Verschleppen, Sterben, Schweigen

Eine Rezension von Johann Weiss

Márkus Beáta: „Csak egy csepp német vér”. A német származású civilek Szovjetunióba deportálása Magyarországról 1944/45, Kronosz Kiadó, Fünfkirchen/Pécs 2020

Eine so umfangreiche Aufarbeitung des Themas ist nur zu begrüßen, es hat bisher kein fundiertes Buch über die größte Tragödie der in Ungarn lebenden Deutschen gegeben. Es musste mit Sicherheit viel recherchiert werden und an vielen Punkten wissen wir noch immer nicht, was da eigentlich geschehen ist; auf jeden Fall ist die in Ungarn lebende deutsche Bevölkerung Opfer einer Kriegsgeschichte geworden. Beate Márkus spricht über „Deportation der deutschstämmigen Zivilisten in die Sowjetunion“. Ich werde ihre Terminologie nicht immer übernehmen und in diesem Rahmen auch nicht diskutieren. (Ich muss vorausschicken, dass ich kein Historiker bin, „nur“ ein Betroffener, ein Nachfolger der unmittelbar Betroffenen: der Verschleppten, der Gestorbenen und ein Augenzeuge des langen Schweigens.)

Der Ausgangspunkt der Deportation der deutschstämmigen Zivilisten ist durch die Forschung noch immer nicht erhellt worden. Trotzdem findet man in den Arbeiten der ungarischen und der rumänischen Forscher Ideen, die darauf hinweisen, dass die Deportation schon vor Ende 1944 vorbereitet wurde.“ (S. 59) Einige Forscher behaupten, dass im Waffenstillstandsabkommen vom 12. Dezember 1944 eine geheime Klausel stand, laut der für die Zerstörungen in der Sowjetunion durch die rumänische Armee der rumänische Staat zahlen soll. In Bezug auf Ungarn hat Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow (der damalige Ministerpräsident) in einem Brief geschrieben, dass wegen der Hilfe, die Ungarn dem Naziregime leistete, nicht nur die ungarische Regierung, sondern auch das ganze ungarische Volk bestraft werden muss. (S. 59-60) Es ist dann aber noch immer unklar, warum das nur einen Teil der Bevölkerung, nämlich die Deutschen betroffen hat. (Und unverständlich ist weiterhin, warum auch aus Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei Leute deportiert wurden, obwohl diese Länder die Sowjetunion nicht angegriffen haben.)

Aus den fünf Staaten wurden in 5677 Wagons in 103 Bahnzügen die Deutschen in die Sowjetunion deportiert. „Die Züge bewegten sich hauptsächlich in der Nacht, tagsüber standen sie auf Nebengleisen, wodurch sich die Reise sehr verzögerte. Die Einsammlungen und die Transportierungen waren bis zum 2. Februar 1945 abgeschlossen.“ (S. 69) Die sowjetischen Behörden geben die Zahl der Deportierten unterschiedlich an: Die Angaben variieren zwischen 110 und 125 Tausend. Es gibt viele Unsicherheiten auch im Vorfeld der Deportationen; die Überlebenden berichteten, dass man Ihnen nicht richtig mitgeteilt hat, warum eben sie herausgehoben wurden, was wiederum voraussetzt, dass bei der Einsammlung der Deutschen sehr viele zufällige und willkürliche Fälle auftraten. Was durfte man mitnehmen? Nach einigen Angaben durfte man bis 200 kg persönliche Habseligkeiten mitnehmen, woraus zu schließen wäre: „Das sowjetische Ziel war unverkennbar die Bewahrung des gesundheitlichen Zustandes und der Arbeitskraft der Transportierten.“ (S. 68) Wie ich sehe, gibt es aber keine Beweise dafür. In einigen Dokumenten steht auch anstatt „200“, nur „20 kg“. (So habe ich es auch immer in meiner eigenen Familie gehört.) Beáta Márkus zeigt, dass 200 kg pro Kopf in der Spätkriegszeit schon als Transportaufgabe unlösbar gewesen wären. Aber auch 20 Kilo waren viel zu viel, wenn man überlegt, dass viele Leute auch mitten im Winter ca. 100 km zu Fuß gehen mussten, um erst den Zug besteigen zu können. Das angegebene Ziel war meistens eine Maisernte, weil diese wegen dem Krieg überall regelrecht ausgefallen ist. Es ist aber bis heute schwer zu erklären, wie das Märchen mit der Maisernte glaubwürdig sein konnte: Warum müssen das eben sowjetische Soldaten organisieren und wozu dazu so viel Gepäck? Aber herumgesprochen hatte sich das schon unter den Gefangenen, dass sie möglicherweise in die Sowjetunion abtransportiert werden. Man hatte das befürchtet aber noch immer nicht so richtig geglaubt. Einige flüchteten, die sowjetischen Soldaten hatten zwar mit Rache gedroht, aber wenn so etwas passierte, dann waren sie recht großzügig. (So habe ich gehört.)

