Die Schwäbische Türkei unter der Lupe: Die vergessene Eisenbahnstrecke zwischen Fünfkirchen und Badeseck

Von Armin Stein

Die Schwäbische Türkei ist für vieles Bekannt: idyllische Dörfer, die sanften Hügel des Metscheck-Gebirges und das pulsierende Fünfkirchen, die Kulturhauptstadt Europas 2010. Das Leben in der Region hat jedoch auch seine Schattenseiten, die zunehmende Überalterung der Gesellschaft und das Fehlen von genügend guten Arbeitsplätzen haben zu der Abwanderung eines großen Teils, der zum Teil deutschsprachigen, Bevölkerung aus den Dörfern der Ost-Branau und der Süd-Tolnau geführt. Ein die strukturellen und infrastrukturellen Probleme gut beschreibendes Beispiel ist das Schicksal der Eisenbahnstrecke zwischen Fünfkirchen und Badeseck.

Innerhalb der ungarndeutschen Gemeinschaft verbinden wir die Eisenbahn meist mit negativen Gedanken, mit der Verschleppung zum “Malenkij Robot” oder mit der Vertreibung. Fast jedem in unserer Gemeinschaft, selbst den Enkeln der Erlebnisgeneration, haben sich die Bilder von ländlichen Bahnhöfen und Haltestellen, voller trauriger, weinender Menschen mit kleinen Kindern und Bündeln in den Händen neben noch leeren Viehwaggons, ins Gedächtnis eingebrannt. Wir sehen in Video-Dokumentationen, auf Mahnmälern und hören in den Erzählungen die schrecklichen Geschichten, von Wochen in voll-beladenen Viehwaggons, die Richtung deutsche Besatzungszonen oder Donbass fuhren.

Die seit dem Krieg vergangenen Jahre haben unsere Lebensweise grundlegend verändert, aus den mehrheitlich bäuerlich geprägten Dörfern begannen ihre Einwohner, in immer größerer Zahl, in die umliegenden Großstädte zu pendeln, um den Lebensstandard ihrer Familien zu verbessern. Während viele Familien endgültig in die regionalen Zentren oder später ins deutschsprachige Ausland zogen, so haben sich anfangs viele dazu entschieden zu pendeln. Diese Menschenmengen, besonders die Jüngeren und weniger Wohlhabenden konnten sich nur auf die öffentlichen Verkehrsmittel verlassen. In der Schwäbischen Türkei, die über viele, kleine Siedlungen verfügt, ist deshalb ein gutes Netzwerk an öffentlichen Verkehrsmitteln essentiell für die dort Lebenden.  Leider haben die Komplexitäten und Schwierigkeiten des hiesigen Lebens, genau wie die Abhängigkeit vieler Ortschaften von dem Netzwerk der öffentlichen Verkehrsmittel, in Budapest und Fünfkirchen die Eisenbahndirektionen nicht wirklich interessiert, wenn die Budgets bestimmt, die Prioritäten festgelegt und Einsparungen vorgenommen wurden.

Die Webseite der Eisenbahnlinie beschreibt die Umstände des Streckenbaus wie folgt: “Die Fünfkirchen-Badeseck-Linie (ursprünglich Linie 292) wurde am 30. 06. 1911 eröffnet. Ihr Bau war im Vergleich zu anderen Lokalbahnen in der Region sehr teuer, was auf das schwierige Gelände des östlichen Metschek und die hohen Aneignungsgebühren in den dicht besiedelten Gebieten von Fünfkirchen zurückzuführen war. Trotz der kostspieligen Bauarbeiten wurden auf der Strecke keine größeren Bauwerke errichtet: Die Bahn umging die Täler im Allgemeinen mit kleinen Serpentinen und folgte dabei in etwa den Höhenlinien.” ( https://mecsekvasut.eoldal.hu/)

Die Strecke verlief durch zahlreiche Ortschaften, welche aus dem ungarndeutschen Mikrokosmos gut bekannt sind, unter anderem: Fünfkirchen, Hetting, Petschwar, Nadjpohl, Ratzmetschke, Feked, Wemend, Boschok und Badeseck.

In den Jahren nach der Wende begaben sich auch die ungarischen Staatsbahnen, ähnlich zu vielen anderen Bereichen des ungarischen Staates, auf einen drastischen Sparkurs. Die Priorisierung von kurzfristigen Überbrückungslösungen anstelle von Investitionen in die Substanz und die Infrastruktur, hatte auch, wie für zahlreiche Nebenstrecken des ländlichen Ungarns, für die Fünfkirchen-Badeseck- Eisenbahnstrecke schwerwiegende Folgen.

