Unser Redaktionsmitglied Nelu B. Ebinger arbeitet an seinem neuen Buchprojekt „Der kleine Professor”. Wir veröffentlichen das Einführungskapitel.
Im Frühsommer des Jahres 1967 liegt ein 14-jähriger Absolvent der 8-klassigen Grundschule in der banatschwäbischen Großgemeinde Bogarosch (rumänisch Bulgarus) im fetten Grün des Familiengartens, blickt voller Zukunftssorgen in den glasklaren Himmel und macht sich Gedanken über sein weiteres Schicksal. Ja, Schicksal, denn morgen kommt der Gesandte des deutschen katholischen Bischofs aus Temeswar (rum. Timisoara, ung. Temesvár) zu Besuch, wo beim festlichen Mittagessen die Entscheidung über den weiteren Verlauf seines noch jungen Lebens fallen soll.
Trotz seines noch zarten Alters war er schon recht belesen in Sachen Lebensphilosophie, hatte er doch als fleißiger Messdiener bereits eine Reihe von solchen Büchern vom Dorfpfarrer Matthias Lauer erhalten, über deren Lektüre er sich immer wieder Gedanken machte. Gedanken über den Sinn unseres Lebens, über Gott und die Welt, Liebe und Tod, Diesseits und Jenseits.
Alles begann aber schon am 6. Oktober 1963, also vier Jahre davor, als der bis dahin brave, schüchterne Hansi einen lebensbedrohlichen Unfall erlitt. Ja, Hansi, denn dies war sein Rufname zuhause, obwohl in seinem offiziellen Geburtsschein der rumänische Kosename „Nelu“ (von Ioan>Ionel>Nelu) stand, also eine wortwörtliche Übersetzung von Hansi (Johann>Hans>Hansi). In seinem kirchlichen Geburtsschein und auf seinem Erstkommunion-bild hieß er mit christlichem Namen Johann.
An jenem Sonntag im Altweibersommer des Jahres 1963 ist es passiert: Noch am Vormittag war Hansi in der Heiligen Messe der deutschen katholischen Kirche gewesen, wo er wie sonntags fast immer vorne am Altar stand, den Worten des Pfarrers lauschte, auf die lateinischen Sätze ehrfurchtsvoll und laut antwortete, und so seine Arbeit als Messdiener gewissenhaft verrichtete.
Nach dem Mittagessen ging er in kurzen Hosen zu seinen gleichaltrigen Freunden auf die Straße spielen. Die meisten hatten inzwischen einen Traktor mit zwei riesigen Anhängern umstellt, der am Ende der staubigen Gasse – „Letschti Gass“ genannt – vor dem Haus eines LPG-Traktoristen stand, und begannen darauf zu klettern. Hansi schloss sich der Schar seiner Spielkameraden an, obwohl er als Angsthase galt. Plötzlich kam der Traktorfahrer aus seinem Haus heraus und machte Anstalten, mit dem Traktor loszufahren. Trotz des Sonntags wurde nämlich auf den Feldern die reiche Ernte mit viel Fleiß und Mühe für den bevorstehenden Winter eingebracht. Die große Maschine fing an, sich langsam aber sicher in Bewegung zu setzen. Die mutigeren Buben hatten auf der Eisenstange zwischen den beiden Anhängern Platz genommen – unter ihnen auch der schüchterne Hansi -, in der Hoffnung, bei Beschleunigung des Traktors rechtzeitig herunter springen zu können.
„Hochruck“ – riefen sie, und mit einem riesigen Sprung hatten sie es schon geschafft. Nur der arme Hansi blieb mit seiner kurzen Hose am Riegel der Eisenstange hängen und fiel so unter den Anhänger, sodass das große hintere Rad ihn glatt überfuhr. Das Malheur war somit passiert. Jedoch Glück im Unglück, er lebte noch! Er war nämlich auf die Seite gefallen, sodass der Anhänger ihn seitwärts am Becken zerquetschte, die jungen Knochen platzen ließ, aber die Innereien im Bauch dadurch nicht berührte. Er lag da im Staub in einem blutigen Laken. Der Riegel der Eisenstange hatte ihm den After aufgerissen, was die ungestillte Blutung verursachte. Alle Nachbarn liefen zusammen, um den schwer verletzten, doch noch lebenden Hansi zu bemitleiden. Auch seine Eltern stürzten aus dem Haus heraus, um ihren Sohn aus dem Straßenstaub zu heben und in die Obhut des altehrwürdigen Familienhauses zu tragen.
