Von Richard Guth
Das Nachrichtenportal „Azonnali” zeichnet sich durch sein besonderes Interesse für die Minderheiten in Ost- und Mitteleuropa aus. Das Sonntagsblatt hat bereits mehrfach Beiträge übernommen. Womöglich hat dieses Interesse auch mit der Person des einen Chefredakteurs zu tun, denn Martin Bukovics ist bekennender Ungarndeutscher.
Mitte Juli bat der Journalist Balázs Kovács slowakische Historiker darum Trianon historisch zu verorten und zu bewerten. Roman Holec von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften sieht das Problem nicht darin, dass Ungarn multiethnisch war, sondern darin, dass 1918 – beim „Brotbrechen” – die Eliten der Minderheiten nicht zu einer Bekenntnis zu Ungarn geraten hätten, da die Identifikation mit dem tausendjährigen Land im Kreise der Minderheitenangehörigen nicht stark genug gewesen sei. Dies habe eine herrschenden madjarischen Elite (aktive Teilnehmer des Weltkrieges) zu verantworten. Dabei betone man die historische Rolle von Mihály Graf Károlyi oder Béla Kun, aber nicht die Verantwortung von Sándor/Alexander Wekerle oder Albert Graf Apponyi als Vertreter der Elite und Wegbegleiter dieser Entwicklung. Róbert Letz von der Comenius-Universität Pressburg spricht gegenüber Azonnali von der Angst vor dem Panslawismus bei dieser Elite die die Unterstützung Deutschlands suchte. Verwunderlich sei der Vorwurf der Untreue an die Slawen – Slowaken und Rusinen –, da diese über eine dünne akademische Führungsschicht verfügten. Der Historiker lässt sich im Beitrag auf ein interessantes Gedankenspiel ein: Hätten die Nationalitäten bereits in den 1840er oder 1860er Jahren Minderheitenrechte erhalten, hätte dies nicht sogar als Katalysator zu einem rascheren Zerfall des Vielvölkerstaates geführt!?
Die Frage, ob die Slowaken vor Trianon der Gefahr der Madjarisierung ausgesetzt gewesen waren, bejaht der Pressburger Professor Letz. Die Slowaken hätten dank ihrem Geburtenüberschuss diese Gefahr abgewehrt, obwohl man ihre Bildungs- und Kultureinrichtungen peu á peu aufgelöst hat. Auch Holec betont die „Schwierigkeiten” bei der Assimilation der ländlich geprägten Slowaken vor Trianon. Assimilieren konnte man nach seiner Einschätzung Akademiker und Stadtbewohner, „aber mit 90 % der Bevölkerung konnte ein madjarischer Lehrer oder ein madjarischer Pfarrer nichts anfangen”. Die Behauptung, die Slowaken hätten am Abgrund gestanden, sei daher nicht zutreffend und übrigens eine tschechoslowakische Narrative gewesen. Sein Kollege Róbert Letz zitiert den ungarischen Historiker Gyula Szekfű, der der Ansicht war, die eifrigsten Madjarisierer seien gerade die zuvor Assimilierten gewesen, was die Verständigung zwischen der Minderheiten und der Mehrheit erschwert hätte. Ondrej Ficeri von der Akademie meint im Beitrag, dass das Ziel der madjarischen Elite nicht die (physische) Liquidierung der Slowaken gewesen sei, sondern deren Assimilierung, um die Entstehung einer Nationalbewegung zu verhindern – von einer territorialen Autonomie ganz zu schweigen.
Ficeri betont, dass die Trianon-Grenzen ungerecht gewesen seien, denn man habe dabei weder die ethnischen Grenzen und die Sprachgrenzen noch das Selbstbestimmungsrecht berücksichtigt. Besonders tschechische Gesandte hätten es vermocht, die Teilnehmer der Friedenskonferenz von Trianon und die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass die Volkszählungsergebnisse von 1910 kein realistisches Bild über die ethnische Zusammensetzung zeigen würden, weshalb eine logische Grenzziehung nicht möglich sei. Letz betont, dass neben ethnischen Gesichtspunkten auch geografische und militärisch-geostrategische eine Rolle gespielt hätten. Flüsse wie Donau und Eipel hätten bestens als Grenze gedient. Nach Holec hätte der nationale Egoismus gewaltet und geschaltet, weswegen eine gerechte Grenzziehung per se nicht möglich gewesen wäre.
Ob die tschechoslowakische Minderheitenpolitik aus den Fehlern der madjarischen gelernt hat? Auch wenn Holec einräumt, dass sich die Madjaren in der Slowakei aus vielerlei Gründen nicht heimisch gefühlt hätten und unzufrieden gewesen seien, sei die tschechoslowakische Minderheitenpolitik in keinster Weise mit der madjarischen vergleichbar gewesen: Während die Slowaken vor Trianon keine Schulen und Vereine gehabt hätten, hätten die Madjaren in der Tschechoslowakei diese Stück für Stück bekommen – inklusive politischer Partizipation. Die Unzufriedenheit der Madjaren habe auf dem Trianon- Schock gefußt. Wie auch Letz betont, hätten diese Menschen zuvor keine Erfahrung mit dem Minderheitendasein gemacht. Ondrej Ficeri spricht hingegen von begrenzten Minderheitenrechten, die noch begrenzter gewesen seien als die heutigen, jedoch sei es strafbar gewesen die ungarische Hymne zu singen oder der Revolution von 1848/49 zu gedenken und dies dauere bis heute an. Jegliche nationale Forderung seitens der Slowakeimadjaren werde kritisch betrachtet und stoße auf eine emotionale Reaktion der slowakischen Öffentlichkeit und Politik.
Ob man Trianon überwinden kann? Letz zeigt Verständnis für das Trauma-Gefühl der Madjaren, das aber von der Politik bewusst am Leben gehalten werde. Das unterstreicht auch Holec, der meint, dass die Politiker in der Geschichte herumgepfuscht hätten und dies immer noch täten, um die Erinnerung an Trianon wachzuhalten und die Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Anstatt nach vorne zu schauen, blicke man stets zurück. Das gegenseitige Misstrauen sei historisch begründet. Dabei laste auf den Schultern der Slowakeimadjaren heute – im Gegensatz – zum Assimilationsdruck im historischen Ungarn – kein Druck, Slowaken zu werden, unter dem Motto, man könnte da keine weiterführende Schule besuchen oder eine Anstellung in der Verwaltung zu finden. Die Madjaren in der Slowakei verfügten heute über Schulen, Theater, politische Parteien.
Zum Schluss wird erneut sein Mitakademiker Holec zitiert, der meint, dass für ihn ungarische Sprache und Kultur nicht fremd seien, wodurch er die ungarische/madjarische Mentalität kenne und wisse, dass der Friedensvertrag, solange er in Kraft bleibt, ein wunder Punkt bleibe.
——————————————————————-
Link zum Videobeitrag: https://www.youtube.com/watch?v=0ftITzUPwgo&feature=youtu.be (A határok lehetnének igazságosabbak is. Szlovák történészek Trianonról); erschienen am 18. Juli 2020 auf dem Internetportal Azonnali; Weiterverwendung des Materials mit freundlicher Genehmigung von Chefredakteurin Beáta Bakó.
Bild: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=777438