Erinnerungen eines Ungarndeutschen (Teil 3)

Von San.-Rat Dr. Johannes Angeli

Vorwort

So manches kann der Mensch erleben, wenn er über 80 Jahre alt wird, lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten, dann umso mehr. Umso mehr auch, wenn er als Auslandsdeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat. Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt: „Ach Papa, bei dir war wenigsten noch was los.” Da konnte ich nur antworten: „Du weißt doch gar nicht, wie glücklich Du sein kannst, in dieser guten neuen Zeit leben zu können.” Keineswegs handelt dieser Rückblick – um mit Goethe zu sprechen – von „Dichtung und Wahrheit“, sondern von Wahrheiten aus den „Erinnerungen eines Ungarndeutschen“.

Gern hätte ich mir auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet, aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann – hier den kleinen 10-jährigen Jungen -mitgerissen, ob er wollte oder nicht. So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht, vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen.

Wie es mir erging, will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen, eines Jugendlichen, eines Familienvaters und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die, die Ähnliches durchlebten, die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar nur für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien.

Teil 3: Die Vertreibung aus Isszimmer und Ungarn

Diejenigen Kräfte der Nationalungarn, die schon seit der Jahrhundertwende versucht htten, ihre Magyarisierungsträume zu verwirklichen, sahen nach dem Kriegsende endlich ihre große Chance gekommen. Es ist also kein Wunder, dass sie ihre Forderung nach der Aussiedlung der renitenten Ungarndeutschen lautstark schon zwei Monate vor dem Potsdamer Abkommen international in den Medien artikulierten und schriftlich formulierten. Diese Fakten werden heute auch von keinen unabhängigen Historikern mehr bestritten, nur versucht man die Schuldfrage von der unfreien, unter sowjetischem Druck stehenden ungarischen Regierung auf die Sowjetunion abzuwälzen (siehe Ministerpräsident Orbáns Rede am 19. Januar 2016!), obwohl damals noch eine freigewählte ungarische Regierung bestimmte.

Für die Nationalisten war es nämlich eine „nie wiederkehrende Chance, die Schwaben loszuwerden” (Minister für Wiederaufbau József Antall sen.), für die Anhänger der Bodenreform (Kleinbauernpartei) die Gelegenheit zu Grund und Boden zu kommen, für die Umsiedlungsbeauftragten die willkommene Möglichkeit zur Unterbringen der ungarischen Flüchtlinge u. a. aus der Slowakei und nicht zuletzt für den einfachen Bürger – ja sogar Nachbarn – die Chance sich am Hab und Gut der Vertriebenen zu bereichern.

Natürlich wollte man besonders Ungarndeutsche treffen, die sich am hartnäckigsten der Assimilation schon vor dem Krieg widersetzt hatten und die sich, um diesem Druck der staatlichen Organe ein Gegengewicht entgegensetzen zu können, untereinander verbündet hatten (Volksbund, siehe Teil 2!).

Es muss doch nicht nur von uns heute, sondern von allen Ungarndeutschen schon damals als eine Diskriminierung ihres Seins in Ungarn empfunden worden sein, wenn kein ordentlicher, brauchbarer deutscher Schulunterricht (siehe Teil 1!) mehr stattfand, wenn ihre traditionellen Vornamen in Kirchenbüchern und Urkunden nur ins Ungarisch übersetzt eingetragen wurden und wenn sie ihre Familiennamen gar magyarisieren oder deutschunkenntlich (siehe von „Angele“ zu „Angeli“!) machen mussten, um einen gesellschaftlichen Aufstieg außerhalb ihrer Stammesdörfer realisieren zu können.

Weitere historische Zusammenhänge und Hintergründe sind ja inzwischen von vielen Historikern durch deren Bücher und nicht zuletzt durch die Medien aller Art (auch durch das „Sonntagsblatt”) verdeutlicht worden. Ebenso kann dort die Gesamtzahl der Vertriebenen nach West- und Ostdeutschland und der verbliebenen Ungarndeutschen eingesehen werden.

