Erinnerungen eines Ungarndeutschen (Teil 2)

Vorwort

So manches kann der Mensch erleben, wenn er über 80 Jahre alt wird, lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten, dann umso mehr. Umso mehr auch, wenn er als Auslanddeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat! Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt: „Ach Papa, bei dir war wenigsten noch was los.” Da konnte ich nur antworten: „Du weißt doch gar nicht, wie glücklich Du sein kannst, in dieser guten neuen Zeit leben zu können.” Keineswegs handelt sich dieser Rückblick – um mit Goethe zu sprechen – um „Dichtung und Wahrheit“, sondern um Wahrheiten aus den „Erinnerungen eines Ungarndeutschen“.

Gern hätte ich mir auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet, aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann, hier den kleinen 10-jährigen Jungen mitgerissen, ob er wollte oder nicht. So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht, vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen.

Wie es mir erging, will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen, eines Jugendlichen, eines Familienvaters und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die, die Ähnliches durchlebt haben, die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien.

Teil 2: Isszimmer im Zweiten Weltkrieg

Die großen Veränderungen, die sich politisch und militärisch in Europa und in der Welt in den Jahren anbahnten, berührten lange nicht das Leben im abgelegenen Dorf Isszimmer. Vielmehr ging das Bestreben der Nationalungarn nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg und dem Trianon-Schock verstärkt in Richtung der Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates der Magyaren, da sich ja durch die großen Gebietsverluste ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung deutlich erhöht hatte (85 %).

Unter den verbliebenen Minderheiten waren die Deutschen mit rund 550.000 Personen weitaus am zahlreichsten. Da aber das Deutschtum besonders durch die bäuerliche Bevölkerung mit ihren selbständigen, traditionsbewussten Bauern verkörpert wurde, machte ihre Magyarisierung erhebliche Schwierigkeiten. Dieser Assimilationsdruck schuf natürlich eine Abwehrhaltung bis Gegenbewegung, die durch Jakob Bleyer und seinen Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein sowie die Wochenzeitung Sonntagsblatt verkörpert wurde.

Erfolge im Schulwesen durch die Schaffung der Schultypen A, B und C, deren Umsetzung aus vielen Gründen erschwert wurde (siehe Teil 1), waren begleitet von vielen Anfeindungen der Nationalisten, die in den Ungarndeutschen Volksverräter und eine latente Gefahr für das Land sahen.

Nach dem Tod des unermüdlichen Kämpfers für das Deutschtum, Jakob Bleyer (1933), kam es zu einem Stillstand, der erst durch die politische Entwicklung in Deutschland und deren Einwirken auf die Auslandsdeutschen eine neue Form annahm. Mit der Schaffung des Volksbundes der Deutschen (1938) war das angestrebte Ziel erreicht. Während es Jakob Bleyer und seinen Getreuen darum ging, wie man als Ungar auch Deutscher sein kann, ging es der Nachfolgergeneration darum, wie man als Deutscher in Ungarn leben kann. Das Ziel war also die Erhaltung des Deutschtums auf breiter Basis. Dass man sich dadurch in eine Zwangslage manövrierte, erkannte man leider zu spät.

Dieser historische Überblick über die Ungarndeutschen vor und im Zweiten Weltkrieg musste sein, um zu verstehen, wie die Deutschen in Isszimmer in diese politischen Ereignisse hineingezogen wurden. Sie hatten eigentlich nur den verständlichen Wunsch, ihr über Jahrhunderte bewahrtes Deutschtum erhalten und pflegen zu können, ohne dem Druck der Magyarisierung ausgesetzt zu sein.

So sind die Deutschen dann mit viel Naivität und hehren Zielen zahlreich der erst im Mai 1941 in Isszimmer gegründeten Ortsgruppe des Volksbundes beigetreten. So sind dann auch mein Großvater als Bürgermeister und brav seine Schwiegersöhne (u. a. mein Vater) mit voller Illusion Mitglieder geworden. Mein Vater hat ein Leben lang mit diesem Beitritt gehadert und geschworen (und es auch gehalten), nie wieder einer Organisation mit seiner Unterschrift beizutreten.

