Von Professor Dr. Zoltán Tefner
Teil 5
Bei den zwei Urheimaten der in Kötsching niedergelassenen Siedler handelt es sich um einzelne Regionen im Land Hessen, die an sich nicht durch Verwaltungs- oder natürliche Grenzen voneinander getrennt waren. Eine Urheimat ist das Gebiet um den Vogelsberg. Dieser Landesteil liegt in Nord- bzw. Oberhessen und umschließt ein Gebiet von 150 km (von Norden bis Süden und etwa 80-90 km zwischen Westen und Osten), welches von den Städten Hanau, Fulda, Schwalmstadt, Marburg und Gießen begrenzt wird. Der Vogelsberg selbst ein wildromantisches Mittelgebirge, wobei sein höchster Punkt, der Taufstein, 774 m, nahe der Stadt Schotten liegt. Am Gipfel des Taufsteins entpringen einige kleinere Bäche der Gegend wie die Nidda, die Ohm, die Ulster, die Schwalm und die Fulda.
Die Dörfer der alten Heimat Kötschings liegen demnach in Flusstälern versteckt, was uns sehr an Kötsching erinnert, und unter den Halden der Hügel um den Vogelsberg herum stößt man auf gepflegte und reiche Siedlungen. Einige Dörfer findet man schon an den Ausläufern des Knüllgebirges und der Bayerischen Rhön in der Nähe der thüringischen Grenze. Infolge des Ausbaus des heutigen Verkehrsnetzes grenzen zwei wichtige Autobahnen dieses Gebiet ab. Im Süden die Fulda-Frankfurt- (A66), im Norden die Eisenach-Gießen-Autobahn (A5/A4). An einer Abzweigung der letzteren findet sich die Stadt Alsfeld, ein bedeutender Amtsitz eines bekannten Landkreises, denn die Ahnen vieler Tolnau-Branau-Schomodeier Familien stammen von dieser Stadt ab. Der Vogelsberg – dieser Ararat von den aus verschiedenen Orten zusammengefügten Urahnen der Kötschinger Familien – war damals ausgewiesener Platz für Viezucht, Baumrodungen und auch für die Jagd.
Der andere, etwas südlicher gelegene Urheimat Kötschings ist zwar ihrer Ausdehnung nach kleiner, hinsichtlich ihrer Bedeutung aber von ebensolchem Rang. Ihre Nordgrenze fällt praktisch mit der Südgrenze des Ballungsgebietes von Frankfurt am Main zusammen, ein kleiner Teil reicht jenseits des Rheins hinüber bis in die benachbarte Pfalz, im Osten grenzt sie an die großen Mäander des Mains bei Aschaffenburg und im Süden an den Odenwald, der angeblich noch wilder und romantischer als der Vogelsberg sei.
Den nördlichen Ausläufern des Odenwaldes wird aus zwei Gründen eine große Bedeutung beigemessen: In den germanischen Zeiten verlief hier nämlich die Grenze des alemannischen Herrschaftsgebietes, und zweitens verläuft hier die heutige Sprachgrenze zwischen den alemannischen und fränkischen Dialekten. Der malerische Fischbachtal und Obernhausen am Eingang des Modautales sind mundartlich gesehen „gemischte Orte”, so spricht man in Fränkisch-Crumbach zwar noch fränkisch, aber in den noch südlicher gelegenen Gemeinden herrscht bereits die alemannische Variante vor. Hier befinden sich die Städte Groß-Umstadt, eine einst auch von Kötschingern bewohnte Kreisstadt, weiters Ober-Ramstadt, deren Bewohner sich gegen ihre Lebensumstände auflehnten und kollektiv nach Ungarn auswanderten und Groß-Bieberau, die für die Geschichte Kötschings im 18. Jahrhundert auch von großer Wichtigkeit wurde.
Sie ist zwar eine etwas kühle, doch von bewaldeten Hügeln und kleinen Baechen besänftigte Gegend, die allerdings wesentlich schlechtere Bodenverhältnisse als jene in Transdanubien aufweist. Ab und zu finden sich heute noch versteckte Hinweise auf den Weinbau, der im 18. Jahrhundert in den Orten wie Gronau, Groß-Umstadt, Klein-Umstadt, Reinheim und selbst in Groß-Bieberau noch lebhaft betrieben wurde. So ist es nicht verwunderlich, dass für die Siedler, die sich in Kötsching niederließen, die Möglichkeit des Weinbaus bei der Auswahl ihres Ortes ein gewisses Kriterium spielte. In Oberhessen konnte aufgrund der klimatischen Verhältnisse ja kein Wein angebaut werden. Vielleicht ist es dem hohen Niveau des Weinbaus zu danken, dass sich neben den vielen Kolonisten aus Oberhessen auch einige Siedler aus Südhessen niederließen.