Als unmittelbarer Zeitzeuge ist es vielmehr meine Aufgabe, über die Vertreibung der Deutschen aus Isszimmer einen nahen Erlebnisbericht zu geben. Erste Gerüchte über Vertreibungen von Ungarndeutschen aus verschiedenen Dörfern gab es ja schon unmittelbar nach Kriegsende, so dass diese finstere Drohung wie ein Damoklesschwert über Isszimmer schwebte. Aber mit dem Verstreichen von Monaten, ja sogar Jahren stieg die Hoffnung, dass dem abgelegenen Dorf Isszimmer dieser bittere Kelch doch erspart bleibe. Aber Ende 1947/Anfang 1948 fiel doch das Damoklesschwert über Isszimmer.

Eine sogenannte Aussiedlerkommission erstellte von den Auszusiedelnden eine Liste, die wohl von den Bündlern (bundisták), also den ehemaligen Mitgliedern des Volksbundes der Deutschen in Ungarn, dominiert wurde, aber auch von subjektiven, willkürlichen Gesichtspunkten geprägt war.

Viele Angeli-Familien waren als Volksbündler (siehe Teil 2!) natürlich auch dabei; wie sehr dabei der Tatbestand eine Rolle spielte, dass die Angelis schon um die Jahrhundertwende nach einer amtlichen statistischen Erhebung mit 530 Joch (= 302 Hektar) den größten Grundbesitz in Isszimmer besaßen, bleibt der Phantasie überlassen. Wie sehr bei der Vertreibung auch schnöde wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielten, habe ich ja schon einleitend aufgeführt, aber welche Willkür und Absurdität dabei auch eine Rolle spielten, zeigt der Fall der Brüder meiner Mutter. Beide wurden noch als Jugendliche im letzten Kriegsjahr zur ungarischen Armee eingezogen, gerieten in russische Kriegsgefangenschaft und wurden erst ein halbes Jahr nach unserer Vertreibung nach Isszimmer entlassen. Obwohl sie bis zuletzt noch als Jugendliche im Haushalt meines Großvaters gelebt hatten und bei einer rechtzeitigen Rückkehr ganz sicher mitvertrieben worden wären, ließ man sie trotz jahrelanger Proteste und Eingaben nicht mehr zu uns nach Deutschland nachreisen, nicht mal als Besucher oder zur Beerdigung ihrer Mutter (Juli 1951), die als letzten Wunsch ihre Söhne so gerne wiedergesehen hätte. Wenn sie nun wenigstens ihr Elternhaus mit allen ihren materiellen Hinterlassenschaften wiederbekommen hätten, könnte man noch eine einigermaßen logische Handlung erkennen, aber nichts dergleichen! Sie mussten sich mittellos als Lohnarbeiter verdingen (z. B. als Grubenarbeiter unter Tage) und erst nach Jahren hat einer von ihnen das Elternhaus für einen teuren „Liebhaberpreis” wieder zurückgekauft. Schließlich gründeten sie Familien in Isszimmer und bei Budapest, zu denen wir nach wie vor besten Kontakt haben. Dass unsere Familie auch zu den Auszuweisenden gehörte, erschütterte meine Eltern zutiefst. Meine Mutter schickte mich 10-jährigen Jungen ständig dem Vater hinterher, „damit er sich nichts antut”.

Es ist ja auch unfassbar tragisch, wenn man von heute auf morgen sein Haus und Hof, seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz und sein von den Ahnen über Jahrhunderte mühsam aufgebautes Besitztum verliert. Was das bedeutet, können nur diejenigen nachvollziehen, die das miterleben mussten oder selbst in ihrem Leben vor Unterdrückung und Unfreiheit flohen. Innerhalb von zwei, drei Tagen musste jede Familie das Nötigste packen, alles andere (Hausrat, Lebensmittel, Textilien, Möbel, die Tiere des gesamten Bauernhofes, landwirtschaftliche Maschinen und Feldgeräte u.v.m.) musste auf strenge Anweisung in Haus und Hof an Ort und Stelle verbleiben. Gute Freunde und zurückbleibende Verwandte trauten sich auch nicht etwas zu übernehmen, damit sie nicht auch noch deportiert wurden.