Die eben geschilderten Vorboten waren die ersten Anzeichen der kommenden politischen und militärischen Umwälzung. Zahlreiche Männer von Isszimmer wurden zur ungarischen Armee einberufen, was ihnen auch viel lieber war als womöglich als Deutscher zur Waffen-SS gezwungen zu werden. Auch mein Vater musste in den Krieg ziehen und meine Mutter sehen, wie sie mit mir als Kleinkind und der Bauernwirtschaft, Bauernhof alleine fertig wurde. Hilfe kam vom Großvater und ihren erst später rekrutierten Brüdern.

Vorläufig war der Krieg ja noch weit weg, so dass man im Dorf kaum etwas verspürte. Bis auf diesen schrecklichen Tag 1942, als die Nachricht eintraf, dass meines Vaters Bruder, Dr. Heinrich Angeli, bei Kursk bei einer ärztlichen Hilfeleistung tödlich verwundet worden war. An diesen Trauertag kann ich mich selbst – obwohl erst vier Jahre alt – wegen der weinenden Erwachsenen und dem zurückgesandten Offizierssäbel, der ja für ein Kind besonders beeindruckend war, noch gut erinnern. Schon sein Vater, also mein Großvater, hat als Soldat im Ersten Weltkrieg sein Leben für Ungarn 1916 verloren und die Mutter mit fünf Kindern (ältester Sohn 9 Jahre) und der bäuerlichen Wirtschaft1 allein zurücklassen müssen. Onkel Henry bin ich persönlich besonders verbunden, weil – wie meine Mutter mir berichtete – seine ärztlichen Ratschläge mich als 7-Monatskind (!) und nur von einer Dorfhebamme betreute Hausgeburt wahrscheinlich am Leben erhielten, zusätzlich mit dem nötigen Glück, was man als Sonntagskind und am 2. Weihnachtsfeiertag eben hat.

So richtig erreichten aber uns die Kriegsereignisse in Isszimmer erst 1944/45. Vorher sahen wir nur durch die Dorfstraße ziehende Militär- und Munitionskolonnen. Später kam es doch vereinzelt zu Einquartierungen von deutschen Soldaten.

Ein schreckliches Ereignis hat sich bis heute in meinen Erinnerungen eingegraben. Eines Tages, es muss im Winter 1944 gewesen sein, riefen mich, ca. fünfjährigen Jungen, deutsche Soldaten in unsere Hofscheune und zeigten mir, sich über meine Stockstarre amüsierend, ungefähr fünf nebeneinander liegende und stocksteifgefrorene deutsche Soldatenleichen. Besonders den einen armen Soldaten sehe ich noch eindrucksvoll vor mir, weil sein direkter Kopfschuss an der Stirn so deutlich zu sehen war. Auch ein anderes Ereignis ist mir in trauriger Erinnerung geblieben. Eines Tages erschien ein LKW mit ungarischen Polizisten und luden sogleich zwei ältere Frauen, zwei Geschwister, auf und verschwanden mit ihnen auf Nimmerwiedersehen. Beide hatten vor rund einem Jahr einen kleinen „Tante-Emma-Laden“ aufgemacht, worin ich so gern kleine Einkäufe für meine Mutter erledigte, weil sie sich mit mir, dem kleinen Knirps, immer so nett unterhielten – na, und ein Leckerli fiel dabei auch immer ab! Aus heutiger Sicht gesehen: Selbst das versteckte, kleine Dorf Isszimmer hatte der Holocaust erreicht (siehe auch Kriegsopferliste von Michael Angeli unter Levi, Nr. 34 und 35).

Am Himmel faszinierten uns Kinder die anglo-amerikanischen Bombengeschwader, die weit oben am Himmel als silbrig blinkende Kugeln mit eigenartig tief brummendem Ton immer öfters landein zogen, oftmals begleitet mit meist darunter explodierenden Flugabwehrgranaten. Hie und da stieg ein Jagdflugzeug auf und verwickelte die Begleitjäger des Geschwaders in einen Luftkampf. Für uns Kinder war das natürlich Action Nr. 1, wenn es nicht so traurige Realität gewesen wäre. Es kam auch zu einem Abschuss eines amerikanischen Bombers, der unweit Isszimmers in den Feldern niederging. Die Piloten verbrannten total zu schwarzen Mumien, während sich Bordpersonal mit dem Fallschirm noch retten konnte.

Nach dem Krieg fuhr überraschend ein amerikanischer Jeep in unser Dorf ein und die gefallenen Piloten wurden exhumiert und in die Heimat überführt. Das war das einzige Mal, dass ich amerikanische Soldaten sah, dafür aber andere bald mehr als erwünscht.

