Mehrsprachiges Land – Einsprachiger Traum und einsprachiges Ge/denk/en/mal

Originaltitel: Soknyelvű ország – egynyelvű álom és emlék(mű). Erstmalig erschienen am 31. Mai 2020 in der slowakeimadjarischen Tageszeitung „Új Szó” (Pressburg); ein Meinungsartikel des in Ungarn lebenden slowakeimadjarischen Historikers Dr. László Szarka; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion; Deutsche Übersetzung: Richard Guth

Wir hatten hundert Jahre, um darüber nachzudenken und es zu erfahren, was warum passiert ist, wie Alfréd Lázár Drasche und Ágoston Benárd es zur feierlichen Unterzeichnung im Petit Trianon geschafft haben. Darüber hinaus sollten wir noch auf viele andere uns nahestehende Fragen jeweils eine Antwort finden, damit Trianon nicht nur auf der Landkarte, in bilateralen Verträgen und Gasleitungen, sondern auch in der eigenen Geschichte und Erinnerungskultur endlich seinen richtigen Platz findet.

Es würde sich sicher lohnen, wenn wir „jenseits der ungarischen Grenze” Geborene neben der steten Erneuerung des madjarisch-ungarischen Dialogs auch mit den Nachfahren der 10,8 Millionen Nichtmadjaren – 2,9 Millionen Rumänen, je 1,8 Millionen Kroaten und Slowaken, anderthalb Millionen Deutsche, 1,1 Millionen Serben und 500.000 Ruthenen-, die sich aus dem historischen Ungarn mit seinen 21 Millionen Einwohnern verabschiedeten, nach sinnvollen und gemeinsamen Antworten auf unsere Diskurse in der Vergangenheit suchen würden.

30 Millionen Ungarn/Madjaren

Es ist Fakt, dass die letzten 50 Jahre des zur Hälfte madjarisch besiedelten ungarischen Staates im Staatenverbund Österreich-Ungarn im Zeichen des Traums von einer ungarischen Nation mit 20 oder (nach Jenő Rákosi) 30 Millionen Gliedern verbracht wurden. Das ungarische Staatsverständnis des Zeitalters des Ausgleichs orientierte sich an französischen und englischen Mustern. Viele glaubten daran, das ganze Land mit Bildung, Verwaltung, Ansiedlungspolitik und der Genehmigung der massenhaften Auswanderung von Nichtmadjaren nicht nur politisch, sondern auch grammatikalisch zu madjarisieren. Kazinczy, Kölcsey, Kossuth, Jókai oder Deák aus der Reformzeit erhofften sich diese Madjarenwerdung noch von der Anziehungskraft der ungarischen/madjarischen Freiheit. Nach 1867 erhofften sich Grünwald und Apponyi von den Grund- und weiterführenden Schulen, Gusztáv Beksics hingegen von der Madjarisierungskraft der Städte und der Fabrikindustrie die Umsetzung dieses madjarischen Traumes binnen ein-zwei Generationen. Die Erinnerungspolitik Ungarns, das mittlerweile zu einem einsprachigen Land geworden ist – wo 2011 lediglich ein Viertel der 600.000 Angehörigen der 13 anerkannten Minderheiten, also 148.000 Menschen nichtungarischer Muttersprache waren –, kann augenscheinlich nichts mit seiner multilingualen Geschichte anfangen. Es sieht so aus, als würden immer mehr Akteure die Ermahnungen des heiligen Staatsgründers über das einsprachige Land vergessen.

Steigung von Trianon

Eine imposante Granitflur – in der Lesart der Herderschen Kommentatoren ein historisches Denkmal, das die „ins Grab hinabgestiegene Nation” in Erinnerung rufen soll – ist entstanden, in der asymmetrischen Achse des Hauptplatzes der Nation, in der Budapester Alkotmány utca. Im Trianon-Jahr 100 führt eine 100 Meter lange, vier Meter breite, sich unterirdisch ausbreitende Rampe abwärts in Richtung eines achtgeteilten Granitblocks – der das heutige Land Ungarn und seine sieben Nachbarn symbolisieren soll – und eines dort lodernden Ewigen Lichtes. An den Wänden des nicht überdachten Flurs stehen die Namen der 12.537 Ortschaften, die im Ortsnamenverzeichnis von 1913 hinterlegt sind, ihre Größe verdeutlichend auf grauen Granittafeln unterschiedlicher Größe – allesamt nur in der ungarischsprachigen Version von 1913. Ein letztes, viele Widersprüche in sich vereinigendes Ortsverzeichnis eines Landes, das fünf Jahre später zerfiel!