Mitten im kalten Winter, am 10. Februar 1948, setzte sich ein trauriger Zug von Pferdegespannen unter Kirchenglockengeläut und unter großer emotionaler Anteilnahme der Dorfbewohner und Freunde in Richtung Bahnhof Bodajk in Bewegung. Insgesamt wurden 66 Familien mit 346 Personen aus Isszimmer vertrieben. Auf dem Bahnhof Bodajk trafen noch zahlreiche Vertriebene aus anderen Orten ein (allein aus Moor/Mór 436 Familien mit 1349 Personen). Alle wurden in Viehwaggons mit all ihrem Gepäck gepfercht und ab ging die Fahrt in eine ungewisse Zukunft, in ein für uns so unbekanntes Land.

Diese relativ späte Vertreibung hatte wohl den Vorteil, dass uns die schlimmsten Nachkriegshungerjahre in Deutschland zum Teil erspart blieben, aber den Nachteil, dass wir uns den mühseligen Wiederaufbau der kriegszerstörten Bauernwirtschaft (siehe Teil 2!) hätten ersparen können und obendrein den viel größeren Nachteil, dass wir in die Sowjetisch Besetzte Zone (SBZ) transportiert wurden und nicht – wie zuvor – in die amerikanische Zone kamen, da die amerikanische Administration sich weigerte, weitere Vertriebene aus Ungarn aufzunehmen. In den Waggons mit jeweils 36 Personen und viel Gepäck war es furchtbar eng, stickig und natürlich obendrein kalt. Als in der ČSSR – die längste Strecke unserer Fahrt – auch noch die Wagen total verschlossen wurden, war uns rücksichtslos jegliche Möglichkeit genommen, unsere Notdurft draußen zu verrichten. Aus dieser Notsituation heraus wurde einfach der Fußboden im Waggon aufgerissen und so der nötige Abgang geschaffen; Sichtschutz für die Frauen schufen die Männer, indem sie Decken aufhielten.

Wir Kinder krochen vor Kälte unter die Federbetten oder stritten uns am winzigen Fenster, dem einzigen Blick- und Lichtzugang, um einen Fensterplatz. So ging die traurige und beschwerliche Fahrt meist nachts mit vielen Stillstandszeiten weiter, weiter ohne Information und mit dem Gefühl nie mehr ein Ziel zu erreichen.

Doch das Ende des erzwungenen, inhumanen Menschentransports im Viehwagen kam doch noch: Nach acht Tagen kamen wir ins Quarantänelager Wolfen, Kreis Bitterfeld (SBZ). Endlich geschlossene Räume in Baracken, Wasch- und Wäschemöglichkeiten, freie Beweglichkeit wenigstens innerhalb des umzäunten Lagers – eine Wohltat für uns Kinder. Sogar Verpflegung gab es, was aber unseren verwöhnten Bauerngaumen gar nicht zusagte. Ich erinnere mich noch heute an eine schleimige Graupensuppe. Kommentar: Igitt, die Deutschen essen Getreidekörner! Bis heute mag ich keine Graupen.

Wir brieten in der vorhandenen Kochnische über offenem Feuer Wurst, Eier und Speck und staunten nicht schlecht, als am Lagerzaun sich Einwohner einfanden, um unsere Kartoffelschalen zu erbetteln. Kommentar der Lagerköche: Ihr werdet noch froh sein, wenn ihr solches Essen draußen habt! Da konnte es einem ja schon Angst und Bange werden.

Nach vier Wochen erfolgte – zum Glück unter Berücksichtigung der engeren Verwandtschaftsverhältnisse – die Verteilung der Ungarndeutschen von Isszimmer meistens auf kleinere Orte in der Nähe der mitteldeutschen Chemiezentren Leuna, Buna, Bitterfeld, Bernburg und auch ins Mansfelder Land (Kupferbergbau), da man dort noch Arbeitskräfte benötigte. Trotz dieser Zerstreuung und ohne jegliche Hilfe durch Kommunikationsmittel (z. B. Telefon) hielten sie, besonders die Älteren, über Jahrzehnte noch enge Kontakte. Man traf sich zu geselligem Zusammensein bei nun wieder selbstgemachtem Wein (leider aber nur Obstwein) und schwelgte in Erinnerung von „Daheim” und von alten Zeiten – eine Seelenmassage für die traumatisierte Psyche.

