Von P. Rieckmann, EDMÖ (Elternkreis Deutsche Muttersprache Ödenburg)
Herbstlich milder Sonnenschein strahlte uns am Dienstag, den 19. Oktober 2021 um 17 Uhr auf dem Evangelischen Friedhof von Ödenburg/Sopron entgegen. Um das schmale Grabmal des Tobias Kern, das ursprünglich 1936 von der Ödenburger Ortsgruppe des Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins (UDV) errichtet wurde, drängte sich eine Traube von ca. 40 Menschen. Vertreten waren die Deutsche Selbstverwaltung Ödenburg (DSÖ), der Hianzenverein Oberschützen und der Elternkreis Deutsche Muttersprache Ödenburg (EDMÖ). Für eine stimmungsvolle musikalische Untermalung sorgten die Damen des Wandorfer Chors, die deutsche Volkslieder zum Besten gaben.
Nach einer kurzen Einleitung von Magdolna Krisch, Vorsitzende der DSÖ, begann Herr DDr. Erwin Schranz, Vorsitzender des Hianzenvereins Oberschützen, seine Festrede zur Einweihung des erneuerten Grabsteins. Treffend umriss er die faszinierende Gestalt des „Ödenburger Märchenborns“: Er nannte Tobias Kern, der sein Leben lang als Straßenkehrer arbeitete, einen unscheinbaren Mann, der einen gewaltigen Sagenschatz aus der Tiefe der Volksseele hervorkehrte. Die Hege und Pflege der Volkskultur aber mache jedes Grabmal auch zu einem Denkmal.
Als zweiter Redner trat Pastor Holger Manke vor, der uns nahelegte, dass ein Friedhof nicht nur schmerzliche Erinnerungen wecken, sondern auch ein Ort sein kann, um neue Kraft für den weiteren Weg zu schöpfen, auf dass wir bereichert für das Heute und Morgen von dort aufbrechen.
Nun begaben sich alle in das Rejpal-Haus an der Grabenrunde 7, wo der gesellige Teil des Programms begann und Rotwein und Gebäck kredenzt wurden, während Mitglieder des Hianzenvereins unterhaltsame Gedichte und vier von den 123 Märchen vorlasen, die Tobias Kern dem Volkslehrer Johann R. Bünker in die Feder diktierte: Da Pforra und da Wirt (Der Pfarrer und der Wirt), Da Spoara (Der Sparer), Da gscheite Hansl und Da Hausknecht, natürlich in hianzischer Mundart.
Der Abend klang in gemütlicher Runde mit angeregten Gesprächen, Gelächter und Frohsinn aus. Spontan wurden neue Projektideen vorgeschlagen, wie etwa eine deutschsprachige Gedenktafel für Bünker oder ein Hinweis auf Kern an seiner Sterbestätte, dem ehem. Armenversorgungshaus.
Ich persönlich blicke mit Zuversicht auf die neuen Pläne, da sich mir an diesem Abend ein Eindruck besonders einprägte: Bei so viel gutem Willen lassen sich jederzeit gemeinsame Projekte finden und umsetzen! Nichts beweist dies besser, als der sanierte Grabstein des Tobias Kern, wo viele Hände an einem Strang zogen, um das gemeinsame Ziel zu verwirklichen.
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Der Lehrer und der Straßenkehrer
Zwei ungleiche Männer im Dienste der heanzischen Brauchtumspflege
Von Richard Guth
Zwei ungleiche Männer trafen sich 1895 im westungarischen Ödenburg/Sopron. Der eine ein waschechter Österreicher, genauer gesagt Kärntner, in seinen Dreißigern, der andere, Abkömmling heanzischer Bürger in Ödenburg, Mitte 60. Der eine Lehrer von Beruf, der andere, als Analphabet, Straßenkehrer, oder wie man es heute sagen würde, städtischer Angestellter. Wie so oft hatte der eine etwas, an dem der andere großes Interesse zeigte. Am Ende standen 123 „bunte und vielfältige Erzählungen”, wie es die Urgoßnichte des Kärtners notierte, die im Band „Schwänke, Sagen und Märchen in heanzischer Mundart” zusammengefasst wurden, erschienen elf Jahre später auf 436 Seiten in Leipzig.
Der Kärtner hieß Johann Reinhard Bünker, der Ödenburger Tobias Kern, Familienname bereits Mitte des 16. Jahrhunderts in der Heanzenmetropole nachgewiesen. Kern wuchs in einer verarmten Ödenburger Familie auf, ihm wurde kaum Schulbildung zuteil und lernte das Lesen und Schreiben nie. Dank dem fürsorglichen Umgang des Großvaters hatte er jedoch etwas, was ihm dennoch von der großen Masse abhob: das Märchenerzählen in der heanzischen Mundart und das nach mündlicher Überlieferung durch Großvater und andere ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Kern soll, so Bünker, ein ausgezeichnetes Gedächtnis gehabt haben: Bünker ließ eines seiner Märchen zehn Jahre später erneut erzählen, mit einem verblüffenden Ergebnis: Kern konnte das Märchen fast identisch erzählen – wohlgemerkt, sie war eine von 122 Erzählungen. Die Urgroßnichte Bünkers, Mag. Brigitte Bünker, berichtet darüber hinaus noch von einem anderen Wesenszug von Kern: In seinen Geschichten zeige dieser (bzw. der Erzähler) einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit.
