Eine Selbstverständlichkeit von früher, die bei einigen immer noch eine ist
Von Richard Guth
Das Sonntagsblatt beschäftigt sich seit seiner Neugründung im Jahre 1993 in besonderer Weise mit der sprachlichen Situation der deutschen Minderheit in Ungarn. Die negativen Tendenzen, die seit Jahrzehnten zu beobachten sind, haben sich seit der Wende nur verstärkt: Es gibt kaum noch Familien, in denen Deutsch Familiensprache ist, die Mundart wird nicht mehr von der Großelterngeneration an die Enkelgeneration weitergegeben, was früher (noch bis in die achtziger Jahre) vielerorts üblich war. Die Kindergärten und Schulen vermögen es nicht, die verlorene Muttersprache wiederzubeleben, trotz wahrnehmbarer Verbesserungen auf dem Gebiet des Deutschunterrichts seit der Wendezeit – Verbesserungen, denn einen Durchbruch (starke und flächendeckende zwei- oder einsprachige Angebote, funktionale Bestimmung der deutschen Sprache außerhalb des methodisch weitgehend einem Fremdsprachenunterricht ähnelnden Deutschunterrichts in Form einer Verkehrssprache in der innerschulischen Kommunikation) kann man nicht verzeichnen. So gewinnen selbst Ausländer oder Wahlungarndeutsche, wie neulich der Filmemacher Udo Pörschke aus Franken, den Eindruck, als existiere Deutsch (oder eine der Mundarten) als Muttersprache unter den Ungarndeutschen nicht mehr.
Dass dem nicht so ist, zeigt das Beispiel von Theresia Keszler aus Nadasch/Mecseknádasd. Die 63-jährige pensionierte Kindergärtnerin, deren Vorfahren nach den Türkenkriegen aus dem unterfränkischen Frammersbach (an der bayerisch-hessischen Staatsgrenze) nach Ungarn kamen, wuchs in ihrer Kindheit noch in diese „kleine deutsch(sprachig)e Welt” hinein: „Als ich jung war, sprachen 80 % der Nadascher, nein, sogar mehr, Deutsch, besser gesagt, Unterfränkisch miteinander. Ich selbst habe erst im Kindergarten Ungarisch gelernt – ein allbekanntes Muster, das sich deutlich von Sozialisierungserfahrungen der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen (oder Madjaren) unterschied beziehungsweise unterscheidet. „Damals kamen alle Kindergärtnerinnen von außerhalb und sprachen kein Deutsch. Das bedeutete für mich einen deutlichen Bruch”, so Keszler. In der Schule hatte Theresia Keszler zwar zwei-drei Stunden Deutsch, „in der nullten oder letzten Stunde”, was nach Keszlers Angaben wohl auch praktische Gründe hatte, da nicht jeder Schüler am Deutschunterricht teilnahm. In Erinnerung geblieben ist ihr eine ihrer Deutschlehrerinnen, eine Madjarin, die die Kinder stets verbesserte, wenn sie Mundartwendungen benutzten. Damals gab es nach Erinnerungen der Kindergärtnerin kaum Zugezogene, „Sekler schon gar nicht”, dagegen einige aus dem ehemaligen Oberungarn, und viele der Zugezogenen waren nach Angaben Keszlers gezwungen, Deutsch zu lernen, wenn sie sich im Dorf integrieren wollten. Besonders in Erinnerung geblieben sind Keszler die Kinder aus dem nahe gelegenen Ofala/Ófalu, wo eine ganz andere Mundart gesprochen wird: „Früher hatte man in Ofala eine eigene Schule und es gab auch keine befestigte Straße. Das Dorf war abgeschottet von der Außenwelt.” Später fanden Kinder nach der Auflösung der eigenen Schule in der Nadascher Aufnahme und sprachen nach Erinnerungen von Theresia Keszler noch in den Achtzigern deutsch untereinander.
