Noch viele weiße Flecken

Interview mit der Historikerin Dr. Ágnes Tóth über ihren Weg zu den Ungarndeutschen, ihre Entfernung von der Spitze des Stiftungslehrstuhls in Fünfkirchen und Pläne für die Zukunft

SB: Frau Dr. Tóth, Sie sind in einer madjarischen Familie geboren – was hat Sie dazu bewogen sich mit der ungarndeutschen Geschichte zu beschäftigen?

ÁT: Ich habe mein Hungaristik-Geschichts-Studium in Segedin absolviert. Danach war ich ein Jahr lang in einer Bibliothek in Ketschkemet beschäftigt, bevor ich ins Komitatsarchiv wechselte. Einen konkreten Wunschthemenbereich hatte ich zwar nicht, aber mir war klar, dass ich mich in der Zukunft mit der neuesten Geschichte Ungarns, genauer gesagt mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach 1945 beschäftigen möchte. Es bedeutete Mitte der 1980er Jahre eine große Freiheit für mich, dass ich als Archivarin in die Kiste reinschauen durfte, in die ich nur wollte. Eine neue, für mich bislang unbekannte Welt tat sich auf. Ich war erst einige Wochen im Staatsarchiv, als Mihály Kővári auftauchte, seinerzeit Museumsdirektor in Baaja, von Beruf Archäologe, aber mit einem breiten Spektrum an Interessen. Mit Coautoren begab er sich hin und wieder in bestimmte Bereiche der Literaturgeschichte, Numismatik oder der Geschichtswissenschaften. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte, dass er in eine Schwabenfamilie in Katschmar/Katymár hineingeboren wurde und als Kind miterleben musste, wie die Großeltern mütterlicherseits vertrieben wurden, was bei ihm das Interesse weckte zu erfahren, wie die Vertreibung vor Ort vonstattenging. Er habe keine Zeit mehr dafür, ob ich nicht Lust hätte, dem nachzugehen, fragte er.

So begann es… Man könnte sagen, dass es dem Zufall geschuldet war, dass ich anfing, mich mit der neuesten Geschichte der Ungarndeutschen zu beschäftigen – wohlgemerkt glaube ich an Zufälle überhaupt nicht.

SB: Die politische Wende jährt sich heuer zum 30. Mal – Sie waren damals am Anfang Ihrer Karriere. Wie haben Sie die Wendezeit erlebt, auch als Wissenschaftlerin?

ÁT: Voller Hoffnungen, Begeisterung und vieler Erwartungen, die sich aus heutiger Sicht als illusorisch erwiesen! Aus Forschersicht hatte die Wende sehr positive Effekte, denn dank dem neuen Archivgesetz wurde nun nicht mehr nur einem elitären Kreis der Wissenschaftler, die als zuverlässig befunden wurden, ermöglicht, bestimmte Unterlagen in den Archiven einzusehen. In diesen Jahren gelangte eine Unmenge an Materialien aus dem Außen- und Innenministerium in die Archive und die Parteiarchive und Stasiunterlagen konnten auch durchforstet werden. Die Geschichtswissenschaft wendete sich, durfte sich bislang tabuisierten Themen zuwenden.

SB: Die Bilanz der Wendezeit fällt je nach Sichtweise unterschiedlich aus – wie bewerten Sie als Historikerin die vergangenen 30 Jahre?

ÁT: Diese Frage ist sehr komplex und mittlerweile füllt die Fachliteratur über die Umstände der Wende, die Rolle und die Möglichkeiten der einzelnen Akteure ganze Bibliotheken. Weder die Gesellschaft noch die Führungspersönlichkeiten der politischen Parteien hatten Erfahrungen bezüglich dessen, wie man demokratische Strukturen betreibt. Die Resultate müssen wir deswegen nicht nur zu den Erwartungen, sondern auch zu den Möglichkeiten in Bezug setzen. Aus dieser Perspektive halte ich die paar Jahre der Nachwendezeit und die Leistungen der Gesellschaft und der politischen Machthaber für gar nicht so schlecht. Allerdings haben wir – meiner Meinung nach – aus den vergangenen dreißig Jahren nicht das rausgeholt, was drin war, was möglich gewesen wäre. Ich bin der Auffassung, dass man auch in diesem Falle bei den vorangehenden Epochen die Antwort suchen muss. Gesellschaftliche Attitüden, Mentalitäten verfestigen sich nicht von einem Jahr auf das andere, nicht einmal von einem Jahrzehnt auf das nächste.

SB: Sie werden in ungarndeutschen Kreisen von vielen hochgeschätzt, nicht zuletzt wegen der Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte der Deutschen – wie sind Sie auf dieses berühmte Dokument (Protokoll der Allparteienkonferenz) gestoßen?

ÁT: Meinen Forschungsschwerpunkt habe ich peu á peu ausgebaut. Zuerst habe ich ein Dorf, dann die ganze Region Nordbatschka untersucht und erst danach – dank der bereits geschilderten Ausweitung der Forschungsmöglichkeiten – habe ich angefangen die Unterlagen der Ministerien auszuwerten. Bereits bei der Aufdeckung der lokalen Ereignisse war für mich klar, dass man die Aussiedlung – Vertreibung – der Ungarndeutschen nur teilweise mit dem Potsdamer Beschluss erklären kann. Und obwohl es ohne Zweifel ist, dass die Großmächte durchaus eine Verantwortung tragen dafür, was in dieser Region nach dem Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Minderheit geschah, interessierte mich dennoch unsere Verantwortung beziehungsweise die Frage, was die Beweggründe der politischen Machthaber waren. Ich konnte mir systematisch eine große Anzahl von Dokumenten anschauen, was mir ermöglichte, die Bestrebungen auf unterschiedlichen Ebenen miteinander zu vergleichen. Auch für mich wurde in dieser Forschungsarbeit sichtbar, welche Auswirkungen die einzelnen Migrationsbewegungen – die inneren Siedlungsaktivitäten im Zuge der Bodenreform, der slowakisch-ungarische Bevölkerungstransfer – auf die Vertreibung der Deutschen hatten.

