Von Armin Stein
Es ist nicht ungewohnt in einem Sonntagsblatt-Artikel über das Aussterben und den Niedergang einst blühender Dörfer und Siedlungen der Schwäbischen Türkei zu lesen. Mehrere unserer Autoren, unter ihnen auch ich, entstammen der Region, und haben bis heute eine emotionale Beziehung zu den Schauplätzen unserer Kindheit, sei es Fünfkirchen, die nördlichen Ausläufer des Metscheck-Gebirges oder eben der Talboden. Dieser Artikel verfügt jedoch über einen grundlegenden Unterschied zu seinen Vorgängern, denn er enthält nicht (viel) über Demographie und Ökonomie, es geht lediglich um eine Ruine und ihre Geschichte.
Udvari ist ein kleines Dorf im Norden des Komitates Tolnau, nur wenige Kilometer entfernt von Jenk/Gyönk. Ein verschlafenes, putziges Dörfchen, weit weg von den, aus Tolnauer Perspektive, “großen” Städten. In letzter Zeit tauchte Udvari jedoch immer wieder in diversen UrbEx- (deutsch: Urban Exploration, „Ruinenerkunder“) Foren und Videos auf, denn das Dorf verfügt über eine einzigartige Kirchenruine – sie ist nämlich eine der wenigen Evangelischen Kirchen, welche im klassizistischen Stil in Ungarn erbaut wurde, ganz abgesehen von dem Fakt, dass sie eine der größten noch ganz stehenden Kirchenruinen des Landes ist.
Wie kommt es dazu, dass ein kaum 400 Seelen zählendes Dorf eine solche Kirche erbauen konnte, und wie kann es sein, dass die Ruine heute leer und ungenutzt steht? Die Antwort auf diese Frage muss man in der Geschichte von Udvari suchen. Viel lässt sich über das Dorf auf dem Weltnetz nicht herausfinden, sicher ist jedoch, dass das Dorf über deutsch- und ungarischsprachige Bewohner verfügte, die deutsche Gemeinde lutherisch, die ungarische (madjarische) Gemeinde katholisch und reformiert war. Interessant ist auch, dass die deutsche Bevölkerung aus anderen Siedlungen in ein bereits von Madjaren bewohntes Dorf gezogen ist. Zur Jahrhundertwende betrug der Bevölkerungsanteil der deutschen Bevölkerung bereits über 50%. Zu seiner Blütezeit, im späten 19. Jahrhundert, zählte das Dorf über 1300 Einwohner. Noch vor dem Erreichen der Bevölkerungsspitze, in den 1840er Jahren, begann die evangelische Gemeinde den Bau einer eigenen Kirche, der aufgrund von Geldnöten erst 1862 beendet werden konnte.
Die Historie der Ruine erhält eine zusätzliche Dimension, wenn man die Nutzungsgeschichte des Gebäudes betrachtet. Die evangelische und die calvinistische Gemeinde haben trotz ihrer sprachlichen Unterschiede, das Kirchengebäude gemeinsam genutzt. Den großen Einschnitt in der Geschichte der Gemeinde bedeutete die Vertreibung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, infolge dessen fast alle deutschen Familien abtransportiert wurden. Urplötzlich wurde die prunkvolle Kirche, der Stolz der Gemeinde, überdimensioniert und nicht mehr zu unterhalten, was dazu geführt hat, dass heute die Mauern noch stehen, das Gemäuer an sich jedoch nichts mehr als eine verlassene Ruine ist. In den letzten Jahrzenten gab es mehrere Vorstöße die Kirche zu renovieren, große Investitionen wurden bis jetzt jedoch nicht realisiert, es scheint so, als würde die lutherische Kirche das gleiche Schicksal ereilen wie die Kirche von Sibrick/Zsibrik.
Letztendlich stellt sich die Frage: „Was nun?“ Es gibt gute Argumente für das Erhalten und für das Abreißen der Kirche, unabhängig davon, was geschieht, ist es jedoch wahrscheinlich, dass sie keinen wahren Verwendungszweck mehr finden wird. In einer Funktion profitiert sie jedoch von ihrem aktuellen Zustand, und zwar als Mahnmal. Ein Mahnmal für eine vertriebene Bevölkerung, gespaltene Familien und traurige Schicksale. Ein Mahnmal, dessen Mauern und Turm zwar stehen, das aber seine essenzielle Komponente, die Gläubigen, fast alle verloren hat. Eigentlich ist diese Kirchenruine auch ein ideales Mahnmal für uns Ungarndeutsche, denn auch unsere Gemeinschaft hat noch Strukturen und Institutionen, wie die Kirchenruine Glocken und Mauern hat, jedoch laufen auch wir Gefahr, das zu verlieren, was uns ausmacht, und zwar die „Gläubigen“, denen Identität und Herkunft aber auch die Zukunft ihrer Volksgruppe wichtig sind. Sollten sich jedoch nicht genug „Gläubige“ finden, so kann man in der lutherischen Kirchenruine von Udvari eine gute Analogie für unsere Zukunft als Volksgruppe finden.
Quellen:
https://reformacio.mnl.gov.hu/orokseg/udvari_evangelikus_templom
http://www.muemlekem.hu/muemlek/show/11346
http://regmult.blogspot.com/2016/01/udvari-templomai.html
https://elherdaltorokseg.blog.hu/2019/08/24/udvari_evangelikus_templom
https://www.udvari.hu/?module=news&action=show&nid=20173
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