Aufregung und Angst spürte man im Dorf täglich ansteigen, je näher die Front kam. Eines Tages erschien ein SS-Kommando und verkündete, uns mit Lkws in den nächsten Tagen mitnehmen zu wollen: „Heim ins Reich“, wir wären Deutsche und hätten Schlimmes von den Russen zu erwarten. Daraufhin floh das halbe Dorf in den Wald bzw. auf das abgelegene Gut Lust und versteckte sich ein paar Tage dort, weil niemand seine Heimat verlassen wollte.

Ende 1944 fand sich doch ein Häuflein Isszimmerer zusammen, deren Angst zum Teil aus politischen Gründen größer war als die vor der Ungewissheit im fremden Deutschland. Am 8. Dezember 1944 zogen sie dann bei klirrender Kälte als Treck mir Pferde- und Planwagen mit circa 35 Erwachsenen und 25 (!) Kindern in Richtung Deutschland. Schlussendlich landeten sie Ende 1944 nach Verladung in Eisenbahnzügen in Oberfranken, zerstreut in der Umgebung von Burgkunstadt und Weismain, wohin wir und andere Isszimmerer nach unserer Vertreibung in die SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone) sogar Brief- und Besuchskontakt hatten.

Über die zurückgebliebenen Dörfler strömte die Front ungefähr zweimal hin und her, einmal waren die Deutschen da und die Russen beschossen das Dorf mit Kanonen und Flugzeuge im Tiefflug oder in der nächsten Woche war es anders herum. Wir wünschten eigentlich nur eins: Hoffentlich ist die Front endlich über uns hinweg, gleich wer nun regiert. Als neugieriger Junge fand man das Ganze teilweise abenteuerlich. Ich weiß noch gut, wie ich zur Hoftür hinausschaute und ein notdürftig bekleideter deutscher Offizier aus dem gegenüberliegenden Haus stürmte und mit der Pistole die Straße hinunterschoss. Es tobte ein richtiger Straßenkampf und Leichen lagen auf der Straße. Meine Mutter zog mich entsetzt in den Hof zurück.

Wir flohen in den Luftschutzkeller, den mein Opa Stefan weise vorausschauend aus seinem freistehenden Keller im Hof errichtet hatte (siehe Teil 1, SB 03/2020), indem er obendrauf noch viel Mist und Stroh zum Schutz vor Bomben und Granaten aufgefahren hatte. Da saß nun die ganze Großfamilie Angeli und wartete die kommenden Ereignisse ab. Bald ging ein wilder Granatbeschuss durch deutsche Soldaten aufs Dorf nieder. Ich höre noch heute die singend-pfeifend heranfliegenden Granaten, sehe uns im Bunker eng aneinander schmiegend, kopfeinziehend horchend und sichtlich immer aufatmend, wenn der Einschlag und die Detonation irgendwo und nicht über uns erfolgte. Aber der nächste Kanonenschuss war schon unterwegs und das Zittern ging von vorne wieder los. Nach ungefähr einer Stunde herrschte draußen unheimliche Stille. Natürlich meldete sich bei mir ausgerechnet jetzt die volle Urinblase. Die Gelegenheit sah günstig aus, um sich draußen zu erleichtern. Ich stieß die Kellertür auf – und erstarrte wie das Kaninchen vor der Schlange: Vor mir standen zwei Rotarmisten mit Kalaschnikows im Aufschlag! Schnell sprang ich die Kellertreppe wieder runter, die Russen hinter mir her, indem sie ständig „German, German“ murmelten, kontrollierten dann den Keller durch, amüsierten sich untereinander über unsere mit Kerzenruß u. Ä. auf „alt“ gemachten Mütter und gingen, so schnell wie sie gekommen waren, wieder von dannen. Überhaupt waren die ersten russischen Soldatentrupps der vordersten Front sehr friedlich. Sie verlangten noch bescheiden nach Brot (kleb) oder Milch (moloko) und waren damit zufrieden.

Aus unserem Bunkerkeller mussten wir aber alsbald raus. Aus seinen vorhandenen Holzbetten und wegen der guten Luftsicherheit machten die Russen im Nu ein Lazarett für ihre Verwundeten. Es war markerschütternd, wenn man an der meist offenen Kellertür vorbeikam und das Stöhnen und Schreien der Schwerverwundeten hören konnte. Wenn sie uns sahen, schrien sie nach „woda“ (Wasser) – ihnen welches aus lauter Erbarmen zu geben, verboten uns aber die teilweise anwesenden Sanitäter ganz energisch. Grausam, wie Menschen für den Größenwahn und die verbohrte Ideologie einiger leiden und sterben mussten!