Einer der interessantesten Teile des Buches ist die Schilderung der ethnischen Konflikte in Ungarn – davon weiß man viel, aber doch sehr wenig. Fangen wir wieder mit einer Vorsichtserklärung an: „Die Geschichte der ungarischen Nationalitätenpolitik und der deutschen Ethnopolitik sind schon mehrfach aufgearbeitet worden. Wir haben aber wenige Kenntnisse davon, wie diese Prozesse auf regionaler Ebene aussahen, wie groß ihr Wirkungsradius war, welche Einflüsse sie auf die Gemeinschaften und auf die persönlichen Beziehungen hatten. Dazu sind schon mehrere Dokumente veröffentlicht worden, eine ausführliche Aufarbeitung wartet aber noch auf sich, wobei fraglich ist, ob man sich davon heute noch ein realistisches Bild ausmalen kann, weil die Quellenlage ziemlich miserabel ist.“ (S. 91-92) Ich könnte das schwer beurteilen, weil in meinem Dorf keine Ungarn lebten, es wurde aber viel erzählt von irgendwelchen Märkten, wo man mit ungarischen Leuten in Kontakt trat, man handelte, hin und her, und dann traten immer irgendwelche mysteriöse Schwierigkeiten auf. Nach meiner Einschätzung stammten diese Geschichten aus der Vorkriegszeit oder aus der frühen Kriegszeit. Die richtigen Konflikte sind in diesen Geschichten aber nie so richtig ausgemalt worden, aber ein elementares Misstrauen war da deutlich zu spüren.

Auf der Makroebene gab es eine tief begründete ungarische Deutschfeindlichkeit. Es ist nicht mehr auszumachen, wie verbreitet diese Feindlichkeit in der Gesellschaft war, auf jeden Fall war sie vorhanden. Beate Márkus beschreibt vor allem die Tätigkeit der nationalistischen Schriftsteller (népi írók) in den 20er und 30er Jahren. Der Schlüsselroman dieser Bewegung war Dezső Szabós „Az elsodort falu“ (Das weggefegte Dorf), der 1919 erschienen ist, und bis 1945 in zweihunderttausend Exemplaren verkauft wurde. Man kann wohl von einem kultischen Roman sprechen, der eine ungeheuer große Wirkung gehabt hat. Da ist vom ungarischen Lande ein sentimentales Bild herausgearbeitet worden. Ich zitiere jetzt eine eher zufällig herausgegriffene Passage: „Neulich ging er durch ein Dorf. In Maksa neue kranke-weiße Häuser! Aus einigen – wie ein durchbrochenes Spinnnetz – reichte ihm ein langer Seufzer nach. Plötzlich hält er inne. Auf ein elendes Häuslein strahlte so der Mond, als ob die Wände Licht geschwitzt hätten. Auf der Türschwelle saß ein Mann und glotzte den Mond an.“ (Lazi Könyvkiadó 2011,S. 268) Beáta Márkus fasst die Hauptthese dieses Buches sehr treffend zusammen: Die ungarische „Rasse“ lebt nur noch auf dem Land, aber auch dort wird sie langsam weggefegt im Meer der fremden Elemente. Diese Elemente auf dem Lande waren aber vor allem die Deutschen, von denen die Mehrheit in den Dörfern lebte und in der Landwirtschaft arbeitete. (In den deutschen Dörfern gab es zu dieser Zeit schon ein höheres Lebensniveau als in den ungarischen.) Es begann eine Hetzkampagne, in die sich leider zahlreiche bedeutsame Schriftsteller und Denker eingeschaltet haben – von Gyula Illyés bis Lajos Fülep. „Die von den nationalistischen Schriftstellern verbreiteten Visionen waren oft Übertreibungen bzw. beruhten auf statistischen Manipulationen.“ (S. 254)