Die Webseite der Linie fasst den Anfang vom Ende der Strecke wie folgt zusammen: “Obwohl die Strecke seit den 1960er Jahren kontinuierlich ausgebaut wurde (die Gleise mit I-Profil wurden schrittweise durch C-Profile ersetzt), war ihr Zustand Mitte der 1990er Jahre kritisch geworden: Auf dem größten Teil des Abschnitts zwischen Petschwar und Wemend war die Geschwindigkeit auf 20 km/h begrenzt. Die Fünfkirchner Eisenbahndirektion beschloss daher – unverantwortlich -, die Züge zwischen Petschwar und Boschok nach dem 31. Mai 1997 „vorübergehend” durch Busse zu ersetzen. Am letzten Tag fuhren noch MD-Triebzüge, die rappelvoll mit Fahrgästen waren.” (https://mecsekvasut.eoldal.hu/)

Um das schwindende Interesse an der Strecke von Seiten der Betreiber zu verstehen, lohnt es sich die Gründe für ihre Errichtung zu untersuchen. Die Eisenbahnlinie hatte als Hauptaufgabe den Transport von Gütern aus der Region in die Umschlagbahnhöfe Fünfkirchen und Badeseck, von wo es das ganze Land zu erreichen war. Die wichtigsten Transportgüter waren die im Metscheck abgebaute Kohle und der Granit aus dem Steinbruch von Ratzmetschke. Ergänzt wurden diese Transportgüter durch Holz aus der lokalen Forstwirtschaft und die vor Ort angebauten landwirtschaftlichen Produkte. Der Personenverkehr kam erst später zum Profil der Strecke hinzu.

Die Wende führte zu dem Abbruch zahlreicher, wirtschaftlich nicht profitabler Tätigkeiten. Diese Betriebsschließungen haben die Region hart getroffen, der Kohle- und Granitabbau wurde fast vollständig eingestellt. Somit ist die Menge an zu transportierenden Gütern zusammengebrochen, während die Zahl der Berufspendler anstieg. In dieser Periode der sinkenden wirtschaftlichen und steigenden sozialen Relevanz der Strecke erreichten auch die strukturellen Probleme der Ungarischen Staatsbahnen die Gemeinschaft der Reisenden.

“Der Busersatzverkehr betraf die Mitte der Strecke, wo bis etwa 2001-2002 Personenzüge von Badeseck nach Boschok und Güterzüge noch weiter bis zum Bahnhof Wemend fuhren. Trotz des Versprechens, den Zustand der Strecke zu erhalten, führte die bewaldete Lage dazu, dass der stillgelegte Abschnitt innerhalb weniger Jahre fast vollständig von der Natur zurückerobert wurde. Der Verkehr auf der östlichen Hälfte der Strecke wurde im Februar 2003 wegen einer Untersuchung einer Reihe von Achsbrüchen an Bzmot-Dieseltriebwagen eingestellt. Die vorübergehende Unterbrechung bedeutete das Ende des östlichen Streckenabschnitts, da dies der einzige Abschnitt im Land war, auf dem der Bahnverkehr nicht wiederhergestellt wurde, und die Route der Ersatzbusse wurde von Boschok nach Badeseck verlängert. Interessant ist, dass der Bus, der die Züge ersetzte, aufgrund der schlechten Straßenführung, des schlechten Zustands der Straßen und der verstreuten Lage der Dörfer keine besseren Fahrzeiten als der Zug erreichen konnte.” (https://mecsekvasut.eoldal.hu/)

Eine Verbindung von zwei Orten mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist meistens eine gute Sache, es ist jedoch wichtig zu vermerken, dass das Errichten eines Gleisbettes und das Verlegen der Gleise noch keine Masse an Reisenden bewegen wird. Um die nötige Zahl an Reisenden zu erreichen müssen noch andere Parameter stimmen. Ohne genügend Abfahrten und Ankünfte an einer gegebenen Haltestelle und einen sinnvoll getakteten und durch Miteinbeziehen der Wünsche der Reisenden geschaffenen Fahrplan werden die meisten doch lieber das Auto wählen. Ein Zug muss die Reisenden nicht nur hin-, sondern auch zurückbringen, ohne dem Hauptklientel unnötige Wartestunden zu bereiten. Der Fahrplan muss auch den verschiedenen Ansprüchen der Fahrgäste gerecht werden, das heißt, die berufstätigen Pendler und Pendler, die noch die Schule besuchen, sowie die Rentner und die Touristen müssen alle berücksichtigt werden. Wichtig sind auch Anschlussmöglichkeiten an andere Züge und Verkehrsmittel. Falls eine Eisenbahnlinie auch dann eine hohe Auslastung aufweist, wenn diese den zuvor erwähnten Kriterien nicht entspricht, ist es eindeutig, dass die Reisenden diese Dienstleistung als alternativlos ansehen. Leider galt dies auch für die Eisenbahnlinie Fünfkirchen-Badeseck.