Unwillkürlich musste ich an meinen Vater an der Front denken, von dem wir natürlich auch keine Nachricht hatten.

Nach dieser ersten Soldatenwelle kamen aber die Säuberungstrupps mit ihren Politkommissaren, die uns erst richtig das Fürchten lehrten. In unserem „deutschen Dorf“ vermuteten sie überall versteckte deutsche Soldaten. So holten sie in ihrem Wahn aus einem Gemeinschaftskeller fünf junge Männer und erschossen sie vor ihren jammernden Familien. Ein anderer junger Mann wurde erschossen, weil er seinen knochen-tbc-kranken Arm in Gips hatte; er war für sie ein verwundeter deutscher Soldat. Bei einem 16-Jährigen fanden sie in der Jackentasche ein Leventeabzeichen, schon war ihm vor den Augen seiner Familie aus nächster Nähe ins Herz und Genick geschossen. Der jüngere Bruder des Unglücklichen, Michael Angeli, jetzt wohnhaft in Ludwigshafen, hat eine Liste von über 80 Kriegsopfern von Isszimmer erstellt.

Auch machte das traurige Schicksal eines Dorfbewohners die Runde: Der ältere Mann sprach wegen eines Sprachfehlers sehr schnell, holprig und laut, auch in dem Moment, als er einem Russen was erklären wollte, als dieser ihm die Taschenuhr abnahm. Puff mit der Kalaschnikow und schon war er ein toter Mann! Das alles wegen einer Uhr! Obwohl die meisten Soldaten schon an beiden Händen mehrere Uhren hatten. Sie hatten einfach eine kindliche Freude an den tickenden Gegenständen.

Noch eine, wenigstens lustige Geschichte aus dieser dramatischen Zeit: Scharf waren die Russen auch auf Fahrräder. Einer von ihnen hatte ein ziemlich neues Fahrrad ergattert, konnte aber damit nicht fahren, sondern flog ständig hin. Zur gleichen Zeit kam ein Mann mit einem tüchtig alten, verrosteten Drahtesel problemlos die Straße hinuntergefahren. Der Russe betrachtete dies verwundert, stoppte den Radler und nahm ihm sein Rad weg. Dies geschah und der Fahrradfahrer verschwand schnellstens und ließ den Iwan (wie wir sagten) mit seinem Unvermögen zurück. Mit Humor lässt sich selbst ein Krieg besser ertragen!

Gut erinnern kann ich mich noch daran, als wir kleine Kinder schnell wehklagend hinter unserem katholischen Pfarrer als seine Pseudokinder (bitte hier keine Witze) auf Anweisung der Erwachsenen hinterherrennen sollten, damit sie ihn nicht als „German“ und „Faschist“ erschießen. Unser Gejammer und Gottes Hilfe führten aber doch zu Erfolg, sie ließen ihn gehen. Überhaupt für Kinder hatten sie ein offenes Herz; sie nahmen uns auf den Schoß, warfen uns in die Lüfte (natürlich wieder auffangend), zeigten Fotos ihrer Kinder und hatten dabei nicht selten Tränen in den Augen. Was macht denn so ein verbrecherischer Krieg nun aus einem guten Menschen!

Wir hatten unter Mist, Stroh und in der Scheune Lebensmittel, Räucherware, Wertsachen, aber auch Weinfässer und Branntwein versteckt. Aber die Rotarmisten zogen mit langen Holzstangen los und durchstachen Stroh und Mist und holten vieles ans Tageslicht. Gefährlich für die Bevölkerung war ja hauptsächlich der Alkoholfund. Sie soffen sich dann einen Rausch an und waren nun noch unberechenbarer und gefährlicher: Mit der Maschinenpistole ballerten sie wild herum, machten sich einen Jux, indem sie die Hühner und Schweine abschossen und nachts sich die Frauen holten. Besonders unberechenbar waren die asiatischen Sowjetsoldaten (Mongolen oder Tataren), weil man allein aus ihrer Physiognomie nicht erkennen konnte, wie sie momentan tickten. Zu unserem Glück hausten sie aber auf den Dorffluren und holten sich nur ab und zu eine Kuh oder ein Kalb, um es am Spieß am offenen Lagerfeuer zu braten und dabei „schaurige“ Lieder zu singen.