Großtreffen waren auch die immer häufiger werdenden Beerdigungen. Unvergessen bleibt mir die Beisetzung meiner Großmutter im Juli 1951. Hinter dem mit Pferden gezogenen Leichenwagen zog vom Trauerhaus ein riesiger, langer Trauerzug vor allem von Isszimmerer Landsleuten bis zum Friedhof, die alteingesessenen Einwohner staunten, sowas hatten die noch nicht gesehen.

Uns und unsere engen Verwandten (Großeltern, Schwager mit Familie) sowie noch ein paar andere Familien transportierten die LKWs vom Lager Wolfen nach Lützen, einer Kleinstadt zwischen Leuna/Merseburg und Leipzig. Für Geschichtsinteressierte: Lützen ist bekannt durch seine eindrucksvolle Gedenkstätte für den im Dreißigjährigen Krieg hier gefallenen Schwedenkönig Gustav II. Adolf. Dort wurden wir am Vormittag mitten auf dem Marktplatz mit allen unseren Habseligkeiten einfach abgeladen. Da saßen wir nun – die Männer mit schwarzen Hüten und hohen Lackstiefeln und die Frauen mit ihren weiten mehrlagigen Schwabenröcken – auf unseren Bündeln und Kisten. Im Nu verbreitete es sich im Ort wie ein Lauffeuer: „Die ungarischen Zigeuner sind da!” Und die Einwohner strömten herbei um uns – schrecklich und erniedrigend – zu begaffen. Diese Tortur dauerte bis zum Nachmittag, bis uns die Stadtverwaltung endlich Unterkünfte zuwies und die einzelnen Familien mit Pferdewagen dorthin transportiert wurden.

Unsere Familie landete vor einem hohen Haus, der Gespannfahrer lud alles auf die Straße vor die Haustür, übergab die Einweisungspapiere dem Hauswirt und fuhr davon. Der Hausbesitzer weigerte sich aber kategorisch, „Zigeuner” in sein Haus zu lassen. Da saßen wir wieder da, mitten auf der Straße, langsam wurde es schon dunkel, meine Mutter weinte bitterlich – der Hauswirt hatte aber kein Erbarmen. Ganz anders eine Frau von der gegenüberliegenden Straßenseite! Sie bat uns verschüchterte und durchgefrorene Kinder in ihre Wohnung und gab uns warmen Tee und Brot mit einem eigentümlichen, schwarzen, flüssigen, aber süß schmeckenden Saft (erst später konnten wir ihn als Zuckerrübensirup aus der örtlichen Zuckerfabrik identifizieren). Das Wohnungsdrama löste sich derart, dass uns schon bei voller Dunkelheit wieder ein Pferdegespannfahrer auflud und in die eben genannte Zuckerfabrik abtransportierte. Dort brachte man uns im Speisesaal der Belegschaft unter und wir schliefen auf Tischen, Stühlen und auf dem Fußboden. Da der Saal auch tagtäglich von der Belegschaft benutzt wurde und wir zwei-drei Tage dort zubringen mussten, hatten wir wieder genügend Gaffer.