Das Gesetz über die Vereinheitlichung – „offizielle Erfassung” der ungarländischen Ortsnamen -wurde von Dezső Bánffy initiiert, der sich in der langen Reihe der ungarischen Ministerpräsidenten als Einziger als Chauvinist bezeichnete. „Es genügt nicht, gefühlsmäßig und in Worten der ungarischen/madjarischen Staatsidee zu dienen“ – schrieb Bánffy 1902 –„ man muss mit starkem Willen, ausdauernd bestrebt vom äußersten chauvinistischen „nationalen Gedanken” beseelt den ungarischen/madjarischen Einheitsnationalstaat, der, um sprachlich und emotional einheitlich und national zu sein, solcher Äußerlichkeiten bedarf, die man nicht unterschätzen sollte. Es bedarf nicht nur, dass seine Söhne ungarische/madjarische Namen tragen, sondern auch seine Berge und Täler.”

Das letzte offizielle Ortsverzeichnis der Länder der Heiligen Ungarischen Krone, das 1913 herauskam, war voller radikaler Veränderungen und Verzerrungen, die Gründung und Geschichte der Gemeinden oft völlig außer Acht ließen, obwohl sich renommierte Körperschaften – weise Männer und Politiker – monatelang über die aus den Komitaten eingebrachten Vorschläge beraten hatten. Es ist bezeichnend, dass das Ortsverzeichnis mit mehreren hundert Korrekturen bezüglich der 63 Komitate in Ungarn und Kroatien-Slawonien beginnt. Die von Ministerpräsident István Tisza – noch vor der „Vereinheitlichung der Ortsnamen in den Komitaten Arwa, Liptau, Eisenmarkt und Fogarasch – eingestellte „offizielle Erfassung” hat die Ortsbezeichnungen auf einen Schlag vereinheitlicht und einsprachig gemacht.

Die Sackgasse der Madjarisierung

Die Namen von fast 5000 Dörfern und Städten wurden verändert – in ihrer Rechtschreibung, Signalstruktur oder Sprache sowie ihrem Wesen. Pál Engel schätzte die Zahl der völlig ohne Grund madjarisierten Ortsnamen – auch in Ermangelung einer madjarischen Bevölkerung – auf ungefähr 2500. Sonst ist jede gebildete Nation bemüht, den Ortsnamenschatz ihres Landes – als eine der wertvollsten historischen Quellen – zu bewahren. Die Ungarische Historische Gesellschaft hat mehrfach vorsichtig gegen die Übertreibungen protestiert. Károly Tagányi, der Erforscher des Komitats Neutra/Nitra, versuchte als „Hellseher“, die Madjarisierungsbestrebungen auszubremsen. „Hören Sie mit den Äußerlichkeiten auf – mit der Forderung nach ungarischen Aufschriften, die Übermadjarisierung von fremden Ortsnamen. Denn die ungarischen Ortsnamen, die sie heute vergeben werden, werden in 100 Jahren wieder slowakisch, werden ins Slowakische übersetzt oder schlicht slawisiert.” István Tisza, der Ministerpräsident tragischen Schicksals, sah die Nationalitätenkonflikte am Vorabend des Weltkrieges und betonte in seiner Parlamentsrede vom 26. November 1913, dass er sich wünsche die Angelegenheit der Ortsnamenerfassung als ungeschehen zu betrachten.

In Ungarn fing man in den 1880er Jahren an, die slawischen, rumänischen, ruthenischen, serbischen, sächsischen und schwäbischen Ortsnamen radikal zu umschreiben und zu vereinheitlichen, dabei künstlich zu übersetzen und – wenn nötig – zu madjarisieren. So erhielten mehrere Dutzend slowakische und deutsche Dörfer in den Komitaten Pressburg, Neutra und Altsohl einen ungarischen Namen. Mit der offiziellen Erfassung wurden die Namen aller Dörfer mit Nationalitätenbevölkerung – bis auf vier Komitate – überprüft. 1906 wurde beispielsweise die Mehrheit der Gemeinden mit überwiegend slowakischer Bevölkerung im Komitat Trentschin ohne jegliche historische Traditionslinie ungarischsprachig. Alsóvadas, Berekfalu, Dombelve, Dunajó, Fenyvesszoros, Gerebes, Hámos, Határújfalu, Buzás, Csermely, Igazpüspöki, Mézgás, Ölved und noch annähernd hundert seklerisch klingende Ortsnamen, die von örtlichen madjarischen Beamten erfunden wurden, sorgten für Unmut bei der slowakischen Bürgerschaft des Waagtales und der slowakischen Elite von Sankt Martin.