Über einen Schüler soll Bünker in den 1890er Jahren auf den begabten Märchenerzähler Tobias Kern aufmerksam geworden sein. An dieser Stelle kommt in Reportagen des Bayerischen Rundfunks oder des Magazins „Der Spiegel” meist die äußerlichen Vorstellung der Person – wird gemacht, dank der Beschreibung von Bünker: „Dunkles Haar fiel ihm wirr in die hohe Stirn herein, ein mächtiger weißer Bart umrahmte sein wettergebräuntes Gesicht und bedeckte bis tief hinab die breite Brust. Eine kräftige, doch schön geformte Nase verlieh dem Antlitz edle Männlichkeit; die überaus freundlich und treu blickenden Augen aber verrieten, daß sich dieser Mann ein Gemüt bewahrt haben müsse, so heiter und sanft wie das eines Kindes.” Bünker lud ihn ein und ließ ihn an Sonntag Nachmittagen – damals wurde auch samstags gearbeitet samt Schulunterricht – erzählen. Bünker, der 1890, mit 29 Jahren auf die Ödenburger evangelische Grundschule, damals deutschsprachig, kam, war von Anfang an ein engagierter Heimatforscher, nicht nur auf dem Gebiet der Mundart, sondern auch in anderen Bereichen der Volkskunde, wie die Dokumentation der Bauernhochzeit von Harkau/Harka zeigt (mit reichem Bildmaterial). Bei dem Aufzeichnen der Märchen, Sagen und Schwänke von Kern war Bünkers besonderes Anliegen, dabei die Mundart, eigentlich eine Mischung aus der Bauernsprache der „Bohnler” und der an das Wienerische angelehnten so genannten Honoratiorensprache, des „Stadtdialekts” der mittleren Schichten, für die Nachwelt zu erhalten: Phonetische Transkription heißt die wissenschaftlich korrekte Vorgehensweise, was aber ziemlich benutzerunfreundlich ist – deshalb übertrug Bünker die schönsten Märchen in die deutsche Schriftsprache. Wohlgemerkt, Ödenburg war damals deutschsprachig. Diese Edition erschien aber erst 15 Jahre nach seinem Tod, und zwar im Jahre 1929. Seine Bemühungen um die die Brauchtumspflege mit wissenschaftlichem Anspruch brachte ihm, dem Zugezogenen aus der anderen Reichshälfte Lob und Anerkennung in der Bevölkerung und der Führungsschicht und gleichzeitig Mit- und Ehrenmitgliedschaften in zahlreichen Gesellschaften der Stadt und des Komitats Ödenburg, aber auch landes- und reichsweit, ein.
Bünkers Urgroßnichte, die bereits erwähnte Brigitte Bünker, analysierte in den 1980er Jahren den Erzählstil von Tobias Kern mit folgendem Ergebnis: „Kern ist ein außergewöhnlich guter und geistreicher Erzähler und zeigt großes dramatisches Talent: Es gelingt ihm oft, sich in die Rolle seiner Figuren hineinzuleben und deren Redeweisen und Stimmen nachzuahmen. Die Dialoge sind schwungvoll und treffend; kein Satz in ihnen ist überflüssig. Bei seinen Zustandsschilderungen ergeht er sich zuweilen im Fabulieren und manche Handlungsschritte stellt er äußerst detailliert dar. Das Aufschneiden und Übertreiben liebt Kern sehr; manche Erzählungen grenzen so an die Groteske und die Parodie. Der häufige Einbau schauriger Szenen erinnert manchmal an Moritaten. Kern hat ein ausgeprägtes Gefühl für alles Komische. Nicht nur die Schwänke, sondern auch die märchenhaftesten Erzählungen durchzieht sein trockener Humor. Seine rationale Weltsicht, seine Klugheit und Nüchternheit verlassen ihn beim Erzählen nie; in den Märchen versucht er stets die Verbindung mit der Alltagswelt aufrechtzuerhalten. Dies zeigt sich auch in der Ironie, mit der er seine Märchenfiguren die Wunderwelt erleben läßt. – Der Kernsche Märchenstil kann also, um mit Lüthischen Kategorien zu sprechen, durchaus nicht als „abstrakt” bezeichnet werden. Abgesehen davon, daß viele seiner Erzählungen schon ihres Inhalts wegen äußerst interessant sind – spiegeln sie doch älteste volkstümliche Vorstellungen wider -, bringt es noch die Eigenart der heanzischen Mundart und die Kraft ihrer Ausdrücke mit sich, daß die Kernschen Erzählungen eine Lebendigkeit und Ursprünglichkeit ausstrahlen wie man sie eben nur in der Volkserzählung anzutreffen vermag.”
Auch die Nachwelt vermag und vermochte Kern zu gedenken – so errichtete die Ödenburger Ortsgruppe des Ungarländisch Deutschen Volksbildungsvereins 1936 einen Grabstein zu Ehren des 1916 fünfundachtzigjährig im Ödenburger Armenhaus verstorbenen Märchenerzählers. Dieser wurde 1988 und nun 2021 erneuert. Auch die Erinnerung an den zwei Jahre zuvor, 1914 verstorbenen Bünker wird wachgehalten.