Bis der Krankenwagen aus der nahe liegenden Kreisstadt Großsanktnikolaus (rum. Sânnicolaul Mare, ung. Nagyszentmiklós) ankam, fragten alle sich: „Wird er nun überleben oder muss dieser doch so fromme Bub sein noch so junges Leben lassen?“ Die Zeit schien stehen zu bleiben, vom langen Warten und Bangen. Endlich kam der Rettungswagen an, die beiden Ärzte sprangen aus dem Auto und eilten im Laufschritt zum leidenden Hansi, der sich vor Schmerzen krümmte, aber bei vollem Bewusstsein war.
Der ältere Arzt konnte sofort eine erste Diagnose geben: Beckenbruch, gerissener blutender After und große Unsicherheit, ob es auch lebensgefährliche innere Verletzungen gibt. So wurde der elfjährige Hansi mitten im Schuljahr sofort nach Großsanktnikolaus ins Krankenhaus geliefert, wo er schnellstens operiert werden musste. Gott sei Dank konnte ihm durch den schnellen und fachgerechten Eingriff das Leben gerettet werden, er musste aber drei Monate lang das Bett hüten, und zwar in einem harten Gips um seinen ganzen Becken herum.
Drei Monate lang er unbeweglich im Bett im Ungewissen, jemals wieder laufen zu können. Um das Schuljahr, d.h. die 5. Klasse nicht zu verlieren, haben sich alle rumäniendeutschen Lehrer der Grundschule in Bogarosch bereit erklärt, ein Mal wöchentlich den genesenden Hansi aufzusuchen und mit ihm den Lehrstoff durchzugehen. Das war für den noch immer niedergeschlagenen Jüngling eine neue Motivation, fleißig zu lernen und frische Lebenskraft zu gewinnen.
Während der Genesungszeit von Oktober bis Dezember war er ständig ans Bett gebunden, konnte aber Freunde, Klassenkollegen, Verwandte und auch den katholischen Priester empfangen, die ihm neuen Lebensmut einflößten.
In diese Zeit fiel auch das Attentat gegen US-Präsident John Kennedy am 22. November 1963 in Dallas, das den nachdenklichen Schüler wochenlang beschäftigte. Er hatte nämlich neben sich ein altes Orion Radio stehen, wo er auf „Europawelle Saar“ die Tagesnachrichten aus der ganzen Welt und deutsche Schlager hören konnte. So war er fast den ganzen Tag mit der Außenwelt verbunden, oft auch bis spät in die Nacht hinein.
Die große Welt war Anfang der 1960-er Jahre aus allen Fugen geraten, es drohte sogar ein neuer Weltkrieg, der sich zu einem Atomkrieg hätte entwickeln können. Die beiden Supermächte, die USA und die Sowjetunion, hatten sich in der Schweinebucht vor Kuba in einen sich immer stärker zuspitzenden Konflikt hineinmanövriert, der zum Ausbruch des III. Weltkrieges hätte führen können.
Kurz vor Weihnachten teilte ihm der Facharzt mit, dass er nach einer Kontrolle im Krankenhaus den Gips entfernen wird, aber das würde mit großen Nachschmerzen einhergehen und er müsse wieder gehen lernen.
Die Krücken standen schon bereit und der schmächtige Hansi übte täglich stundenlang das Gehen mit Krücken im Schlafzimmer. Es folgten mühsame Wochen, bis er wieder gehen lernen konnte.
Kaum genesen, erfasste ihn eine innere Sehnsucht nach endloser Bewegung: Der Frühling des Jahres 1964 trieb ihn auf die grüne Wiese am Ende der Gasse, wo er jeden Nachmittag nach dem Schulschuss und am Wochenende die große Freiheit genoss. Er lief und lief, flog mit dem Wind über die üppige Wiese und fühlte sich wie im Himmel.
Es war der Fußball, der ihn faszinierte: Allein mit dem Ball auf weitem Feld trainierte er wie ein Wahnsinniger bis zum Umfallen und träumte davon, Fußballstar zu werden.
So wurden der Herbst 1963 und der darauf folgende Winter nicht nur zu einer Periode der Genesung für ihn, sondern auch zu einer Zeit der Besinnung, ja sogar zu einer Wiedergeburt aus dem Rachen des Todes.