SB-Redakteur Armin Stein im Gespräch
mit dem ungarndeutschen Philosophen Johann Weiss
SB: Johann, Du bist 1957 in Sier/Szűr, einem kleinen, ungarndeutschen Dorf in der Nähe von Mohatsch geboren. Wie habt ihr zu Hause gesprochen? Wie ist der Sierer Dialekt? Wie wurde mit der ungarndeutschen Identität in deiner Familie umgegangen? Wo hast du Ungarisch gelernt?
JW: Als ich ein Kind war, ist nicht nur bei uns in der Familie, sondern fast im ganzen Dorf Deutsch gesprochen worden. Es gab zwar einige „telepes“ (Neusiedler-) Familien und „telepes“ Kinder, zu denen haben wir aber kaum Kontakte gehabt. Die Eltern konnten schon ein bisschen Ungarisch, sie haben es nach dem Krieg gelernt, meine Mutter, als sie in Fünfkirchen „gedient“ hat, und mein Vater, als er westlich von Fünfkirchen in den „ungarischen Dörfern“, wie er zeitlebens gesagt hat, schon als Kind arbeiten musste. Über den Sierer Dialekt kann ich wenig Wissenschaftliches sagen; auf jeden Fall muss er aus der Umgebung von Fulda stammen und ist hier in Ungarn in drei Dörfern gesprochen worden, außer in Sier in Niemersch/Hímesháza und in Mutsching/Mucsi in der Tolnau. Es gibt viele Diphtonge. … Die Identität war eine Selbstverständlichkeit, sie war nicht musealisiert. Am Anfang ist weniger, dann aber immer mehr vom „Früher“ gesprochen worden, von der Kriegs- und der Nachkriegszeit, von der Aussiedlung, vom Volksbund, von der Verantwortung, über die Funktionäre des Volksbundes, über die Leute, die bei der Aussiedlung mitgewirkt haben … Ungarisch habe ich ein bisschen vor der Schule gelernt, als ich in Fünfkirchen im Krankenhaus lag, und dann in der Schule, – da war es ein Zwang.
SB: 1972 hast du die Mittelschule für Handel in Fünfkirchen begonnen. Fiel dir der Wechsel aus dem kleinen Dorf in die Großstadt schwer? War dein ungarndeutscher Hintergrund eher von Vor- oder Nachteil während deiner Jahre in der Mittelschule?
JW: Der Wechsel hat mir eigentlich nicht so viel ausgemacht, weil ich wegen meiner Krankheit schon viel in Fünfkirchen war und ich habe mich dort gut ausgekannt. Ich war in einem Internat, das war schrecklich, aber sonst habe ich mich da sehr gut gefühlt; ich war sehr gut in der Schule und habe ziemlich gut Fußball gespielt. Das waren die letzten Blütejahre der Fachmittelschulen: Ich habe eine Ungarischlehrerin gehabt, die unmittelbar nach dem Krieg bei dem weltberühmten Philosophen Georg Lukács studiert hat, einen Sportlehrer, der eine olympische Bronzemedaille gewonnen hat, und einen ausgezeichneten Mathelehrer, der schon in der Rente war und früher an der Hochschule gearbeitet hatte… Diese Zeit bedeutete aber einen großen Schritt in die Richtung der Assimilation. Wir haben nur noch ungarisch gesprochen, es hat mich überhaupt nicht mehr interessiert, wer deutsch ist und wer nicht. Es gab kleinere oder größere Belästigungen: Meine Lehrerin, der ich übrigens sehr viel zu verdanken habe, hat uns öfter vorgeworfen, wir werden nie ordentlich ungarisch sprechen können. Es ergab sich einmal, dass ich die Festrede für den 15. März schreiben musste, – es ist mir aber nicht wirklich gut gelungen. Und dann kam die Behauptung, fast wie eine Entschuldigung: Sie habe nicht daran gedacht, dass ich mich mit diesem Fest identifizieren könnte. … aber von einer systematischen Benachteiligung kann man nicht sprechen. Vorteil ein Deutscher zu sein war es aber auf keinem Fall.