Schließlich mussten wir noch aus unserer Wohnung im Vorderhaus raus und zusehen, wie wir im Hinterhaus, in der Sommerküche zurechtkamen. Wir waren wenigstens noch in unserem Haus, auch wenn wir jetzt zusehen mussten, wie vorn die Einquartierungen ständig wechselten und unsere Möbel, Küchengeräte, Bekleidung, Fotos u.v.m. auf dem Misthaufen „entsorgt“ wurden. Als wir nach Monaten wieder in unsere Wohnung konnten, fanden wir katastrophale Zustände vor: Spiegel waren aus Aberglauben zugehängt, verdrecktes Strohlager auf dem Fußboden, aufgeschlitzte Federbetten, Unrat aller Art – aber wir waren wenigstens wieder in unserer Wohnung.

Sicherlich ist es verständlich, dass all diese Ereignisse und kindlichen Erfahrungen mich weit in mein Erwachsenleben hinein in meiner Einstellung zum Russentum prägten. Auch solche spätere aufreizende Schullosungen wie „Der Sowjetmensch, dein bester Freund und Helfer“ oder „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, konnte meine Abwehrhaltung nur steigern. Das ging so weit, dass das Fach Russisch, das mich ab der 5. Klasse bis in das Universitätsstudium hinein zwangsweise begleitete, immer mein am schlechtesten benotetes war. Erst spät im Berufsleben, als ich so nette Offiziere und ihre Familien vom nahen russischen Flugplatz in Behandlung hatte, wandelte sich das Bild, und ich bedauerte, so faul gewesen und mit so viel Antipathie mit dieser Sprache umgegangen zu sein.

Aber zurück zu Isszimmer, in das Jahr 1945!

Endlich zogen die Front und der Kriegstross über uns hinweg! Isszimmer und die Bauernhöfe sahen aus wie die Dörfer nach dem Durchzug der Soldateska im Dreißigjährigen Krieg: Höfe ausgeplündert, Pferde kaum vorhanden, restliche Kühe mussten als Zugtiere herhalten, Schweine, Hühner und Geflügel stark dezimiert, Saatgut kaum vorhanden … Es war die Stunde Null und der Bauernhof musste neu aufgebaut werden.

Zum Glück waren die ungarischen Dörfer der Umgebung nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen; Sie wurden sichtlich von den russischen Politkommissaren verschont – waren eben keine „Germans-“ und „Faschisten“-Dörfer. So konnten wir dort für die Nachzucht Vieh und Geflügel eintauschen, einhandeln für Wertgegenstände oder für natürlich ordentlich hohe Preise erwerben. Auch die Großviehmärkte feierten Wiederauferstehung; so kam langsam das Wirtschaftsleben in Schwung.

In der Umgebung von Isszimmer, in den Wäldern und auf den Feldern sah es noch wüst aus. Überall standen noch zerstörte, ausgebrannte Panzer, Militärfahrzeuge aller Art und kaputte Kanonen herum; Munition und Kriegswaffen konnte man überall – selbst im Dorf – aufsammeln. Schlimm war der Anblick der herumliegenden Soldatenleichen. Die deutschen Soldaten wurden oft an Ort und Stelle verscharrt, anders kann man es leider nicht nennen, während die Russen von Kriegsgefangenen eingesammelt und in offenen Pferdewagen auf unserem Friedhof separat beigesetzt wurden. War so eine Pferdewagenkolonne über die Dorfstraße unterwegs, verschlossen wir schnell Türen und Fenster und flüchteten ins Haus, denn den bestialischen Leichengestank der teilweise exhumierten Leichen konnte man kaum ertragen.

Für uns Kinder waren diese zerstörten Kriegsgeräte der reinste Abenteuerspielplatz: Wir kletterten in Panzern und Lkws herum, fanden Munition und sogar brauchbare Waffen, mit denen die Größeren, die schon Jugendlichen, in den Wäldern sogar herumschossen. Auch wir Kinder hatten unser Abenteuer. Wir drehten die Spitze von den Kanonengranaten ab, entnahmen daraus das Pulver (das aussah wie gelbe Makkaroni), das wir abends anzündeten und schnell in die Luft warfen – ein grell-blitzendes Feuerwerk war immer zu unserer Freude das Ergebnis. Ebenso drehten wir von einer Gewehrpatrone die Spitze heraus, setzten sie auf die Zündkappe einer anderen, in der Erde stehenden Patrone und ließen von oben einen großen Stein drauffallen – ein echter Gewehrschuss, zumindest vom Geräusch her, war das Ergebnis. Die Erwachsenen schimpften tüchtig und die Polizisten jagten uns.