Das Land Hessen war zur Zeit der Auswanderungen durch seine zwei Herrscher in zwei Teile gespalten, wobei im Süden Großherzog Ernst Ludwig (1678-1739) regierte, im Norden Karl (1654-1730). Darmstadt war die Hauptstadt im Süden – daher kommt auch der Name des Landes: Hessen-Darmstadt. Die Hauptstadt im Norden war Kassel (Hessen-Kassel). (Die Gegend des Vogelsberges gehörte zu dem von Ernst Ludwig regierten Darmstädter Landesteil. Wenn wir also über Ober-Hessen sprechen, dann sprechen wir über den nördlichen Teil von Hessen-Darmstadt und nicht über Hessen-Kassel.
Hinsichtlich unseres Themas war Ernst Ludwig die wichtigere Persönlichkeit von den beiden. Er hinterließ der Nachwelt das Bild eines absoutistischen Herrschers französischen Zuschnitts. Seine Frau, Dorothea-Charlotte, kam aus dem Hause Braunschweig-Ansbach. Die Gräfin liebte das hessische Volk sehr – mehr als ihren Mann! – und diese Liebe findet ihren Ausdruck darin, dass sich der Vorname Dorothea während ihrer Regierungszeit sehr verbreitete. Dieser Brauch scheint auch nach Ungarn mitgenommen worden zu sein, denn auch in Kötsching war Dorothea noch im 19. Jahrhundert ein sehr häufiger Vorname.
Beide in Rede stehend Staaten waren Teil des Deutsch-Römischen Reiches, das nach karolingischem Staatsrecht den Kaiser als alleinigen Herrscher anerkannte. In der Praxis freilich hatte der Kaiser aufgrund der Zersplitterung Deutschlands über die Führer- und Herrscherschicht der Klein- und Mittelstaaten kaum Macht. So konnte Kaiser Karl VI. (als ungarischer König war er Karl III.) sie höchstens um etwas bitten, doch zeigt das ständige Hin und Her mit den Aussiedlungen nach Ungarn, dass seine Bitten auch oft unerhört blieben.
Die Beziehung Ernst Ludwigs zu seinen Untertanen war durch seinen absolutistischen Regierungsstil äußerst belastet, denn sein karitativ-humanitärer Standpunkt dem Volk gegenüber bestand allein darin, es anderen Souveränen seiner Zeit gleich zu tun, indem er französische Hofsitten kopierte und seinen Staat zu kostspieligen Unternehmungen veranlasste. So entstanden Jagdschlösser, Kirchen, Theater usw., doch die Kosten dafür mussten die Untertanen tragen.
Mutatis mutandis galten diese hier beschriebenen Zustände auch in den übrigen deutschen Klein- und Mittelstaaten. Die Ursachen für die massenhaften Auswanderungen sind aber dennoch nicht vom Verhältnis dieser Staaten zu seinem Volks abzuleiten. Aufschlussreicher sind hier demographische Untersuchungen, die in Deutschland – oder zumindest in einigen Ländern – sogar nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges einen Bevölkerungszuwachs feststellen, ein Prozess, der sich nach dem Friedensschluss von Ryswick 1697, sogar sich beschleunigte. Das Beispiel Groß-Bieberau macht deutlich, wie die Bevölkerungszahl innerhalb einer bestimmten Siedlung nach einem großen europäischen Krieg zunehmen kann.
Groß-Bieberau wurde vom Krieg und der großen Pestepidemie des Jahres 1645 fast völlig verwüstet. Insgesamt sind nur 12 Familien am Leben geblieben, die Einwohnerzahl lag bei knapp 30 Seelen. Doch bereits kurz nach dem Westfälischen Frieden stieg die Einwohnerzahl des Dorfes auf ca. 350-400 Menschen an und auch nach Abschluss des französischen Friedens von 1697 nahm die Bevölkerung ständig zu, sodass man im Winter 1722 bereits mehr als 1000 Einwohner zählte, womit aber gleichzeitig eine Grenze erreicht wurde, denn das Dorf konnte seine Leute kaum mehr ernähren.
Um einiges erschwert wurde die Lage der Bevölkerung durch das deutsche Erbfolgesystem, das ein Realverteilungssystem war und darin bestan, dass der älteste Sohn erben konnte, nicht aber dessen Geschwister, die falls es ihnen ihr Schicksal ermöglichte, höchstens eine Lehre antreten konnten, um wenigstens einen Beruf zu erlernen. Dieses System war im 18. Jahrhunder mehr oder weniger in ganz Deutschland gültig, wobei der einzige Vorteil in der Verhinderung der Güterzersplitterung lag. Ursachen zum Wanderstock zu greifen erschöpft sich aber nicht mit diesem einzigen Umstand. Fortsetzung folgt