SB: Nach dem Abschluss der Mittelschule hast du Wirtschafswissenschaften in Fünfkirchen und Philosophie in Budapest studiert. Wie kam es zu diesen beiden Fachbereichen? Was hat dich dazu bewegt nach dem Abschluss in Ökonomie noch einmal Student zu werden? An welcher der beiden Universitäten hast du dich wohler gefühlt?
JW: Die Frage scheint einfach zu sein, ist aber gar nicht so einfach. Zu meiner Zeit sind nur sechs Prozent von einer Generation zum Studium zugelassen worden, man musste da schon sehr gut sein. Ich war Schüler an einer Fachmittelschule für Handel, was soll man von da ausgehend studieren können. Anfang der siebziger Jahre ist in Fünfkirchen die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität gegründet worden. Studenten sind in unsere Schule gekommen, sie haben Schüler rekrutiert, es gab Vorbereitungskurse. Das hat mich total fasziniert, ich habe da, als 17- und 18-Jähriger mit großer Begeisterung teilgenommen. Da habe ich meine ersten Wettbewerbe in Mathe gewonnen usw. … Meine Eltern haben immer gesagt, es ist ganz egal, was ihr studiert – ich habe einen Bruder, der Mathe-Professor in Budapest ist-, nur mit dem Deutschtum darf es nichts zu tun haben. Schon in den ersten Wochen an der Uni habe ich es bemerkt, dass das Ganze an mir vorbeigeht, vorbeigehen wird. Formal habe ich aber sehr gut gelernt, war in einem Mathe-Spezialkurs, das ging so. Ich war ungefähr 20 Jahre alt, als mir schon klar war, dass ich mich am liebsten mit der Philosophie beschäftigen möchte. Ich habe in Wirtschaft einen Abschluss gemacht, es war aber nicht möglich zu dieser Zeit ein zweites Studium zu machen. Das will ich jetzt aber nicht ausführen. … In Fünfkirchen war ich richtig Student, obwohl ich mich sehr zurückgezogen habe, und habe sehr viel gelesen und allerlei Sachen studiert, auch die ganzen Sommer durch, jeden Tag 14 Stunden netto. In Budapest war es anders, man konnte sich wundern: Meine Lehrer schrieben Bücher.
SB: Du warst auch oft in Deutschland. Was war die Motivation dafür deine wissenschaftliche Arbeit in der Bundesrepublik weiterzuführen? Wie war dein Eindruck von Deutschland, aus der Perspektive deiner Identität. Hat man dich als Ungarndeutschen wahrgenommen oder warst du “Magyare” in Deutschland?
JW: Ich habe in Ungarn in den 80ern ständig große Probleme gehabt. Ich war arbeitslos, was zu dieser Zeit strafbar war, dann kam die Umgestaltung der Pädagogischen Hochschule zu einer Universität, es sollte sogar eine Philosophische Fakultät geben. Da bin ich aber nicht genommen worden, weil ich nie in der Partei, aber auch nicht in den Jugendorganisationen drin war. Es gehört zur Wahrheit, dass ich kaum gefragt wurde, weil ich überall rechtzeitig erzählt habe, dass die Hälfte meiner Familie mütterlicherseits in den russischen Arbeitslagern umgekommen ist. Sagen wir so, Mitte der 80er, nach dem Zweitstudium, waren für mich in Ungarn wieder alle Tore zu. Ich musste gehen. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich das organisiert habe, was wiederum sehr abenteuerlich war, heute kaum noch vorstellbar. Anfang 1988 habe ich dann mit einem PhD-Studium bei Prof. Jürgen Habermas begonnen… Deutschland, die deutsche Universität hat eine große Herausforderung für mich bedeutet. In Ungarn gab es keine Bücher, beim Lehrstoff hinkte man 50-70 Jahre hinterher. Ich musste sehr angestrengt arbeiten, praktisch Tag und Nacht. … Ich bin als Auslandsdeutscher akzeptiert worden; aber dazu musste ich ständig sagen, ich komme zwar aus Ungarn, bin aber kein Ungar, sprich „Madjare“, meine Großeltern (die väterlicherseits zu dieser Zeit noch lebten), können nicht einmal ungarisch sprechen usw. … Im Frühjahr 1988 ist einmal Ágnes Heller zu einem Gasvortrag aus New York nach Frankfurt gekommen, dort habe ich sie kennen gelernt. Wir haben uns unterhalten und sie hat mich nicht gefragt: „Sind sie ein Madjare?“, sondern „kommen Sie aus Ungarn?“ Dafür war ich sehr dankbar und sie wurde zu einer meiner besten Freundinnen..