Nach Tagen bekamen wir endlich eine Unterkunft: Zwei kleine Räume von insgesamt 12 Quadratmetern für vier Personen! (Nur zum Vergleich: Aktuell stehen laut BGH-Urteil Flüchtlingsfamilien mit vier Personen in Deutschland bis zu 95 Quadratmeter Wohnraum zu, der staatlich, einschließlich Heizkosten, finanziert wird!) Notdürftig erhielten oder erbettelten wir von Bewohnern ein paar alte Möbelstücke und zwei Betten und richteten uns einigermaßen überlebensfähig (anders kann man es nicht nennen) ein. Nur zur Verdeutlichung: Wir fanden uns nach diesen dramatischen Wochen wieder in zwei winzigen Räumen (insgesamt 12 Quadratmeter), hatten im ersten Zimmer einen Küchenherd (als einzige Heizungsmöglichkeit), ein altes Sofa unterm Fenster (worauf ich nachts schlief), einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und nebenan im zweiten Zimmer zwei Betten, worin meine Eltern mit meinem fünfjährigen Bruder schliefen und einen kleinen Kleiderschrank, wobei beide Zimmer mit zwei Türen und drei Fenstern das Aufstellen von Unterbringungsgegenständen weiter beschränkten. Das sogenannte „Plumps-Klo” war auf dem Hof für mehrere Mieter, ebenso der Waschhausschuppen, wo wir wie andere Wasser holen und unsere Briketts stapeln mussten, die beim Wasserholen bestimmter Mieter des Hauses immer dahinschrumpften, – aber wir war ja die diebischen Zigeuner!

Weil es hier gut her passt, will ich es nicht unerwähnt lassen: Wir hatten über diese schreckliche Zeit Räucherware (Wurst, Speck und Schinken) aus der alten Heimat hinweggerettet, die wir in unserer Enge im einen der beiden Nordfenster aufhängten, das wir mit Zeitungspapier notdürftig abgedunkelt hatten. Eines Tages erschienen zwei Polizisten und beriefen sich auf eine Anzeige, dass wir Fleischwaren im Fenster hätten, die wir (natürlich die „Zigeuner”) gestohlen hätten. Mit viel Mühe und Not sowie einer kleinen Kostprobe (klappt immer!) konnten wir unsere Fleischwaren behalten, die damals mehr Wert hatten als Gold und Geld. Solche Vorkommnisse bezeugen aber nur, welche gesellschaftliche Position wir in unserer neuen Umgebung einnahmen.

Als eines Tages unser katholischer Pfarrer seinem neuen jungen Messdiener zu Hause einen Besuch abstattete, war er sichtlich erschrocken und berührt über unsere Wohn- und Lebenssituation, mit dem Ergebnis, dass ich nach der täglichen Morgenmesse wiederholt zum Frühstück beim Pfarrer eingeladen wurde. Auch von den sogenannten Care-Paketen, die ständig im Pfarrhaus eingingen, fiel hin und an einiges ab.

Noch eine Episode zur Verdeutlichung unserer Lebenssituation will ich hier noch einfügen. Irgendein mitfühlender Lützener schenkte uns ein Kaninchen („Häsin”) mit ca. sechs-acht ganz jungen, niedlichen „Häschen”. In unserer Notsituation kam als Unterbringungsmöglichkeit nur eine Holzkiste neben dem warmen Küchenherd in Frage. So „wohnte” in dieser Enge noch eine Kaninchendame mit ihren Jungen bei uns. Ich wurde nun tagtäglich ausgeschickt, im Straßengraben der F87 (heute B87) nach Leipzig, heimlich, – da ja selbst dieser verpachtet war -, Gras zu rupfen für unsere „Viehhaltung” – für Tiere, die wir in Isszimmer gar nicht kannten. Als die „Kaninchenmutti” auch noch verstarb, versuchten wir mit kleinen Fläschchen mit Nuckeln (ursprünglich mit Liebensperlen gefüllt) die bedauernswerten „Waisenkinder” am Leben zu erhalten. Aber Tag für Tag trugen wir mit traurigem Herzen – besonders wir Kinder – Eines nach dem Anderen „zu Grabe”. Der kleinste „Hopser” lebte noch am längsten und fand sich eines Frühmorgens bei mir Wärme und Nähe suchend in meinem „Sofabett”. Alsbald begruben wir mit Tränen in den Augen auch ihn – so endete unsere „Tierhaltung” für die nächsten Jahre sehr traurig.

Welch erbärmlicher elendiger Absturz, nachdem uns in Ungarn Haus und Hof mit allem Vieh und Inventar einfach weggenommen, ja geraubt wurde, vertrieben (nicht geflohen) in diese Not, in dieses Elend – was für eine menschliche Tragödie, vielleicht kann man sie jetzt ein wenig nachfühlen, zumal wir in dieser Enge sogar noch fünf Jahre (!) leben mussten!

