Von Richard Guth
Es ist nicht mein erster Besuch im Slowenischen Raabgebiet, wie man das auf Ungarisch „Vendvidék” genannte Gebiet im Dreiländereck im Südwesten Ungarns auf Deutsch nennt. Die Ureinwohner, die ungarländischen Slowenen, nennen dieses Gebiet im Übrigen Slovensko Porabje. Ihre Zahl schätzt man in diesem Gebiet auf etwa 3000, und sie stellen trotz Bevölkerungsbewegungen wie Zu- und Abwanderung sicherlich immer noch die Mehrheit der Bevölkerung.
Eine Landschaft empfängt den Besucher, die eher an Österreich und Slowenien erinnert als an Ungarn – und in der Tat, das Slowenische Raabgebiet zählt man zum Voralpenland. Auch die Siedlungsstruktur mit kleinen Kerndörfern und zerstreuten Bauernhöfen mit großen Grundstücken verstärken diesen Eindruck. Wenn der Besucher von Slowenien aus das Slowenische Raabgebiet ansteuert, dann fällt auf, was sich im Übrigen auch statistisch belegen lässt: Das Raabgebiet auf der slowenischen Seite ist wohlhabender als auf der ungarischen Seite. Dies mag sicherlich auch historische Gründe haben, war das Grenzgebiet besonders ungarischerseits streng bewacht – also ganz schön abgelegen, was beispielsweise in der DDR zum Sterben ganzer Landstriche in der so genannten Todeszone bedeutete.
Gornji Senik, zu deutsch Oberzemming, gilt gemeinhin als Zentrum der ungarländischen Slowenen – so wird das Dorf von zweisprachigen Schildern gesäumt, man hört hier und da slowenisches, oder wie es hier heißt, wendisches Wort. Der Ort verfügt über eine zweisprachige Grundschule, aber wie eine meiner Gesprächspartner, eine junge Frau Anfang 30, erzählt, die Jugendlichen würden sich auch in dieser Hochburg der Slowenen vornehmlich der ungarischen Sprache bedienen. Von einer jungen Dame Anfang 20, die auch in der slowenischen Jugendarbeit aktiv ist, liefert eine mögliche Erklärung dafür: Bis vor fünf Jahren sei diese Schule nur dem Namen nach zweisprachig gewesen, in der Wahrheit hätte man fünf Slowenischstunden pro Woche gehabt, Fachunterricht hätte man hingegen nur auf Ungarisch erteilt. Im Kindergarten hätte man hingegen stets Wert auf das Modell „eine Erzieherin – eine Sprache” gelegt. Ein anderer junger Herr ergänzt später in Unterzemming, dass man in Oberzemming die Über-50-Jährigen durchweg das Wendische im Alltag benutzen würden – somit scheinen sie im Vergleich zu uns Ungarndeutschen einen „Vorsprung” von einer Generation zu haben, jetzt abgesehen von möglichen regionalen Unterschieden bei uns Deutschen.
Beide jungen Damen weisen auch auf ein anderes Phänomen hin, was Auswirkungen auf den Gebrauch des Wendischen hat: den Zuzug von Menschen, meist Madjaren, aus anderen Orten, viele von ihnen aus der Hauptstadt. Diese Entwicklung habe ich auch andererorts wahrnehmen können, neulich im burgenländischen Unterwart (siehe Reisenotizen (7) in dieser Ausgabe) oder in Ödenburg vor zwei Jahren. Von dieser Zuwanderung oft auch aus anderen Teilen des Landes ist auch der Nachbarort Unterzemming betroffen, einst eine Gemeinde mit deutscher Bevölkerung. „Es gibt kaum noch Alteingesessene, oft fühle ich mich hier fremd”, berichtet ein Mittsiebziger deutscher Nationalität. Dieses Gefühl des Verlustes hat dabei auch historische Gründe: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sechs-sieben Großfamilien vertrieben, der größere Aderlass erfolgte nach Erinnerungen meiner Gesprächspartner 1956, infolge dessen sich viele Slowenen, unweit der österreichischen Grenze, niederließen, so dass sie heute etwa ein Fünftel der Bevölkerung der einst deutschen Gemeinde stellen. Sprachlich wären sie bis auf ein-zwei Familien aber weitgehend assimiliert, dies gälte auch für viele der alteingesessenen Deutschen, von denen es – so der Eindruck des älteren Herrn – nicht mehr viele gäbe. Vor allem an jungen Menschen fehle es, in einer nie wirklich bevölkerungsreichen Gegend. Die verbliebenen deutschen Schulkinder besuchen entweder die slowenisch-ungarisch zweisprachige Oberzemminger Grundschule oder eine Einrichtung im nahe gelegenen St. Gotthard. Einer meiner Gesprächspartner in der Dorfkneipe betont hingegen, dass 80-90 % der Dorfbewohner in Unterzemming in der Lage wären, mit einem Österreicher zu kommunizieren, was sicherlich mit der Häufigkeit der Arbeitsaufnahme im Nachbarland zu tun hat. Dennoch sind in Unterzemming alle öffentlichen Aufschriften dreisprachig, Straßennamen inbegriffen. Selbst die Deutsche Nationalitätenselbstverwaltung empängt ihre Besucher mit einem dreisprachigen Schild. Ein etwas anderes Bild wie in den von Madjaren bewohnten Ortschaften auf der slowenischen Seite, wo man seltener auf zweisprachige Schilder stößt. Trotzdem, so der Eindruck zweier junger Gesprächspartner, seien aktive Ungarischkenntnisse im Kreise der slowenienmadjarischen Jugendlichen viel verbreiteter als aktive Slowenischkenntnisse im Kreise ungarnslowenischer Jugendlicher.
Aber auch das Slowenische spiele zunehmend eine Rolle, so ein junger Mann Ende 20, der in Marburg/Maribor Bachelor studiert hat und in einer Mischehe aufgewachsen ist, und nennt als Beispiel die Ansiedlung zweier slowenischer Firmen im Industriegebiet von Sankt Gotthard. Meine Gesprächspartner aus der Unterzemminger Kneipe meinen, dass fast alle Oberzemminger aus den Generationen unter 50 in der Lage wären, mit den Slowenen von drüben zu kommunizieren – aber eben würden sie das Slowenische im Alltag nicht mehr als Muttersprache verwenden. Diesem Prozess des Muttersprachenverlusts leistet wiederum die Katholische Kirche Vorschub. Nach langen Jahren des Dienstes von slowenischsprachigen Geistlichen (erstaunlicherweise findet man aber so gut wie keine slowenischsprachigen Grabmäler im Friedhof) haben die wendischen Dörfer der Umgebung seit 2010 einen madjarischen Pfarrer, der des Slowenischen, so mein Eindruck, ein wenig mächtig ist, dennoch ungarische beziehungsweise – wie er bestätigt – zweisprachige Messen lesen würde. Aber doch eher ungarische, und schmunzelt dabei, was bei mir ein seltsames Gefühl hinterlässt. Was das in der Praxis bedeutet, das bestätigen ältere Damen, die vor der Kirche auf den Messbeginn warten: slowenische Liturgie mit ungarischer Predigt. Alle drei Wochen würde ein slowenischer Geistlicher aus Slowenien eine Messe auf Wendisch lesen. Die Unterzemminger haben es dabei noch schlechter – deutsche Messen? Fehlanzeige. Und das ein Kilometer vom nächsten österreichischen Dorf entfernt.