Die „Maisernte“ hatte sich lange verzögert, die letzten Deportierten wurden erst Ende 1949 freigelassen. Wie und warum, weiß man bis heute nicht genau. „Es stellte sich schon früh heraus, dass die Arbeit der Gefangenen sich nicht ausgezahlt hat, obwohl zahlreiche Rückblickende davon berichten, dass ihre Arbeitsleistung ausgezeichnet war und sie von den sowjetischen Behörden und Leuten sehr hochgeschätzt wurden.“ (S. 348) Viele Leute sind da auch gestorben: unmenschliche Arbeitsbedingungen, kein Essen, gar keine medizinische Versorgung, Seuchen… Nach Berichten haben einige schon auf der Hinreise ihr Leben verloren, die Entkommenen waren abgemagert bis auf die Knochen. Die Gesamtzahl der Toten weiß man nicht, es gab ja keine Registration. Laut einigen Erzählungen begannen die russischen Behörden erst am Tag der Freilassung mit der Registration. Beate Márkus geht davon aus, dass die Zahl der Toten um die 30 Prozent liegen muss: Also ungefähr jeder dritte Gefangene hat sein Leben dort gelassen. Wo und wie sie begraben sind, weiß niemand.

Das traurigste Kapitel des Buches ist das letzte: „Die Nachgeschichte der Deportationen“. Es ist früh bemerkt worden, dass da viele Unregelmäßigkeiten passiert sind. Die Verfasserin zitiert einen Brief, in dem József Révai Rákosi folgendermaßen informiert hat: „[Viele sprechen davon], dass die jetzigen Geschehnisse dem ähneln, was Hitler mit den Juden gemacht hat. Die Hauptquartiere sind nämlich von den Familiennamen und von den fixen Kontingenten ausgegangen. Wenn da nicht genug Deutsche waren, haben sie auch Ungarn mitgenommen. Sie haben Leute mitgenommen, die kein Wort deutsch sprachen, nachgewiesene Antifaschisten waren, in Gefängnissen saßen oder interniert waren.“ […].“ (S. 341-342) In den folgenden Jahren erhoben dann zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten ihre Stimme. Dies verlangte sehr detaillierte Forschungen, ich will jetzt aber nicht darauf eingehen. „Schon Anfang 1945 lässt sich beobachten, dass die Proteste nicht gegen die Deportationen gerichtet waren, sondern nur gegen die Art der Vollstreckung, nämlich, dass auch Leute mitgenommen wurden, die das nicht verdient gehabt hätten […] Die ungarische Gesellschaft hat die Deportation als gerechte Strafe empfunden, die einige verdient haben, andere nicht.“ (S. 342) Es gab also eine feste Überzeugung in der hohen Politik, unter den renommierten Intellektuellen und auch in der breiten Bevölkerung, dass die Verschleppung zur Zwangsarbeit der in Ungarn lebenden Deutschen höchst verdient war. Und was „verdient / nicht verdient“ war, wurde eindeutig durch ethnische Zugehörigkeit bestimmt. Die Deutschen wurden so langsam zu Sündenböcken für die Rolle, die Ungarn neben Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Die provisorische ungarische Regierung unter der Leitung von Béla Miklós tat gar nichts dafür, die deportierten Deutschen zu befreien. Dazu schreibt die Autorin: „Im Sommer 1945 sah man, dass die ungarische Regierung die Heimlieferung der deutschstämmigen Deportierten nicht unterstützte, weil sie deren Freilassung von der sowjetischen Regierung gar nicht verlangt hatte.“ (S. 345) Die ganze ungarische Bevölkerung hätte eine Freilassung nicht gutgeheißen! Im Sommer 1945 hatte dann die Enteignung der Deutschen begonnen, im Januar rollte der erste Aussiedlungszug aus Wudersch nach Deutschland, am 12 Juli 1946 wurde dann den Ungarndeutschen die ungarische Staatbürgerschaft aberkannt; seitdem lebten sie als Heimatlose in Ungarn (bis sie die Staatsbürgerschaft im Jahre 1950 zurückerhalten haben).