Hierher passt auch das verängstigende Erlebnis, das wir unter ungefähr acht Kindern aus Isszimmer machten, als wir unseren ersten gemeinsamen Stadtrundgang machen wollten. Im Nu hatten wir eine Horde johlender, pöbelnder einheimischer Kinder hinter uns, die uns förmlich durch die Straßen hetzten, bis uns endlich vom Bahnhof in Gruppen kommende Schichtarbeiter befreiten.

Mit diesen eindrucksvollen Beispielen will ich verdeutlichen, gegen welche Vorurteile und Hindernisse wir bei unserer Ankunft in unserer neuen Umgebung anzukämpfen hatten. Nicht nur der Verlust unserer Heimat, unseres Hab und Guts tat weh, sondern auch die Not und die Ablehnung bis hin zur Diskriminierung, die uns in der neuen, so fremden Umgebung entgegenschlug. Hier zu bestehen, die neuen Herausforderungen anzunehmen, war für Groß und Klein, für Erwachsene wie Kinder der schwere, aber einzige mögliche Weg, den wir gehen mussten.

Aber wir wären keine echten Isszimmerer mit dem Pioniergeist unserer Ahnen gewesen, hätten wir diese Herausforderungen nicht mit verbissener Zähigkeit, gegenseitiger Hilfe und eigener Selbstlosigkeit entschieden angenommen – was ich im nächsten Teil (Teil 4) aus meinen Erinnerungen darstellen möchte.

Doch kann ich in einer heutigen kühlen Nachbetrachtung zu unserer Vertreibung nicht unerwähnt lassen, dass uns wohl Leid und Unrecht zugefügt wurde, aber die Jahre des langsamen und unentwegten Niedergangs Isszimmers durch Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Brandmarkung als „Kulaken” unter der stalinistischen Diktatur Rákosis, der Zerfall der ungarndeutschen Tradition (siehe Teil 1), die Landflucht der Jugend und der Verlust unserer deutschen Identität sind uns letztendlich erspart geblieben, – ebenso die so schmerzliche Veränderung, dass Isszimmer heute (siehe Teil 5) als ungarndeutsches Dorf unkenntlich gemacht worden ist. Ob ich selbst als Sohn eines „Kulaken” die Chance zur persönlichen Entwicklung in Ungarn so wie hier in Deutschland gehabt hätte (siehe nachfolgenden Teil 4!), ist wohl hypothetisch, aber zumindest zweifelhaft.

Ob sich Ungarn durch diese Vertreibung der „Schwaben” nicht mehr geschadet als genutzt hat, wird sicherlich immer unstrittiger, – nur schön für Ungarn ist es aber, dass dieser so geschmähte Volksstamm doch noch zahlreich, meist wohl assimiliert, im Lande verblieben ist und auch nach dem gesellschaftlichen Umsturz nach 1989 meist Ungarn treu geblieben ist – ganz im Gegensatz zu mancher deutschstämmigen Bevölkerung in anderen südosteuropäischen Nachbarstaaten.

Allein schon daran kann der letzte „Schwabenfeind” erkennen, wie ungarntreu dieser so missverstandene und unwürdig behandelte Volksstamm ist und immer war.

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Suchanzeige – neuester Stand der Ahnenforschung (24. 2. 2023)

Franziscus Xaverius Angele, der Stammvater aller Angele/i von Isszimmer/Isztimér, wurde am 06. 11. 1730 in Sulmingen bei Biberach geboren. Als Eltern sind Joannes Georgius Angele und Catharina Nüsser/Niesser im Kirchenbuch angegeben. Deren Heirat und sonstige Daten konnten im Ursprungsgebiet aller Angele/i bisher nicht gefunden werden, vor allem die Anbindung an die dortigen bis 1405 dokumentierten 16 Angele-Hauptstämme des Risstales. Erbitte Hinweise unter johannes-angeli@gmx.de.

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