SB: Laut deiner Biografie beschäftigst du dich mit der Frankfurter Schule. Kannst du unseren Lesern erklären, was das bedeutet? Welche sind die Themenfelder, die dir am meisten am Herzen liegen?
JW: Die Frankfurter Schule ist eine philosophische-sozialwissenschaftliche Schule, die in den 1920er/1930er Jahren gegründet wurde. Deren Zentrum war das Institut für Sozialforschung, das bis heute existiert. Ursprünglich ging es darum, was eine „kritische Haltung“ gegenüber der Gesellschaft bedeutet und wie eine solche möglich ist. Welche gesellschaftlichen und kognitiven Bedingungen gibt es dafür? Warum schwindet die „kritische Haltung“ in den zwanziger Jahren und hängt das mit der Entstehung des Nationalsozialismus zusammen? Auf jeden Fall ist das Stichwort der Schule die „kritische Theorie“. … Diese Theorie hat dann ihre Blütenzeit in den Sechzigern, in den Jahren der Studentenbewegung gehabt. Später kamen eine zweite und dann noch eine dritte Generation dazu, immer mit großangelegten theoretischen Programmen. Die Frage blieb aber gleich: Wie ist eine kritische Theorie als menschliches Verhalten möglich? Und wie kann so ein Verhalten gefördert werden?
SB: Welchen Einfluss hat deine Identität auf deine Arbeit? Kann man Identität von der Arbeit als Philosoph trennen oder ist sie ein inseparabler Teil dieser?
JW: Die Geisteswissenschaften haben immer einen intensiveren Bezug zur eigenen Persönlichkeit als die Naturwissenschaften. Wenn hinter meiner Arbeit, meinen Vorlesungen, Vorträgen, Büchern eine gewisse Identität steckt, dann ist es eine deutsche und keine ungarndeutsche Identität.
SB: Du unterrichtest an der Universität in Fünfkirchen, bist Redaktionsmitglied der “Ungarischen Philosophischen Rundschau” (Magyar Filozófiai Szemle), du hast bereits 20 Doktoranden betreut und warst auch Vorsitzender der „Ungarischen Philosophischen Gesellschaft“ (Magyar Filozófiai Társaság), du bist Professor und übersetzt auch Werke aus dem Deutschen ins Ungarische. Bei so vielen Tätigkeiten stellt sich mir die Frage, was du als dein Lebenswerk bezeichnen würdest? Welche sind die Themen und Aufgaben, die dich am meisten motivieren?
JW: Von denen sind nicht alle Funktionen wichtig. Es scheint zwar viel zu sein, aber am liebsten sitze ich an meinem Schreibtisch und lese, so ganz frei. Zu lesen ist am schönsten, wenn man kein bestimmtes Ziel hat, wenn man nicht unbedingt damit etwas anfangen will, wenn man sich in der Lektüre ganz frei fühlt. Ich will jetzt nicht über meine Forschungsergebnisse sprechen, ich meine, ich bin noch nicht so alt, dass ich ein Bild haben muss über mein eigenes „Lebenswerk“. Was für mich immer wichtig war, war ein gewisser Habitus: Man muss immer etwas davon lernen. An der Uni sind nicht Lehrende und Lernende, sondern es müssten eigentlich Lernprozesse stattfinden. Das kann viel Spaß machen, ich habe in dieser Hinsicht Glück gehabt und habe sehr viel von meinen Studenten gelernt – wahrscheinlich mehr als sie von mir. Aber wenn ich doch etwas Konkretes sagen müsste, wäre es, dass ich immer so spreche und schreibe, als ob ich gar nicht hier, sondern in einem ganz anderen Kontext stehen würde. Im Unterricht spreche ich zwar ungarisch, es geht aber immer um deutsche Bücher, Gedanken und Kultur. Das gilt auch, wenn ich meine Aufsätze und Bücher schreibe und wenn ich meine Vorträge halte.