“In den Jahren 2004-2005 waren Bzmot+Bzx-Dieseltriebwagen und MDmot-Triebwagen noch häufig auf der Strecke zu sehen; später beförderte nur noch ein Solo-Bzmot die geringe Anzahl von Personenzügen. Infolge der Streckenstilllegungen im Jahr 2007 wurden die Ersatzbusse ab Juni 2007 durch Busse von Pannon Volán ersetzt, so dass die Strecke offiziell bis Petschwar verkürzt wurde.

Die Strecke Fünfkirchen-Petschwar überlebte die Krise bis zum 12.12.2009, als die letzten 23 km des schönen Vicinal geschlossen wurden. 58 Minuten brauchten die Züge nach dem letzten Fahrplan für diese kurze Strecke. Dies und natürlich die Sogwirkung der Hauptverkehrsstraße 6 führten zu einem Rückgang des Personenverkehrs. Im Sommer liefen allerdings MDmot-Triebwagen statt Bzmot-Dieseltriebwagen. Als letzter ratterte der MDmot-3002 mit seinem Zug d Strecke entlang. Ab dem 13.12.2009 wurde der Personenverkehr dann „eingestellt”. Die Strecke wurde am 30. Mai 2012 von allen Licht- und Halbschranken befreit und zum „Industriegleis” herabgestuft, wobei gelegentlicher Güterverkehr (Fünfkirchen-Felső, Petschwar) vorkommt.” (https://mecsekvasut.eoldal.hu/)

Über das Schicksal der seit über 10 Jahren unbenutzten Strecke wurde immer noch nicht entschieden. Im letzten Jahrzehnt kam öfter die Idee auf, die Strecke in einen Fahrradweg umzubauen, die Schwelle eines Wahlversprechens hat der Plan bisher noch nicht überschritten. Aufgrund der durch die Vegetation verursachten Schäden an der Infrastruktur der Strecke und des Gleisdiebstahls wären die Kosten einer erneuten Inbetriebnahme der Strecke sehr hoch. Da das Land in den mehr als 30 vergangenen Jahren seit der Wende immer noch nicht über ein geschlossenes Konzept bezüglich des öffentlichen Verkehrs im Land verfügt und die politischen Führungen, unabhängig vom Parteibuch, die ländlichen Nebenstrecken, trotz ihrer Bedeutung für die Regionen, die sie bedienen, nur als Kostensenkungsmöglichkeit ansehen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich der politische Wille mobilisieren lässt, der die Herausforderungen und Kosten einer Wiedereröffnung der Strecke bewältigen kann.

Der beinahe vergessenen Bahnlinie zeugt nur ein Denkmal, am ehemaligen Bahnhof des einstigen Eisenbahner-Ortes Boschok, wo 2020 der Verein “Vasúti Múzeum Palotabozsok Hagyományőrző Egyesület” unter Károly Ludvig das leere Bahnhofsgebäude in ein Museum verwandelt hat. Im Museum soll die Erinnerung an eine vergangene Zeit bewahrt werden, in der die Eisenbahn der Ortschaft Arbeitsplätze und eine Anbindung zu den regionalen Großstädten gesichert hat. Prunkstück der Ausstellung ist ein ABbmot-Dieseltriebwagen, der vom Bahnhof Fünfkirchen “gerettet”, restauriert und zur Ausstellungsmaschine umgebaut wurde.

Die globalen Trends der letzten Jahrzehnte zeigen immer stärker auf, wie wichtig gute, verlässliche öffentliche Verkehrsmittel für eine Region sind. Leider steigt das Interesse an Infrastruktur nur dann spürbar, wenn der Betrieb dieser, aus welchem Grund auch immer, eingestellt wird. Die Regionen der Schwäbischen Türkei kämpfen leider immer noch mit strukturellen Schwächen, was ihre Infrastruktur betrifft, während die Kosten eines eigenen Fahrzeuges stark angestiegen sind. Sofern das Schicksal dieser Regionen ein anderes als die Entvölkerung sein soll, ist es von äußerster Dringlichkeit den Einwohnern der verschiedenen, kleinen Siedlungen angemessene öffentliche Verkehrsmöglichkeiten anzubieten.

Bildquelle: https://hu.wikipedia.org/wiki/P%C3%A9cs%E2%80%93B%C3%A1tasz%C3%A9k-vas%C3%BAtvonal#/media/F%C3%A1jl:Bataszek-pecsvasut.jpg

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