Beate Márkus sieht es so, dass erst nach 1990 eine Erinnerungskultur zustandekam. Davon ausgehend schwanken aber ihre Urteile: „Nach 2000 sind zahlreiche Gedenkstätten errichtet und die Gedenkfeiern sind auch häufiger geworden; im Ganzen muss man aber doch behaupten, dass die Gedenkkultur der Deportation weiterhin exklusiv geblieben ist. Die Teilnehmer sind typischerweise Überlebende oder ihre Nachfahren. Landesweit konnte weder eine zentrale Gedenkstätte errichtet noch ein Gedenktag bestimmt werden. So haben die Ereignisse nicht die Reizschwelle der breiten Gesellschaft erreichen können.“ (S. 356) So sind diese Ereignisse neutralisiert und den Opfern gestohlen worden. Dieses tiefe Trauma der Ungarndeutschen ist so nicht in einem therapeutischen Sinne behandelt worden. Mich interessieren hier nicht die Gedenkjahre, auch nicht deren Verlängerung, ich möchte lieber zwei grundsätzliche und typische Tendenzen hervorheben: – Erstens gab es in der ungarischen politischen Diskussion seit Trianon eine gewisse Konkurrenzsituation zwischen den inländischen Nationalitäten und der in der Minderheit lebenden Auslandsungarn. Im Sozialismus gab es noch eine gewisse Ausbalancierung: Wir gehen sehr gut mit unseren Minderheiten um und ähnlich sollen auch unsere Nachbarstaaten mit der ungarischen Minderheit umgehen. Diese gute Umgangsweise war auch übertrieben, vermittelte aber doch gewisse Imperative: Der umfassende ungarische Nationalismus hat jetzt aber alle ungarischen Minderheiten endgültig in eine homogenisierte, magyarisierte Gesellschaft integriert. Diese Konkurrenzsituation ist also jetzt zugunsten der Auslandsungarn aufgelöst worden. Ungarn wird zu einer homogenen Gesellschaft erklärt, die Geschichte der Minderheiten ist damit zu Ende. Damit werden auch ihre Traumata ausgelöscht. – Zweitens: 2014 ist in Budapest am Freiheitsplatz ein Denkmal errichtet worden „für die Opfer der deutschen Besetzung“. Das Denkmal vermittelt das folgende Bild: Die deutsche Besetzung war schuld an allem (auch am Holocaust). Ungarn, die ungarischen Behörden und die ungarischen Leute sind unschuldig. Als ob das eine Frage des Orakels wäre! Ohne die Bekennung der Schuld ist aber keine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich. Es ist nicht zu leugnen, dass es bei der Deportation einen internationalen Kontext gab. Es gab aber auch (wie gezeigt) eine weit verbreitete intellektuelle und gesellschaftliche Unterstützung. Aber: In der gesamtgesellschaftlichen Erinnerung gibt es keine Deportation, keine Aussiedlung und keine Verschleppung mehr.

So endet die Geschichte zum zweiten Mal sehr traurig.

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Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken bei Judith Klein für zahlreiche Gespräche und für ihre Unterstützung bei meiner Erinnerungsarbeit.

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