SB: Als Philosoph ist Belesenheit ein Muss. Welche Werke haben dein Weltbild am meisten beeinflusst? Gibt es Bücher, die du unseren Lesern empfehlen würdest?
JW: Historisch gesehen habe ich eigentlich zwei Forschungsschwerpunkte: den deutschen Idealismus (eigentlich die nachkantische Philosophie) und die Frankfurter Schule. Mit 18 habe ich zum ersten Mal von Hegel die Phänomenologie des Geistes gelesen und gar nichts verstanden, aber ich wusste, wenn ich das verstehen würde, wäre ich so klug, wie ich gerne sein möchte. Mein zweiter großer Denker war Theodor W. Adorno, von dem die ersten Texte kurz nach seinem Tod Anfang der 70er Jahre auf Ungarisch erschienen sind. Mein dritter großer Denker war dann Jürgen Habermas, der später mein Doktorvater wurde und mit dem ich bis heute in Kontakt stehe.
SB: Wie siehst du die Lage des Ungarndeutschtums? Gibt es eine ungarndeutsche Zukunft? Falls ja, wie sieht diese aus?
JW: Die Lage ist so traurig, wie sie noch nie war. Die Sprache ist verschwunden, die Identität zerbröckelt: Wir leiden auch an der typischen ungarischen Unfähigkeit das beste Führungspersonal zu finden. Schon im 19. Jahrhundert bedeutete die Bildung so viel, wie die eigene Gruppe zu verlassen. Ich habe fast mein ganzes Leben in dieser Dorfgemeinschaft verbracht, habe bis zum Tod meiner Eltern aktiv die Mundart gesprochen. Ich habe mich aber immer geweigert irgendwelche Funktionen zu übernehmen (wobei ich auch nie gebeten wurde): Ich war nie Berufsungarndeutscher… Ob es eine Zukunft gibt? Wenn es so weitergeht, dann nicht! Ganz einfach gesagt, es gibt Prozesse der Modernisierung, die gefährden schon an sich die Minderheitsidentitäten, und wenn da noch eine nationalistisch geprägte Politik und Kulturpolitik dazu kommt, dann ist fast alles so gut wie ganz verloren. Für einzelne Leute gibt es da ziemlich wenig Spielraum, weil diese Momente auf einer politischen Ebene entschieden werden.
SB: Als Schlussfrage erlaube mir bitte dich zu fragen, welche Ratschläge du für die junge Generation hast?
JW: Für eine ganze Generation hätte ich wahrscheinlich keine Ratschläge, für einzelne Personen nur so viel, dass sie ausharren sollen. Die ungarndeutsche Identität konnte sich nach dem Weltkrieg durch die Erinnerung an die Schicksalsschläge aufrechterhalten. Diese Erinnerung ist aber privat geblieben, ist kulturell kaum vermittelt worden. Es gab auch die Bedingungen nicht dazu. Doch konnte sie ein wenig die Auswirkungen der Modernisierung und der ungarischen nationalistischen Kultur- und Identitätspolitiken bremsen. Als eine Generation nach der anderen kam, hat diese kulturelle Vermittlung immer mehr gefehlt. Man muss auf jeden Fall von vorne anfangen, es gibt zahlreiche Generationen, für die die kollektiven Schicksalsschläge nichts mehr oder kaum noch etwas bedeuten. Es ist schwer auszusprechen: Ich bin skeptisch, dass so ein Potential für eine Regeneration noch vorhanden ist.
SB: Johann, vielen Dank für das Gespräch!
Bildquelle:https://www.youtube.com/watch?v=eWXAedQQr-M,PTE Szabadegyetem, 2021.05.17