SB: Sie sind ja Historikerin, aber erleben sicherlich auch die ungarndeutsche Gegenwart intensiv – wie bewerten Sie die Lage der deutschen Gemeinschaft und was sind die größten Herausforderungen, vor denen diese steht?

ÁT: Ich denke, die ungarländische deutsche Gemeinschaft hat sich nach der Wende tatsächlich zu einer Gemeinschaft entwickeln und die Möglichkeiten nutzen können, die das Minderheitengesetz über die Formen kultureller Autonomie für sie eröffnet hat. Als große Herausforderung sehe ich an, dass es ihnen (Anm. der Red.: den Ungarndeutschen) gelingt, die eigenen Angelegenheiten selber regeln zu dürfen und sich bei den Entscheidungen die Interessen der Gemeinschaften vor Augen zu halten. Ich halte eine Modernisierung der Identität und das Einbeziehen der Jugend für wichtig.

SB: Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut – wie sehen Sie deren Entfaltungsmöglichkeit im Ungarn der Gegenwart?

ÁT: Ich war ab 2002 beim Institut für Minderheitenforschung (Kisebbségkutató Intézet) tätig, das ich von 2010 bis 2012 auch geleitet habe. In vielen Bereichen war und bin ich auch heute noch für Veränderungen. Aber um die umzusetzen hielt ich eine Abtrennung der Institute von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) für überflüssig. Unsichere, unberechenbare Verhältnisse, die schlechte Bezahlung und das existenzielle Ausgeliefertsein spornen keinen zur besseren Leistung an. Ganz im Gegenteil! Dieser Prozess begann 2012 mit der Gründung der Forschungszentren und dauert auch heute noch an. Es wäre gut, wenn wir endlich in Ruhe arbeiten könnten.

SB: Sie waren von 2015 bis 2020 Leiterin des Stiftungslehrstuhls für Deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Europa – was waren die Gründe, dass Sie nicht mehr Leiterin des von Prof. Dr. Seewann gegründeten Lehrstuhls sind?

ÁT: Der Stiftungslehrstuhl wurde von beiden Ländern gegründet, die Uni Fünfkirchen nahm ihn lediglich auf und betreibt ihn. Die ersten fünf Jahre wurden vom deutschen Staat finanziert, danach erklärte sich der ungarische Staat bereit, die Finanzierung zu übernehmen. Der Lehrstuhl wurde von 2007 bis 2014 tatsächlich von Gerhard Seewann geleitet. Als ich den Lehrstuhl übernommen habe, habe ich angesichts einer ganzen Reihe ungeklärter Fragen – eine berechenbare, mindestens mittelfristige Finanzierung, die Umwandlung der Jahresverträge der Mitarbeiter in unbefristete, eine Klärung der Rechte und Pflichten der Philosophischen Fakultät als Trägerin sowie die der Aufgaben, Befugnisse und des Platzes des Lehrstuhls innerhalb der Fakultät usw. – angeregt, diese zu regeln. Dies gelang mir in all den fünf Jahren unter Einbeziehung von diversen Institutsleitern und Dekanen nicht. Die Bedingungen haben sich in gewisser Weise sogar verschlechtert. Arbeiten kann man nach meiner Auffassung nur dann, wenn die Konditionen geklärt bzw. klar definiert sind. In Fünfkirchen gedachten meine Vorgesetzen die Probleme mit der Entfernung meiner Person zu lösen. Die Entscheidung wurde in einem Dreizeiler mitgeteilt. Da ich nur einen befristeten Vertrag hatte – da man meinen Vertrag immer nur um ein Jahr verlängert hat – musste der Arbeitgeber seine Entscheidung nicht begründen.

Da aber in der Zeit, die ich dort verbracht habe, keine Kritik an meiner Arbeit geäußert wurde – die fachlichen Erfolge, denke ich, sprechen für sich -, bat ich den Herrn Rektor, seine Entscheidung doch zu begründen. Eine konkrete Antwort habe ich bis heute nicht erhalten.

SB: Was sind Ihre Forschungspläne/schwerpunkte für die nahe Zukunft?

ÁT: Wenn Gott will, dann möchte ich die Geschichte der Ungarndeutschen bis zur Wende aufarbeiten, also die Monografie „Die Deutschen in Ungarn 1950-70 (Németek Magyarországon 1950-70)”, die jetzt erschienen ist, fortsetzen. Auf bestimmte Fragen finden wir nur dann eine Antwort, wenn wir langfristige Prozesse empirisch und mit der Ausführlichkeit untersuchen, wie ich es in diesem Band bezüglich des Untersuchungszeitraums tat. Daneben zeige ich großes Interesse an der Geschichte der Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Jugoslawien nach Ungarn flohen, sowie am Selbstverwaltungssystem und vor allem an dessen Betreibern, den Menschen. Jede Forschungsarbeit wirft weitere Fragen auf, deshalb muss ich mir keine Sorgen machen, jemals ohne Arbeit dazustehen.

SB: Frau Dr. Tóth, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Richard Guth.

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