Ähnlich sah es in den anderen Komitaten und Regionen mit slowakischer, ruthenischer, rumänischer, sächsischer, schwäbischer und serbischer Bevölkerungsmehrheit aus. Die Namensforscher, die sich mit dem Thema beschäftigen, liefern hundertfach weitere Beispiele für die Namensmadjarisierung in Siebenbürgen, im Banat und in der Vojvodina vor hundert Jahren. Aber zurück zu unseren Gefilden: Aus Kutti (slowakisch Kúty) – das 400 Jahre lang so hieß – an der Eisenbahnlinie Pressburg-Brünn, wurde 1898 „Jókút“, aus Buhonicz – bekannt durch das Atomkraftwerk Jaslovské Bohunice – „Apátszentmihály“, aus Dubnic (Dubnitz an der Waag/Dubnica nad Váhom) „Máriatölgyes“, aus Szvidník (Obersvidnik/Svídnik) „Felsővízköz“. Diese madjarisierten Namen stehen bis heute im Akademischen Großlexikon, bei der ungarischen Version von Wikipedia und in den ungarischen Landkarten.

Belastetes Erbe

Die massenhafte Madjarisierung des Ortsnamenbestandes des mehrsprachigen Ungarn außerhalb des ungarischsprachigen Siedlungsgebietes, die vor dem Zusammenbruch stattfand und jeglichen Protest der Betroffenen ignorierte, ist ein schweres Erbe. Sie lebt ohne jeglichen praktischen Nutzen und ohne sinnvolle Erklärung unerschütterlich fort. Die ausgezeichneten Kenner der ungarischen Ortsnamenkunde europäischen Ranges haben den zeitgenössischen Wert, Vor- und Nachteile der offiziellen Erfassung der Ortsnamen dokumentiert und analysiert. Unter den Folgen steht allen voran der nationalstaatliche sprachliche Imperialismus – den die madjarischen Minderheiten vielfach erleiden mussten, als Russen, Ukrainer, Rumänen, Serben und Slowaken die einverleibten ungarischen Dörfer wiedergetauft haben.

Und wir haben das einsprachige Erbe von 1913 angenommen, anstelle zu den Namensformen zurückzukehren, die sich auf die tausendjährige Mehrsprachigkeit aufbauten: Bohunic, Dubnic, Klobusic, Kutti, Szvidnik. Die hundertfach madjarisierten Lehotas heißen auch heute Lehota, die künstlichen Mogyoróds Lieszko. Hunderte von den künstlich geschaffenen Ortsnamen schafften es in das Akademische Großlexikon, deswegen irren Touristen – ungarischen Navigationsgeräten folgend – herum. Diese Namen wurden nun beim Trianon-Denkmal in Stein gemeißelt.

Besondere Ironie des Trianon-Jubiläumsdenkmals – gegenüber der Statue des István Tisza, der die ganze Namensmadjarisierung missbilligte – ist, dass man mit dem einsprachigen Ortsnamenbestand vom Anfang des 20. Jahrhunderts des historischen ungarischen Staates gedenkt, der ein Auslöser der Nationalitätenkonflikte war, die zum Zerfall des Landes in besonderem Maße beigetragen haben. Es bleibt zu hoffen, dass ein anständiges Besucherzentrum entsteht, in dem die zwischen den in zufälliger Reihenfolge angebrachten Gedenksteinen Herumirrenden und an der heutigen Realität – und den zwei- oder mehrsprachigen Namen sowie der wahren Geschichte – der lebendigen Gemeinschaft Interessierten eine Hilfe und ein realistisches Bild erhalten. Digitale Karten und Datenbasen sollten ihnen all das zugänglich machen, was auf der zweimal hundert Meter langen Trianonwand keinen Platz gefunden hat.

Quelle: https://ujszo.com/panorama/soknyelvu-orszag-egynyelvu-alom-es-emlekmu / Bild: Zsolt Andrási, flickr.com

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