Neue Heimat – alte Kontakte

Von Robert Becker

Unsere Ahnen sind in der Mehrzahl im 18. Jahrhundert, aus verschiedenen Gebieten und Gegenden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in mehreren Wellen nach Ungarn eingewandert. Unser Land wurde nicht viel früher unter Mitwirken bedeutender europäischer Kräfte unter der Leitung des „edlen Prinzen” Eugen vom Türkenjoch befreit. Da das weitgehend verödete Land bald einen wirtschaftlichen Nutzen erbringen sollte, kam der Gedanke auf, dünn bevölkerte Landschaften durch Ansiedlung aufleben zu lassen.

In unseren Ahnen sah man Potential für diese Aufgabe, so startete man Aktionen, sie in großer Zahl anzuwerben. Was allgemein bekannt ist, ist, dass ein Großteil von ihnen die Donau als natürliche Straße in die neue Heimat benützt-, und für die Fahrt ins Fremde auf einer Ulmer Schachtel die Reisekosten bezahlt hat.

Um die angestammte Heimat offiziell zu verlassen, war es nötig, eine landesfürstliche Genehmigung einzuholen, vor allem eine Gebühr zu entrichten. Wenn auch durch die Kolonisten-Anwerber viel versprochen wurde, wie „Neue Häuser und fette Rösser…” warnten offizielle Stellen Mittellose, dass es nicht ohne Gefahr sei, sich ohne gewisse Reserven auf den Weg zu machen. – Trotzdem gab es nicht wenige „Abenteuerlustige” unter den Kolonisten, die der guten Fügung des Schicksals getraut haben, und auch ohne Mittel und Genehmigung die beschwerliche Reise angetreten sind.

Was wir klar vor Augen halten sollten, ist, dass bei der Auswanderung nicht immer ganze Familien aufgebrochen sind: Es sind Eltern, Brüder und Schwester, viele Verwandte zurückgeblieben, es sind Beziehungen in die Brüche gegangen. Für den Weg – obzwar die Reisebedingungen beschwerlich, gefährlich und abenteuerlich gewesen sind – galt nicht nur ein „one way ticket”. Für Jahrzehnte hielt man zu den Daheimgebliebenen Kontakte aufrecht. Archivierte Briefe sprechen dafür, dass Erbschaften oder sonstige Mittel nach Ungarn nachgeschickt worden sind, oder dass man um diese bat, sowie dass man einander über Glück und Unglück in der zerrissenen Familie in Kenntnis gesetzt hat.

Es gab jedoch nicht alleine einen Briefkontakt, denn oft sind Kolonisten auch selbst aufgebrochen, um persönliche Angelegenheiten in ihrer alten Heimat zu erledigen. Es gibt Fälle, wo Boten in die Herkunftsorte verschickt worden sind, um Familienangehörige abzuholen, oder aber auch unverheiratete Mädchen zu begleiten, die Burschen noch zu Hause „versprochen” waren.

Übrigens: Man kann anhand von Matrikelvergleichen aus den Herkunftsgebieten und Ungarn recht klar sehen, dass jene Familien und Sippschaften, die in Heirats- und Patenschaftsbeziehungen standen, auch in ihrer neuen Heimat danach trachteten, diese weiterhin aufrechtzuerhalten. Ein gewichtiger Grund bei der Entscheidungsfrage, ob gehen oder bleiben, war auch der Wunsch danach, traditionell „bewährte” Familienverflechtungen auch für die Zukunft zu sichern.

Neben den Gründen der Gemeinschaft und der Verwandtschaft gab es aber auch private Interessen, die Risiken und Gefahren eines Weges in die alte Heimat anzutreten. Einem solchen Fall nachzugehen, gab ein Eintrag in der Matrikel von Neuhof in der fuldischen Gegend einen Anlass, den wir während der Suche unserer eigenen Ahnen als Zufallsfund entdeckt haben. Im Kapitel der Heiratseinträge aus dem Jahr 1725 konnte man plötzlich über einen „Johannes Thurn ex Lafashättin (gemeint ist Lovászhetény in der Branau) in Ungarn“ lesen, der Anna Ludwig, die hinterlassene Tochter des Johann Ludwig aus Niederkalbach heiratete. Johannes Thurn war aus Ungarn nach dem Tod seiner ersten Frau aufgebrochen, um zu Hause, in seiner alten Heimat erneut zu heiraten. Dieses Vorhaben setzt zumindest einen Briefwechsel voraus, um die gegenseitige Absicht noch vor dem Reiseantritt auszumachen.

Natürlich galt unser Interesse auch dem Umstand, was das junge Paar unternahm: Ob sie nach einem gescheiterten Versuch des Johannes Thurn in Ungarn Fuß zu fassen, im deutschen Lande geblieben ist, oder ob sie gemeinsam aufbrachen, um die Hoffnung auf glückliche Fügung des Schicksals in einer neuen Heimat gemeinsam zu suchen?

Nun, das letztere ist der Fall gewesen. Von Johannes Thurn mit seiner Ehefrau Anna Ludwig, fanden wir in Ungarn die gemeinsamen Kinder in Laßhetting: Johann Georg (1726), Eva Catharina (1727), Joan Heinrich (1728), Anna Barbara (1730), Anna Catharina (1732) in den Matrikelbüchern eingetragen. Alleine dieser spannende Fall hat bei uns die Augen geöffnet, und Annahmen revidiert,wonach es nur den einzigen Weg der Donau runter gab, und die Trennung von der alten Heimat ein für allemal gegolten hätte.

Wenn man aber gut überlegt, gibt es aus unserer nicht so alten Vergangenheit eine Parallele dazu, wie es sich verhält, wenn Familienverbände zerrissen werden. Die Vertreibung entbehrte zwar jegliche freiwillige Basis, doch kennen wir die Entwicklung der Kontakte zwischen daheim Verbliebenen und der nach Deutschland gezwungenen Landsleute von uns. Die Erfahrung zeigt es, wie mit der Zeit, in der Entfernung von Generationen die Kontakte zurückgehen, bis sie gänzlich erlöschen werden. Etwa so müssen wir es uns vorstellen, dass auch bei unserer Ansiedlung kein abrupter Abbruch der Kontakte erfolgt ist, sondern haben unsere Ahnen auch damals mit viel Zuneigung und voller Emotionen versucht, trotz der Ferne an Familien- Freundschafts- sowie auch an Bänden der Liebe aneinander festzuhalten. Der Fall von Johannes Thurn und Anna Ludwig ist ein schönes Beispiel dafür.

Bildquelle: https://schambek.eoldal.hu/archivum/y/2012/08/1/

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