In der Wendezeit geboren

Chorvorsitzende Elisabeth Pillmann-Hartdegen aus Gestitz über 30 Jahre Kulturverein, Traditionspflege und die Herausforderungen der Gegenwart

Von Richard Guth

„Es war vor 30 Jahren. Mein Mann, Alexander Hartdegen, war Bürgermeister, besser gesagt  fing er als tanácselnök, Ratsvorsitzender, an und hatte die Idee, wie es wäre, wenn man in der letzten Minute noch einige der alten Lieder zusammenträgt. Wir haben uns Zeit genommen und zusammen mit den Älteren und dem Harmonikaspieler Josef Mózer, der die Volkslieder auswendig konnte, diese niedergeschrieben. Davon lebt heute noch die Sängergruppe”, erzählt Elisabeth Pillmann-Hartdegen aus Gestitz/Várgesztes über die Geburtsstunde des örtlichen Deutschen Kulturvereins mit Schwerpunkt Gesang.

Diese Gesangstradition wird auch heute noch weitergeführt: „Es gibt immer noch fünf-sechs Mitglieder in der Sängergruppe und im Verein, deren Eltern – oder sie selbst – damals vor 30 Jahren den Chor gegründet haben. Es waren 14 Personen, wozu noch genauso viele Jüngere hinzugekommen sind. Heute sind es 26 Mitglieder, von denen 15 in der Sängergruppe mitsingen. Wir damals Junge gehören noch zu der Generation, die mit den Traditionen großgeworden ist – so zum Beispiel rund um den Kiridog, das Kirchweihfest.”

Zu den Traditionen gehörte für die 65-jährige Pillmann-Hartdegen auch das Zusammenleben in der Großfamilie. Sie erzählt im deutschsprachigen Telefongespräch, dass sie mit den Großeltern zusammengelebt habe und in der Familie Schwäbisch – besser gesagt die örtliche donaubairische Mundart – gesprochen worden sei. Auch schon damals war das eine Rarität im Ort, denn die „Geschwisterkinder” – also die Cousinen und Cousins – hätten mit ihren Eltern und Großeltern bereits Ungarisch gesprochen, eigentlich war es „in fast jedem Haus” so – vor allem dort, wo es Mischehen gab. Die Volkstracht wurde nach Angaben von Pillmann-Hartdegen bis in die 1960er Jahre getragen und verschwand danach bis auf einige Ausnahmen – wie ihre Großmutter –, die noch lange die Tracht als Alltagskleidung beibehielten. Heute gebe es keine Trachtenträger mehr in Gestitz.

Auch in anderen Bereichen sieht Elisabeth Pillmann-Hartdegen gravierende Veränderungen: „Die deutsche Sprache wird nicht mehr so intensiv wie damals benutzt, es gibt viele Zugezogene ohne Sprachkenntnisse und viele Jugendliche sind weggezogen. Ab 40 Jahren spricht man auf der Kosn nicht mehr Schwäbisch und man kennt nicht mehr alle Leute im Dorf. „I wüj neh mehr auf die Kosn gehn, wail i überhaaupt kaanen Mensch nicht mehr kenne”, so meine 89-jährige Nachbarin dazu.” Arbeitsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung gibt es in der Totiser Kolonie/Tatabánya oder in Oreslan/Oroszlány, vor Ort gibt es laut Elisabeth Pillmann-Hartdegen keine Handwerker, lediglich der Villapark mit 150 Häusern biete einige Arbeitsplätze sowie das deutschsprachige Ausland.

Die Corona-Zeit hatte und hat nicht nur auf die Arbeitswelt Auswirkungen, sondern auch auf das Innenleben des Vereins – vor allem auf das Begehen des 30. Jubiläums. Der große Festakt wurde auf nächstes Jahr verschoben. „Dennoch haben wir am 22. August untereinander gefeiert, es war am Dorftag, dem ,Glöckentag´”, so Pillmann-Hartdegen. Im Rahmen der Veranstaltung erhielten die Altmitglieder je ein Puppenpaar in Volkstracht, es wurden von der Bürgermeisterin Ehrenurkunden verteilt und auch eine Geburtstagstorte durfte nicht fehlen. Der Verein machte eine Foto-Ausstellung mit 200 Bildern und Zeitungsartikeln.

Dabei kann der Verein auf eine stolze Bilanz zurückblicken: 637 Auftritte in 30 Jahren, 84 selbst organisiert in Gestitz, 15 ausländische Gruppen bewirtet, 12 Auslandsreisen unternommen (in Eschwege – die neue Heimat für Vertriebene aus dem Nachbarort Kosmau/Vérteskozma – , Regen und Innsbruck). Man sang nach Angaben von Elisabeth Pillmann-Hartdegen bereits im ganzen Land – u. a. in Gereschlak, Boschok und Hajosch und man pflege Beziehungen zu den Ortschaften Schaumar, Wudigess, Schorokschar, Saar, Gant, Pußtawam oder Simmartin, um nur einige zu nennen.

Ähnlich wie andere ungarndeutsche Vereine und Kulturgruppen leidet auch der Kulturverein unter großen Nachwuchssorgen. „Man sieht überall die Folgen der Überalterung. Vor kurzem gab es ein Treffen von Musikanten und Sängern – man hat fast keine jungen Gesichter gesehen. Tanzgruppen haben Zulauf, aber Chöre nicht”, erzählt die Vorsitzende der Singgruppe und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Nationalitätenselbstverwaltung. Dennoch verfüge der Verein weiterhin über „stolze Mitglieder” – hier werde zudem noch schwäbisch gesprochen. Als besondere Höhepunkte sieht Pillmann-Hartdegen das Adventstreffen und das Christkindlspiel an, für das man auch Kinder begeistern könne, die sich in erster Linie in der Tanzgruppe engagierten. Ziel wäre es, dass „die Kinder auch an den Liedern Gefallen finden”.
Insgesamt sieht es Frau Hartdegen als eine Herausforderung an, den Status quo zu erhalten. Was die Mittglieder vermissen, ist eine bessere Kommunikation: „Bei den Leuten kommen wenige Informationen an, es gibt keine klaren Ansprachen von der „Leitung”. Früher funktionierte es irgendwie besser: Herr Hambuch kam öfters, auch Herr Kaltenbach und Herr Heinek, so dass man das Gefühl hatte, wichtig zu sein.”

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