Denn Isszimmer hatte inzwischen eine Polizeistation, die nicht nur für Ordnung sorgen musste, sondern vielmehr der verlängerte Arm der neuen politischen Verhältnisse war. So wurde u. a. mein Opa Stefan verhaftet, weil er vor und zum Teil am Anfang des Krieges zehn Jahre Bürgermeister gewesen war, und in der Kreisstadt Stuhlweißenburg eingesperrt. Nach monatelangen Verhören konnte man ihm kein schuldhaftes Verhalten nachweisen und ließ ihn wieder frei.

Ebenso groß war die Freude, als nach fast zwei Jahren russischer Kriegsgefangenschaft mein Vater plötzlich und unerwartet, da wir bisher nicht die geringste Nachricht von ihm hatten, wieder heimkehrte. Aber war das mein Vater – der alte Mann, der da zerlumpt, unrasiert, langhaarig, auf zwei Stöcke gestützt, mit dicken, auf dem Boden schleifenden Füßen mir entgegenkam? Ich war so schockiert, dass ich mich tagelang nicht an sein Bett traute, in dem er wochenlang liegen musste und von meiner Mutter wieder liebevoll und vorsichtig aufgepäppelt wurde. Seine Erzählungen jetzt und auch später über die Lagerzeit in Sibirien (bei Omsk, Tomsk) waren erschütternd: Einmal täglich Suppe (meist Brennnesselsuppe), dazu ein Stück Schwarzbrot, harte körperliche Arbeit über 12 Stunden – kein Wunder, dass täglich ein Pferdewagen voller Leichen zum Lagertor hinausgefahren wurde. Leicht nachzuempfinden mit Hilfe von Solženicyns (Solscheniziys) «Archipel Gulag» – da hatten ja die Russen ihre historischen Erfahrungen. Um aus dieser Hölle wieder lebend rauszukommen, brauchte man Glück. Mit der wöchentlichen Selektion der Gefangenen nach noch arbeitsfähigen oder schon «halbtoten», möglichst bald nach Hause zu transportierenden Gefangenen, war ein deutscher Arzt beauftragt, den mein Vater zwischen den ungarischen Mitgefangenen auf Deutsch so bereden konnte, dass er ihn — trotz des Protests des auch immer beteiligten russischen Arztes — auf die Seite der nach Hause zu Transportierenden einreihte.

Hier hatte er Glück! Pech hatte er aber darin, dass er bis nach Sibirien verschleppt wurde. Als die ungarische Armee ihre Kampfhandlungen einstellte, entließ sie ihre Soldaten. So war mein Vater unterwegs nach Hause, als er sieben (!) Kilometer vor Isszimmer von Russen – trotz Hinweis auf seine ungarischen Entlassungspapiere – gefangen genommen und mit vielen Ungarn ähnlichen Schicksals bis nach Sibirien verschleppt wurde. Nicht Gerechtigkeit, sondern Zufälle regieren im Krieg!

Aber wie auch immer: Der schreckliche Krieg war vorbei, die Familie wieder glücklich vereint und unsere Bauernwirtschaft1 konnte mit dem Fleiß und der Energie der Isszimmerer wiederaufgebaut werden. Mit Optimismus richtete sich unser Blick wieder nach vorn, nichts ahnend, welche tragischen Folgen dieser Zweite Weltkrieg noch für uns bereithalten würde.

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Suchanzeige – neuester Stand der Ahnenforschung (24. 2. 2023)

Franziscus Xaverius Angele, der Stammvater aller Angele/i von Isszimmer/Isztimér, wurde am 06. 11. 1730 in Sulmingen bei Biberach geboren. Als Eltern sind Joannes Georgius Angele und Catharina Nüsser/Niesser im Kirchenbuch angegeben. Deren Heirat und sonstige Daten konnten im Ursprungsgebiet aller Angele/i bisher nicht gefunden werden, vor allem die Anbindung an die dortigen bis 1405 dokumentierten 16 Angele-Hauptstämme des Risstales. Erbitte Hinweise unter johannes-angeli@gmx.de.

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