in Ex-Jugoslawien, sondern sogar eines großen Krieges wieder auf. Es genügt, zuzusehen, wie sich Konflikte um die Ukraine zwischen der NATO und Russland zuspitzen. Bedenken wir, wie die Großmächte in den Ersten Weltkrieg wie Lunatiker marschierten; das könnte erneut passieren. Und danach fragt man vergebens, wer verantwortlich für den Beginn eines katastrophalen Krieges gewesen war. Militärische Abschreckung und Drohung mit wirtschaftlichen Sanktionen können allein den Frieden nicht garantieren, ohne entschlossene Friedens-Diplomatie zur Entschärfung der Konflikte, welche die Sicherheitsbedürfnisse jeder Teilnehmer berücksichtigt.
Der Wirbelstrudel des annähernden Klimawandels und die sich vertiefende ökologische Krise ist das nächste große Problem, und diese sind nicht weniger bedrohlich. Es ist zwar erfreulich, dass sich unlängst die Staaten in London wiederholt für eine Wende hin zu einer „grünen Energiepolitik“ und Ökopolitik entschlossen haben, aber das Tempo der Veränderungen ist allzu langsam. Zu Recht beklagen die protestierenden Jugendlichen im Namen der neuen Generation ein „Öko-Blabla“. Die Zerstörung der ökologischen Grundlagen der menschlichen Existenz ist eine sehr unkluge Politik, deren Preis wir alle zahlen werden. Die Lasten sind sehr ungleich verteilt, denn die reichen Industrieländer tragen viel mehr Verantwortung für die Luftverschmutzung, Verseuchung der Ozeane und Reduktion der Biodiversität als die ärmeren Entwicklungsländer, welchen das Gros der Belastung zufällt. Und wenn das zu einer breiten Fluchtbewegung, einer richtigen Völkerwanderung hinführt, dann wehren sich die wohlhabenden Staaten dagegen mit allen Mitteln vergebens. Zum Glück laufen solche, aus ökologischen Gründen verursachte Abwanderungsbewegungen in Afrika und Asien einstweilen mehrheitlich zwischen den dortigen Regionen ab.
Von der Hungersnot ist heute zum Glück weniger Rede als früher. Seit Thomas Malthus erste Mahnung meinten zwar viele, dass Hungersnot unvermeidlich wird, sollte sich die Menschheit weiter vermehren. Neuere Analysen unterstützen diese Annahme nicht mehr, und nicht nur wegen besseren landwirtschaftlichen Technologien und Erträgen. Entgegen früheren Prognosen, die noch in den Dokumenten der Vereinigten Staaten gezeichnet sind, rechnen die neueren Studien mit einem Abebben des zügellosen Bevölkerungswachstums. Die Zahl der Menschheit bis etwa 2060 soll demnach weiter auf 9,5 Milliarden anwachsen, aber dann beginnt sie zu stagnieren. In einigen Ländern müssen wir sogar mit starkem Rückfall rechnen, so in China, Indien, und auch in Europa und Nord-Amerika (siehe im Buch von Bricker-Ibbitson: Empty Planet. The Shock of Global Population Decline, 2019). Auch für Ungarn rechnen Demographen mit einer sinkenden Bevölkerung, teils durch Abwanderung, teils wegen allzu niedrigen Geburtenraten. (Nach Einschätzung einer Studie des Statistischen Landesamtes KSH können wir im schlimmsten Fall sogar mit 7 Millionen Einwohner rechnen, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Das liegt nicht so fern von der demographischen Lage Bulgariens, wo von 9 Millionen Einwohnern kaum mehr als 6 Millionen geblieben sind.)
Hauptsache ist, dass sich nach neueren Prognosen bald sogar in Afrika ein demographisches Gleichgewicht einstellen wird, dank der sinkenden Geburtenraten infolge von Urbanisierung, besserer Bildung, höheren Ansprüchen und Gleichberechtigung der Frauen. Eine paradoxe Wirkung ist, dass, sobald die Kindersterblichkeit dauerhaft sinkt, sie bald vom Rückfall der Geburtenraten gefolgt wird, nur mit einer gewissen Verspätung.
Wie aus all dem zu sehen ist, gibt es neben vielen erschreckenden Tendenzen auch erfreuliche Entwicklungen. Es herrscht keine eindeutige Determination vor in nur eine Richtung. Letzten Endes kommt es an uns Menschen an, welche Richtung wir einschlagen. Dies steht in schönem Einklang mit dem antiken Dramatiker Sophokles, der in seinem Theaterstück „Antigoné“ eine Lobrede über den findigen Menschen hält, der alle Künste und technische Tricks kennt, um sich über Wasser zu halten. Dem Tod kann er zwar nicht entrinnen, aber schwer heilbare Krankheiten hat er im Griff. Aber er mahnt uns, dass die Kunst der Erfindung teils für das Gute, teils für das Schlechte eingesetzt wird. Es liegt an uns, welche Richtung wir einschlagen, um unsere Zukunft zu sichern.