Seitdem hat sich die Welt auch in Nadasch verändert: „Die Zahl der Kinder, mit denen die Eltern Deutsch gesprochen haben, nahm von Jahr zu Jahr ab – früher gab es doch Kinder, mit den die Eltern bis zum Eintritt in den Kindergarten ostfränkisch gesprochen haben. Aber danach hörten sie auf und fingen an ungarisch zu sprechen.” Nach Erinnerungen der Kindergärtnerin konnte man bis 1994, als der Kindergarten in ein neues Gebäude gezogen ist, „noch viel erreichen”, denn viele Kinder verstanden damals nach ihren Angaben noch Deutsch. „Die letzten zehn Jahre waren aber schwer – ich musste selbst Großeltern ansprechen, von denen ich wusste, dass sie Deutsch können, mit ihren Enkeln deutsch zu sprechen”, so Keszler, die vor vier Jahren in Rente ging. Auch der Einzugsbereich des Kindergartens ist in der Zwischenzeit größer geworden: Neben Nadaschern werden Kinder aus Warasch/Apátvarasd, Hidasch/Hidas und Bonnhard/Bonyhád gemeinsam von madjarisch- und deutschstämmigen Erzieherinnen betreut. Wie früher, so gebe es gegenwärtig wieder keine Kindergärtnerinnen aus Nadasch (die Pflegerinnen sind hingegen alle aus Nadasch und sprechen die Mundart), aber sie würden sich bemühen, zumal sie wissen, wie schwer es ist, wenn Kinder kein Deutsch verstehen. Auch die Bevölkerung habe sich verändert: Es gebe viel mehr Zugezogene als früher, aber auch „viele Ausgezogene: Über die Hälfte der jüngeren Nadascher, so meine Schätzungen, leben nicht mehr in Nadasch, viele – hauptsächlich die mit Hochschulabschluss – in Budapest. Aber mittlerweile leben auch viele in Deutschland oder Österreich”, so Theresia Keszler.
Auch gebe es viele Mischehen: „Auch meine Kinder sind in einer Mischehe aufgewachsen. Übrigens die erste in meiner Familie. Ich sprach mit den Töchtern aber stets deutsch.” Die ältere Tochter ist mit einem Spanier verheiratet und lebt in Andalusien. Die beiden haben einen dreijährigen Sohn, Familiensprache ist nach Keszler Deutsch: „Mein Schwiegersohn hat ein Jahr in München verbracht, um Deutsch zu lernen. Nun wird in der Familie deutsch gesprochen.” Bei den Überlegungen spielte auch der Status von Deutsch als Weltsprache eine Rolle, so Keszler. Bei der anderen Tochter, die mit ihrem madjarischen Mann in Budapest lebt, sehe es ähnlich aus: Die dreifache Mutter spricht nach Keszlers Angaben mit den Kindern Deutsch, was zur Folge hätte, dass sie sich beim Spielen der deutschen Sprache bedienen würden. Schwierigkeiten bereite das schulische Umfeld, denn der älteste Sohn besucht eine konfessionelle, nichtzweisprachige Schule. Dennoch spricht der Junge weiterhin fließend Deutsch und würde auch von der Oma, Theresia Keszler, spielerisch an die deutsche Schriftsprache herangeführt. Bei ihren Töchtern, insbesondere bei der ältesten, habe die Schule eine wichtige Rolle gespielt: „Beide haben die zweisprachige Klasse in Nadasch besucht. Bei meiner ältesten Tochter hat die Klassenlehrerin Wert darauf gelegt, auch auf dem Schulhof und der Straße Deutsch zu sprechen. Bei meiner jüngeren Tochter war das nicht mehr der Fall.” Beide besuchten im Anschluss das heutige Valeria-Koch-Schulzentrum. Heute gebe es aufgrund des Rückgangs der Schülerzahlen keine getrennten Klassen mehr in Nadasch, die Kinder kämen aus insgesamt fünf Orten, viele von ihnen hätten keine Bezüge mehr zum Deutschtum.
Nicht nur in der Familie bemühte sich die in Budapest lebende Tochter um die Weitergabe der deutschen Sprache: Aber mit ihrem Vorhaben, am Beispiel der Fünfkirchner VUK-Initiative auch in Budapest eine deutschsprachige Krippe mit musikalischem Schwerpunkt zu gründen, ist sie vorerst gescheitert. „Großstadt ist doch Großstadt, mit weiten Wegen”, so Keszler.
Das Beispiel der Familie Keszler scheint eine Ausnahme zu sein. Aber wie es so schön heißt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Und noch etwas: Es ist nie zu spät, verloren Geglaubtes wiederzuentdecken, so auch die Sprache der Ahnen. Denn, wie das Beispiel der Familie zeigt, primäre sprachliche Sozialisation findet in den Familien statt.
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