Von Richard Guth
Am 22. Dezember gedachte die deutsche Gemeinschaft einer schicksalsträchtigen Regierungsverordnung – erlassen 75 Jahre zuvor -, die das Schicksal der Deutschen besiegelte. Anlässlich dieses Jahrestages widmete sich das von uns bereits mehrfach zitierte Internetportal Azonnali diesem Ereignis – der Beitrag selbst enthielt interessante Details, wenngleich der Autor gerade bei der Frage der Verantwortung der ungarischen Politik zu ungenau formulierte und den Eindruck hinterließ, als würde der Geist des Potsdamer Diktats bald wieder auferstehen. Eine erstaunlich rege Diskussion entwickelte sich unter dem auch im Facebook veröffentlichten Beitrag – dabei fiel mir dieser Eintrag besonders auf:
„Familiengeschichten”
Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war Schwäbin aus der Nähe von Sexard, so wie ihr Mann mit dem Namen Bőhm (Böhm). Sie gebar ihm zwei Mädchen, meine Oma Maria und ihre kleine Schwester Eva. Sie waren blond, blauäugig und fleißig, mit langweiligem Humor, denke ich, so wie die Schwaben allgemein.
Als 1938 der Volksbund der Deutschen in Ungarn gegründet wurde, hat meine Urgroßmutter, wahrlich ein Dickschädel, einen Schuss bekommen, weil sie an ihrem Haus die ungarische Fahne gehisst hat, obwohl sie angeblich kein Wort Ungarisch sprach. Auf die Frage der Nachbarn hin („Was ist los, bist du verrückt?”) entgegnete sie der Familienlegende nach schlicht: „Ungarn ist mein Zuhause.” Im Übrigen lässt diese unpraktische Handlung darauf schließen, dass in der Familie sie die Hose anhatte, was nicht verwunderlich ist, weil die paar Morgen Tolnauer Bodenbesitz, die mein Uropa bestellte, ihr Erbe waren.
Das Amt für Volksfürsorge (Népgondozó Hivatal), das zwecks Vertreibung der „kollektiv Schuldigen” aufgestellt wurde (Leiter war József Antall sen.), entzog 200.000 Menschen deutscher Nationalität die ungarische Staatsbürgerschaft, beschlagnahmte ihren Besitz und trieb sie nach Deutschland, das in Trümmern lag. Gemäß der Durchführungsverordnung zur Vertreibung 70.010/1946 des Innenministeriums des kommunistischen Ressortchefs Imre Nagy wurde auch die Verwandtschaft meiner Bőhm-Uroma in die Waggons verladen.
Es stellt sich daher die berechtigte Frage: Was habe ich denn hier überhaupt verloren? Die Antwort ist recht simpel: Die Komitats”volksfürsorger” haben sich noch an die Fahnenaktion meiner Uroma aus dem Jahre 1938 erinnert, deswegen schafften sie sie nicht außer Landes. Ganz im Gegenteil! Während der ersten Welle der Kollektivierung, irgendwann um 1950, erhielt sie, nachdem man ihr den Tolnauer Grundbesitz wegnahm, in Wudersch, auf dem Frankberg vier Morgen Ziegenweide, gewissermaßen als Kompensation, was sich aber als landwirtschaftlich nutzlos erwies. Die Weide gehörte einst dem schwäbischen Schuldirektor von Wudersch, der auch nicht gerade glimpflich davonkam. Seine Nachkommen, falls es welche gibt, könnten wegen des erlittenen Unrechts zusammen mit meinen Uronkeln und -tanten über die Madjaren schimpfen, zwischen zwei Heineken, unter dem Motto „Scheiße!”, während sie Fortuna Köln die Daumen drücken, jedenfalls, wenn sie Fußball mögen.
Meine Uroma mütterlicherseits war weder ein Nazi noch eine Kommunistin, bloß eine einfache, bodenständige Frau, deren Nachbarn 1938 sie für verrückt hielten und die so loyal war, dass sie die ungarische Fahne hisste, obwohl sie die Sprache nicht beherrschte, weswegen sie dann nicht in die Nähe von Köln vertrieben wurde wie ihre Geschwister und die gegen den Bodenbesitz, der den Lebensunterhalt sicherte, eine Ziegenweide erhielt, und deren selbstzerstörerische Gene ich in mir trage, die ich dann mit dem sturen Festhalten und dem geerbten Teilgrundstück weitergeben werde.
Es ist ihr zu verdanken, dass meine Familie „Kleingrundbesitzer” in Wudersch wurde und ich ein Mischling, der nicht Politikern, Parteien und Ideologien gegenüber loyal ist, sondern seiner Heimat.”
Soweit der Facebook-Eintrag eines Wuderschers, der nach eigenem Bekunden infolge einer heftigen aktualpolitischen Diskussion im Facebook entstand, als seine Vaterlandstreue als bekennender „Liberaler” in Frage gestellt wurde! Auch wenn Patriotismus und Bekenntnis zur eigenen Herkunft – zum „deutschen Volk” in Ungarn – einander nie wirklich ausgeschlossen haben (siehe Bleyers Konzept!), erscheint dieser Eintrag dennoch als bemerkenswert: der Lebensweg der deutschen Urgroßmutter aus der Tolnau, die in einer einst deutschen Gemeinde in der Nähe der ungarischen Hauptstadt eine neue Heimat fand. Nimród Vadas heißt der Urenkel – der Name ist dabei ein Pseudonym, um die eigene Familie zu schützen -, der sprachlich eloquent diese Gedanken der Öffentlichkeit mitteilte und sich dabei deutscher Wendungen bediente, obwohl er – als zu einem Viertel deutsch – der Sprache der Urgroßmutter nicht mächtig sei. Das deutsche Erbe war und ist für ihn stets im Unterbewusstsein präsent, „auf der Ebene der Genetik”, wie er sagt, und es hat nach eigenem Bekunden seine Identität nie besonders beeinflusst. „Ich habe eine ungarische/madjarische Identität, Ungarisch ist meine Muttersprache und meine Kultur, in Ungarn fühle ich mich zu Hause, das ist meine Vergangenheit”, so der Kommunikationsexperte. So hat er nach eigenen Angaben auch kaum Bezüge zu ungarndeutschen Aktivitäten und zur ungarndeutschen Gegenwart in Wudersch – also einer von Hunderttausenden, wenn nicht Millionen Deutschstämmigen in unserem Lande.